Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter

MieterEcho online 14.06.2014

Wohnungslos dank Jobcenter

 

Immer mehr Berliner/innen können ihre Wohnung nicht bezahlen. Bei Zahlungsrückständen drohen Vermieter/innen, den Mietvertrag zu kündigen und die Wohnung räumen zu lassen. Bezieher/innen von Hartz IV und Sozialhilfe sind besonders betroffen. Jobcenter und Sozialämter entziehen sich der Verantwortung.

Wer Hartz IV bezieht, kann beim Jobcenter einen Antrag auf Mietschuldenübernahme stellen, wer Sozialhilfe bezieht oder wenig verdient, beim Sozialamt. Rund 10.000 Berliner/innen tun dies jährlich beim Jobcenter, mehrere tausend beim Sozialamt.
Doch auf die Übernahme der Mietschulden besteht kein Rechtsanspruch. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung der Behörde, die den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen hat. In der Praxis zeigen sich in Berlin allerdings ganz erhebliche Unterschiede in der Auslegung dieser Genehmigungsspielräume bei den zuständigen Behörden.
Im berlinweiten Durchschnitt wird nur rund die Hälfte aller Anträge von Hartz-IV-Bezieher/innen bewilligt. Zwischen den Bezirken bestehen gravierende Unterschiede. Dies geht aus der Antwort von Sozialstaatssekretär Dirk Gerstle (CDU) auf eine parlamentarische Anfrage der Piratenfraktion vom April 2014 hervor. Während 2013 in Pankow 85 Prozent und in Friedrichshain-Kreuzberg 81 Prozent aller Anträge durch das Jobcenter positiv beschieden wurden, waren es in Reinickendorf nur 30 Prozent und in Neukölln sogar nur 14 Prozent. Mindestens vier von fünf Neuköllner Haushalten, die Hartv IV beziehen, bleiben also auf ihren Mietschulden sitzen und sind infolgedessen von Kündigung des Mietvertrags, Zwangsräumung und in letzter Konsequenz von Wohnungslosigkeit bedroht.


Hohe Ablehnungsquoten


In den ersten Jahren nach der Einführung von Hartz IV haben viele Jobcenter Anträge auf Mietschuldenübernahme rigoros abgelehnt. Deswegen traf Ende 2010 der Berliner Senat mit der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit eine Vereinbarung, die den Bezirken ein Weisungsrecht gegenüber den Jobcentern bei der Mietschuldenübernahme einräumt. Seitdem dürfen die Jobcenter solche Anträge nur nach Prüfung und Zustimmung durch das Bezirksamt ablehnen. Doch die Bezirke nutzen diese Möglichkeit nur begrenzt. An der berlinweiten Ablehnungsquote von rund 50 Prozent aller Anträge im Hartz-IV-Bereich hat sich seitdem nichts geändert, ebenso wenig an den hohen Ablehnungsquoten in Neukölln und Reinickendorf. Trotzdem, so der Sozialstaatssekretär, lägen dem Senat „keine Erkenntnisse vor“, dass die zwischen Bezirksämtern und Jobcentern geschlossenen „Vereinbarungen und Verabredungen“ zur Prüfung der Mietschuldenübernahme „nicht eingehalten werden“.
Über Statistiken zur Mietschuldenübernahme nach dem Sozialhilfegesetz verfügt der Senat angeblich gar nicht, da sie „nicht erhoben“ würden und „einmalig nur für 2012“ vorgelegen hätten. 6.000 Anträge wurden 2012 durch die bezirklichen Sozialämter bewilligt. Wie viele Anträge es gegeben hat und wie hoch die Bewilligungsquote war, bleibt unklar.


Organisierte Verantwortungslosigkeit


Viele Jobcenter fühlen sich für die Sicherung von Wohnraum nicht zuständig. Sie sehen sich als Arbeitsvermittlung, nicht als Sozialbehörde. Der Neuköllner Sozialstadtrat Bernd Szczepanski (Grüne) musste Ende Februar 2014 im Abgeordnetenhaus zugeben, dass sein Sozialamt nicht einmal über die personellen Ressourcen verfügt, die zahlreichen Ablehnungswünsche des Jobcenters sorgfältig zu prüfen. Vielmehr könne der zuständige Mitarbeiter die Entscheidungen des Jobcenters nur oberflächlich kontrollieren. Nach Ansicht des Sozialstadtrats seien ohnehin in erster Linie Fehler bei der Datenerfassung durch das Jobcenter Neukölln ursächlich für die vermeintlich hohe Ablehnungsquote.


Eine Studie der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement kam im letzten Jahr zu dem Ergebnis, dass in Berlin große Defizite bei der Erbringung von Hartz-IV-Leistungen bestehen. Die noch vom rot-roten Senat beauftragte Studie weist massive Mängel bei der Unterstützung von Erwerbslosen nach – insbesondere bei den sozialintegrativen Leistungen des Landes Berlin wie Schuldner-, Sucht- und psychosoziale Beratung, aber auch bei der Übernahme von Miet- und Energieschulden. Die beteiligten Stellen kommunizieren untereinander schlecht oder überhaupt nicht. Manche Bezirke versuchen diese organisatorischen Defizite mit Kooperationsvereinbarungen zwischen Jobcenter und Sozialamt oder hausinternen Weisungen zu den Verfahrensweisen zu beheben. Doch an der behördlichen Praxis ändert sich dadurch wenig.


Der Senat ignoriert seine gesamtstädtische Verantwortung und nimmt seine Aufsicht gegenüber den Bezirken nicht wahr. So bleibt es vorerst dabei, dass in manchen Bezirken eher der Platz in einer Obdachlosenunterkunft finanziert wird, als darlehensweise die Mietschulden übernommen werden.

Christian Schröder

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