MieterEcho online – 19.09.2011
Eingeschränkte Demokratie
Ohne Geld ist politischer Gestaltungsspielraum nicht zu haben, und ohne Gestaltungsspielraum sind Wahlen sinnlos
Hermann Werle
„Es ist wahr, die Souveränität der Griechen wird massiv eingeschränkt“, ließ der oberste Chef der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, Anfang Juli verlauten. Als Gegenleistung für die Rettungsmaßnahmen der Europäischen Union würde die Politik der Griechen „mit deren Einverständnis zu einer totalen Kurskorrektur“ gezwungen. Der Begriff „Kurskorrektur“ verharmlost ein Kahlschlagprogramm, welches die griechische Bevölkerung zu Recht rigoros zurückweist. Weniger Aufsehen erregend als in Griechenland verläuft der schleichende Souveränitätsverlust auch in Deutschland. Mit der sogenannten Schuldenbremse und dem Konsolidierungshilfengesetz ist der permanente Sparzwang in Berlin juristisch festgeschrieben.
Mit Griechenland musste nun ausgerechnet der Wiege der Demokratie widerfahren, was die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) als „Griechisches Exempel“ betitelte. „Tatsächlich wird Griechenland auf absehbare Zeit eine eingeschränkte Demokratie sein“, war in der FAZ zu lesen. Nach dem heutzutage gängigen Verständnis von Demokratie war das antike Athen auch nicht gerade vorbildhaft. Zugang zur Volksversammlung und damit entscheidungsmächtig waren lediglich männliche Vollbürger. Frauen, Fremde und Sklaven hatten keinerlei Mitspracherechte.
Griechenland wird zur Halbkolonie
In der aktuellen Situation werden jedoch nicht nur Teile der griechischen Gesellschaft von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, sondern gleich die ganze Bevölkerung mitsamt ihrem gewählten Parlament. Das ist ein Teil des Preises für die Finanzhilfen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Euro-Gruppe, also jenem Gremium der Europäischen Union, das die Stabilität der gemeinsamen Währung gewährleisten soll. Zum Preis, den die Griechen außerdem zu zahlen haben, gehören Sparprogramme, Lohn- und Rentenkürzungen sowie Entlassungen und Privatisierungen, ganz nach den Vorgaben der Finanzinstitutionen. Mit diesem Diktat wird Griechenland in einen „halbkolonialen Status versetzt“, heißt es in einem Positionspapier des wissenschaftlichen Beirats von attac. Die „Rezepte“, die zur Anwendung kämen, seien heute genauso zerstörerisch, „wie dies in den 1980er und 1990er Jahren der Fall war“, so das Papier vom Mai 2010. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Joseph Stieglitz, bestätigte diese Einschätzung kürzlich in der Financial Times Deutschland, wo er vor dem „Wiedererstarken einer rechtsgerichteten Wirtschaftslehre“ warnte, die in Amerika und Europa die Wirtschaft bedrohe. Amerika müsse durch „Konjunkturprogramme wieder Arbeit schaffen, die sinnlosen Kriege beenden, die Kosten für Militär und Medikamente begrenzen und die Steuern erhöhen, zumindest was die Superreichen angeht“. Von all dem wollten die Rechten aber nichts hören. Stattdessen dringen sie „auf weitere Steuersenkungen für Großunternehmen und Wohlhabende und wollen bei Investitionen und sozialer Absicherung sparen“. In Europa, so der Nobelpreisträger, würden die Dinge kaum besser stehen. Griechenland und andere Länder steckten in der Krise, doch zur Krisenbewältigung werde der falsche Weg eingeschlagen. „Die verschriebene Medizin besteht bloß aus veralteten Sparpaketen und Privatisierungen, die jene Länder, die sie umsetzen, nur noch ärmer und schwächer zurücklassen als vorher. Diese Medizin ist in Ostasien, Lateinamerika und anderswo gescheitert und wird auch jetzt in Europa scheitern.“
Das Elend der Städte
Die Einschätzung von Stieglitz zur Situation in den USA findet ihre Entsprechung in zugespitzter Form in den Untersuchungen der Professorin für Politikwissenschaft Margit Mayer, die am John-F. Kennedy Institut der Freien Universität Berlin lehrt. „Das neue Elend der US-Städte: eine avancierte Form des Klassenkampfes von oben“, lautet der Titel ihres Aufsatzes, in dem sie die Abwälzung der Finanz- und Schuldenkrise auf die einzelstaatliche und städtische Ebene beschreibt. „Was zunächst als Krise des Wohnungsmarkts, ausgelöst durch die neuartige Verschränkung von Finanz- und Immobilienmarkt, daherkam, ist inzwischen zu einer massiven Krise städtischer Haushalte mutiert.“ Zunehmend machen sich die rezessionsbedingten Einnahmeausfälle bei den Grund-, Umsatz- und Einkommenssteuern bemerkbar, worauf die Kommunen in der Regel mit Einsparungen gegenzusteuern versuchen. „In der Folge schließen die Städte ‚entbehrliche’ öffentliche Einrichtungen, kürzen ihnen obliegende soziale Dienstleistungen, erhöhen kommunale Gebühren – (…) bis hin zu Gebühren für das Sterilisieren von Haustieren. (…) Colorado Springs hat ein Drittel der Straßenlampen ausgeschaltet, um Strom zu sparen, Polizisten entlassen und Polizeihubschrauber versteigert.“ Polizeihubschrauber sind in Deutschland zwar noch nicht im Angebot, aber ansonsten dürften die fantasiereichen Sparorgien der US-Kommunen viele Anregungen für hiesige Finanzsenatoren bereithalten. Denn bei allen Verschiedenheiten des Krisenverlaufs und der politischen Systeme diesseits und jenseits des Atlantiks sind die Krisenbewältigungsansätze doch die gleichen.
Durchsetzung des schlanken Staats
Um in Deutschland Steuergeschenke für Unternehmen und Wohlhabende zu ermöglichen, mussten die resultierenden Einnahmeeinbußen auf der anderen Seite durch die Reduzierung der Ausgaben ausgeglichen werden (MieterEcho Nr. 345/Januar 2011). Zu diesem Zweck wurde die Schuldenbremse 2009 im Grundgesetz verankert, wodurch die Kreditfinanzierung für Bund und Länder stark eingeschränkt wird. Die Finanzkrise, die nach diversen Bankenrettungspaketen zur Staatsschuldenkrise wurde, bietet nun den passenden Rahmen, ein Sparpaket nach dem anderen zu verabschieden. Was als alternativloser Sachzwang – mit Verfassungsrang – erscheint, ist die Durchsetzung des schlanken Staats. Für arme Bundesländer wie Berlin wurde zusätzlich das Konsolidierungshilfengesetz erlassen. Dieses bietet eine Finanzhilfe des Bundes, allerdings unter der Voraussetzung der „Einhaltung eines strikten Konsolidierungspfades“, wie einer Presseerklärung des Finanzsenators zu entnehmen ist. Über die Einhaltung des Konsolidierungspfades wacht der 2010 extra geschaffene Stabilitätsrat, der unter Oberaufsicht des Bundesfinanzministeriums steht, also quasi der IWF auf Bundesebene. Bis zur nächsten Sitzung des Rates im November muss das Land Berlin ein über 5 Jahre laufendes Sanierungsprogramm vorlegen. Dass unter diesen Umständen an die Förderung eines sozialen Wohnungsbaus oder anderer notwendiger Investitionen nicht zu denken ist, hat Finanzsenator Ulrich Nussbaum (parteilos) schon im März mit den Worten klar gestellt, denn Berlin habe „angesichts von mehr als 60 Milliarden Euro Verschuldung keine neuen Spielräume für Mehrausgaben“.
Das Geld dort holen, wo es sich wirklich befindet
Wer im laufenden Berliner Wahlkampf ehrlich wäre, „müsste seine Pläne entweder sämtlich unter Finanzierungsvorbehalt stellen, oder aber klar sagen, dass seriöse Politik und Schuldenbremse nicht zusammenpassen“, kommentierte Jan Thomsen in der Berliner Zeitung. Denn „all die schönen Ideen, die den Berliner Wahlkampf zieren, sind unter dem Druck der Schuldenbremse unfinanzierbar. Woher das Geld für Entlastung von Lehrern nehmen, wie es die Grünen fordern? Woher das Geld für die Gründung von Öko-Stadtwerken oder den Rückkauf der Wasserbetriebe, wie es Linke und SPD wünschen? Für mehr Polizisten auf der Straße und mehr Kontrolleure vom Ordnungsamt, wie es die CDU will? Für die Senkung der Gewerbesteuer, wie sie die FDP vorschlägt?“ Jan Thomsen ist sicherlich zuzustimmen, die zur Wahl antretenden Parteien verbreiten nichts als heiße Luft. Noch ehrlicher wäre es allerdings zu sagen, dass für die Berliner/innen gilt, was die FAZ zum „Griechischen Exempel“ festhielt: „Das griechische Volk kann wählen, was es will – wirklich ändern kann es nichts.“ Es macht in Berlin keinen Unterschied, wer gerade regiert, stellt auch Bendict Ugarte Chacón in diesem Heft fest. Einen Unterschied würde es machen, wenn eine Linke formulieren und durchsetzen würde, was Hugo Breitner als amtsführender Stadtrat für Finanzen im „Roten Wien“ der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts realisierte: „Unbeirrt von all dem Geschrei der steuerscheuen besitzenden Klassen holen wir uns das zur Erfüllung der vielfachen Gemeindeausgaben notwendige Geld dort, wo es sich wirklich befindet.“