MieterEcho online 09.02.2017
Kreuzberg 36 mobilisiert gegen Spekulanten
Ein Buchladen, eine Bäckerei, ein Haus mit politischen Projekten – das sind nur die derzeit öffentlich umkämpften Projekte im östlichen Kreuzberg. Von Vertreibung bedroht, oder sogar schon vertrieben, sind viele weitere Gewerbe. Nun laufen Mobilisierungen der Nachbarschaften.
„Nun hat die Gentrifizierung auch uns erreicht.“ Diese Feststellung steht auf einem Blatt Papier, das der Buchladen „Kisch & Co“ in eines seiner großen Schaufenster gehängt hat. Der Laden in der Kreuzberger Oranienstraße ist für manche Menschen eine Institution. Er bietet eine besonders große Auswahl an Zeitschriften und Zeitungen und aufgrund seiner Größe auch viele Literatursparten: politische wie unpolitische Sachbücher und Romane, Berlin-Bücher, Bildbände, Reiseführer, Kinderliteratur.
Nach 20 Jahren soll nun bald Schluss damit sein. Die Immobilienfirma des Milliardärs Nicolas Berggruen will den Ende Mai auslaufenden Vertrag mit „Kisch & Co“ nicht wieder verlängern. „In dem Brief von Anfang Januar steht, wir hätten unterschiedliche Vorstellungen über die marktübliche Miete“, sagt Thorsten Willenbrock, einer der beiden Geschäftsinhaber. Der 52-Jährige und die Vermieterfirma schildern auf Anfrage übereinstimmend, dass die Hausverwaltung ein Angebot für einen neuen Fünfjahresvertrag machte, das eine Mieterhöhung um 16 Prozent enthielt. „Das ist im Vergleich zu anderen Fällen gar nicht mal so viel,“ findet Willenbrock. „Aber das übersteigt unsere Möglichkeiten.“ Zum einen leidet der Buchhandel generell unter der Konkurrenz von Versandhändlern mit Internetpräsenz. Zum anderen kann er wegen der Buchpreisbindung nicht die Verkaufspreise erhöhen. „Kisch und Co“ habe dann erfolglos ein Gegenangebot mit einer um 4,5 Prozent erhöhten Miete gemacht, berichtet Willenbrock weiter.
Die Eigentümerfirma bezeichnet ihr Vertragsangebot von 20 Euro pro Quadratmeter nettokalt auf Anfrage als "bewusst fair kalkuliert", denn in der Umgebung seien die Mieten deutlich höher. Sie bestätigt zudem, dass ein Brillenhersteller bereits einen Mietvertrag für die Räume von „Kisch & Co“ unterschrieben hat.
Der Buchhändler weiß noch nicht, wie er nun vorgehen wird. Eine Angestellte des berühmten Berggruen-Museums im Stadtteil Charlottenburg habe eine Anfrage an Nicolas Berggruen persönlich abgewiesen. Einen Ersatzraum in der Oranienstraße zu finden, sei „illusorisch“, in der ganzen Umgebung seien die Mieten zu hoch.
Am heutigen Donnerstagabend (09.02.2017) gibt es eine große Kiezversammlung im ebenfalls in der Oranienstraße gelegenen Konzertsaal SO36. Es geht um mehrere bedrohte Einrichtungen im östlichen Kreuzberg, dem ehemaligen Postbezirk 36.
In der Lausitzer Straße 10/11 sind neben Wohnungen vor allem politische Initiativen und daran angeschlossene Arbeitsplätze bedroht. Für die ehemaligen Fabrikgebäude gibt es Verkaufs- und Umwandlungspläne.
Einen halben Kilometer weiter, fast am Ende der langen Reichenbergerstraße, die zwischen Landwehrkanal und Görlitzer Park verläuft, ist das Bäckereicafé „Filou“ gekündigt. Seit 2001 wird es von Daniel Spülbeck und dessen Frau betrieben. Mittlerweile haben sie vier Angestellte und drei Kinder – und „viel Spaß“ mit dem Stammpublikum, „fast durch die Bank echt nette Leute“, wie Spülbeck sagt. Doch Ende Juli läuft der Mietvertrag aus und die Eigentümer wollen nicht verlängern – der 45-Jährige sieht die Existenzgrundlage seiner Familie akut bedroht. Da der gelernte Zimmermann und die studierte Sozialpädagogin über 15 Jahre lang nicht in ihren Berufen gearbeitet haben, habe das Arbeitsamt ihnen nun nur eine Vermittlung als Helfer und als Erzieherin in Aussicht gestellt, erklärt Spülbeck.
Dabei hätten sie sich mit den beiden Londoner Geschäftsleuten, denen das Haus seit nicht ganz zehn Jahren gehöre und die sogar vor nicht allzu langer Zeit ein langfristiges Mietverhältnis versprochen hätten, immer gut verstanden. Doch als die vorbeikamen, um mitzuteilen, dass sie den Vertrag nicht mehr verlängern wollen, und Spülbeck sie nach dem Grund fragte, soll der eine Eigentümer gesagt haben, das Bäckereicafé passe nicht mehr zum „Berlin Spirit“. Auf Spülbecks Angebot einer Mieterhöhung soll er angemerkt haben, er könne wohl auf dem Markt das Vierfache der aktuellen Miete erzielen.
Nach Jahren des öffentlichen Fokus auf den Kampf um Wohnraum wird es nun offensichtlich an allen Ecken und Enden schwieriger für Kleingewerbe. Das greift auch die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg auf. Am Mittwochabend stand dort ein Antrag mit dem Titel: „Kiezvielfalt erhalten: Bäckerei Filou soll bleiben“ zur Abstimmung. Der Text mahnt „kurze Versorgungswege und nachbarschaftliches Miteinander“ an und spricht von „großen Problemen“ für „kleine Gewerbetreibende“. Gestellt haben diesen symbolischen Antrag die Fraktionen der Grünen, der CDU und der Linkspartei gemeinsam. Die Fraktionsvorsitzenden der Grünen und der CDU, Julian Schwarze und Timur Husein, seien im „Filou“ vorbeigekommen, berichtet Inhaber Spülbeck, auch die Linkspartei schickte jemanden.
In der Nachbarschaft ist die Unterstützung ebenfalls schon überraschend groß – und nicht nur in Form der Transparente, die nun aus Fenstern hängen. Das „Filou“ ist in der etwas abgelegenen Gegend ein wichtiger Anlaufpunkt, als Bäckerei und als Café. Zu einer Versammlung am letzten Freitag im Januar kamen Berichten zufolge an die 150 Menschen. In der nahen Kirche setzten sie sich zu Arbeitsgruppen zusammen, danach zog ein Teil vor den ans Café anschließenden Neubau, um zu protestieren. Das Haus, das vor allem Ferienwohnungen beherbergt, gehört ebenfalls den Hauseigentümern. Einer von ihnen betreibt das Restaurant im Erdgeschoss mit, hat Spülbeck herausgefunden.
„Ich war überrascht von der Intensität“, sagt Spülbeck zum Protest. Der Zuspruch habe ihm aber sehr gut getan, denn „die Kündigung ist demütigend“. Die Familie fühlt sich im Kiez zu Hause. In der Umgebung verlief die Suche nach einem Ersatzort aber erfolglos. Nun setzt der Familienvater auf die öffentliche Mobilisierung, befindet sich dabei aber im Spannungsfeld zwischen Protest und Hoffen auf Verhandlungsbereitschaft der Eigentümer.
Der Protest am 27. Januar eskalierte übrigens. Einige Leute hätten das Restaurant betreten und dort weiter Parolen gerufen, schildert Spülbeck, woraufhin die Polizei kam. Die stellte von einigen Menschen die Personalien fest, darunter seine 20-jährige Tochter, die von jemandem im Restaurant als Rädelsführerin benannt worden sei, obwohl sie die ganze Zeit mit ihrer Familie auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestanden habe. Vor einer Woche gab es eine weitere Kundgebung vor dem Restaurant, kommenden Sonntag um 12 Uhr steht die nächste an, diesmal mit Redebeiträgen mehrerer anderer stadtpolitischer Initiativen.
In Kreuzberg 36 setzen sich derzeit nicht nur die üblichen Kreise in Bewegung. Kämpfe finden zusammen. Der Verlust sozialer Infrastruktur scheint mehr Menschen auf die Barrikaden zu treiben als die unsägliche Verteuerung von Wohnraum. Normalerweise liegen diese Fälle klar: Leute mit viel Geld wollen noch mehr daraus machen und werfen dafür Gewerbe oder soziale Einrichtungen raus. Die allgemeine Vertreibung zu Gunsten der Profitmacherei dürfte wegen der doppelten Kaltstellung des prominenten Stadtsoziologen Andrej Holm – der Entlassung als Staatssekretär und der ausgesprochenen Kündigung seitens der Humboldt-Universität (HU) – noch mehr Unmut und Aktivität herausfordern. Die Studierenden, die wegen Holm das sozialwissenschaftliche Institut der HU besetzt haben, vernetzen sich übrigens fleißig mit stadtpolitischen Gruppen, auch vermittels Diskussionsveranstaltungen. Am Montag veröffentlichten sie ein Foto von einem Korb voller Brötchen und dankten für die Spende. Sie kam vom Café Filou.
Ralf Hutter