Soziale Arbeit am Limit
Der Wohnungsmangel lässt Beschäftigte und Träger verzweifeln
Von Paula Maether
Die fürsorgliche Rolle der Sozialarbeit hat historische Wurzeln in der Entstehung und den Funktionen des Berufsbildes und spiegelt auch die soziale und politische Entwicklung der Wohnungsfrage bzw. der sozialen Frage wider. Seit Beginn der Entwicklung von Sozialarbeit im 19. Jahrhundert stand diese in historischer Beziehung zur Frage des Wohnens und war konstitutiv für die Funktionsweise der Sozialarbeit. Wie wenig sich daran geändert hat und wie sich der Wohnungsmangel zunehmend problematisch auswirkt, davon können Beschäftigte ein Lied singen.
Die Funktionen und Lösungsstrategien, die der Sozialen Arbeit – nicht nur im Bereich des Wohnens – zugeschrieben wurden, waren von Anfang an von dem Bestreben geprägt, die Adressaten zu „normalisieren“ und an das vorgegebene Gesellschaftssystem anzupassen. Obwohl die Wohnungsfrage eindeutig ein drängendes Problem darstellte, wurde es für die Soziale Arbeit mit zunehmender Institutionalisierung ihrer Tätigkeit zu einem zweitrangigen Thema. Ursprünglich bestand die Aufgabe der so genannten Armenpfleger und Armenpflegerinnen vor allem darin, bedürftigen Personen und Familien durch „Belehrung und Kontrolle zu einer ordentlichen Lebensführung zu verhelfen“, so der Sozialwissenschaftler Helmut Mair.
Die Idee der „Normalisierung“ im Sinne der Verwirklichung eines bürgerlichen Familienideals, das auf den konservativ-ideologischen Grundpfeilern des Bürgertums ruhte, begleitete die ersten Schritte der Sozialarbeit auf ihrem Weg zur Profession. Der normalisierende Charakter der Sozialen Arbeit ist dem bürgerlichen Staat in die Wiege gelegt und drückt sich in der Individualisierung sozialer Probleme aus. Die darüber liegenden universellen Probleme werden in der Sozialen Arbeit bis heute nur selten zur Diskussion gestellt, wie Praxisbeispiele zeigen.
Ohnmacht und Frustration
Wohnungen in den niedrigen Preissegmenten des Marktes sind in Ballungszentren wie Berlin kaum vorhanden. Am schwersten betroffen davon sind Personen mit niedrigen Einkommen, Alleinstehende, Alleinerziehende sowie Menschen mit Migrationshintergrund. Die Sozialarbeit setzt sich gerade für diesen Personenkreis ein, der aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Situation große Schwierigkeiten hat, das Leben eigenständig zu gestalten und in der Gesellschaft anerkannt zu werden.
Zwangsläufig verbindet sich Wohnungsmarktenge mit den Adressat/innen der Sozialen Arbeit und wird somit zu einem alltäglichen Thema der Praxis. Träger der Sozialen Arbeit sind mehrfach konfrontiert mit Wohnungsmangel und steigenden Mieten. Sowohl Trägerwohnungen als auch Geschäftsräume sind angesichts steigender Gewerbemieten kaum noch finanzierbar und bei ablaufenden Verträgen droht der Verlust. Zudem finden sich kaum noch Wohnungen für Klient/innen, wenn diese aus der Betreuung fallen. Der Mangel an Wohnraum wirkt sich also sowohl auf pädagogischer als auch auf organisatorischer Ebene aus.
So ist es z. B. immens aufwändig, für Jugendliche mit einem prekären Aufenthaltsstatus, einen Wohnberechtigungsschein zu bekommen. Und selbst wenn es gelingt, stehen diese Jugendlichen in Konkurrenz mit vielen anderen Menschen, die auf Wohnungssuche sind.
Dass es sich um ein grundsätzliches Problem handelt, wird durchaus gesehen. Dies zeigen die Interviews, die die Autorin dieses Beitrags 2022 im Rahmen einer empirischen Untersuchung mit Beschäftigten bei verschiedenen Trägern der Sozialen Arbeit geführt hat. So wurde von den Interviewten mehrfach geäußert, dass die Wohnungsnot das drängendste Problem des Alltags der Sozialarbeit darstelle, es aber den gegebenen Rahmen der Tätigkeitsfelder sprengen würde, die Zustände in Frage zu stellen. Zudem gebe es in der Praxis weder Zeit noch Ressourcen, um über die Arbeit und die eigene Rolle darin gemeinsam mit den Kolleg/innen zu reflektieren.
Folglich bedingt die Wohnungsproblematik nicht nur die Praxis der Sozialarbeit, sondern verändert sie auch. Pädagogischen Konzepte werden an die Situation des Mangels an Wohnraum angepasst, wobei sehr viel Zeit, die eigentlich für die pädagogische Arbeit gedacht ist, in die Wohnungssuche investiert wird. Somit steht nicht mehr das Pädagogische im Zentrum der Arbeit mit den Klient/innen, sondern die Suche nach Lösungen um den Wohnungsbedarf zu erfüllen. Erfahrungsgemäß ist das in den meisten Fällen ein aussichtsloses Unterfangen, was für die betroffenen Menschen die Angst vor Obdachlosigkeit schürt.
In der Jugendhilfe hat dies zur Folge, dass Jugendliche bei der Wahl einer Ausbildung nicht ihren eigenen Interessen folgen können, sondern sich daran orientieren, ob damit der Zugang zu einer Wohnung verbunden ist. Eine weitere Konsequenz ist, dass die jungen Menschen nicht in der Lage sind, sich von der Jugendhilfe unabhängig zu machen, sondern mangels eigener Wohnung von einem Projekt ins nächste wechseln. In anderen Fällen werden Hilfen und Unterbringung länger als eigentlich notwendig gewährt, damit die Jugendlichen nicht auf der Straße landen.
Diese Entscheidung birgt jedoch weitere Schwierigkeiten für das Jugendhilfesystem in sich, da dadurch stationäre Plätze blockiert werden, die von anderen Heranwachsenden dringend benötigt werden. Das Problem des fehlenden Wohnraums „torpediert das Hilfesystem“, wie es in einem der Interviews heißt. Was für die Mitarbeiter bleibt, ist Frustration und ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber Problemen, für die es im Rahmen der Sozialarbeit keine unmittelbaren Lösungen gibt.
Politisierung statt Hilflosigkeit
Im März 2022 schrieb der Armutsforscher Christoph Butterwegge unter dem Titel „Deutschland am Scheideweg zwischen Wohlfahrts- und Rüstungsstaat“, es sei Neoliberalismus pur, mehr „Geld in Digitalisierung und Rüstung zu stecken, die Schuldenbremse wieder in Gang zu setzen und Steuererhöhungen auszuschließen. So bringt man den Sozialstaat in eine finanzielle Sackgasse, aus der nur Sozialabbau herausführt.“ Diese Situation spitzt sich angesichts der aktuellen Verwerfungen der Bundes- und Länderhaushalte zu. Die beschriebenen Entwicklungen werden in der Summe noch weitreichendere Auswirkungen auf das Gesamtgefüge der Sozialen Arbeit haben – sowohl im Verhältnis zu den Klient/innen, als auch im Hinblick auf die Rolle der Beschäftigten.
Die zunehmende Individualisierung sozialer Probleme hat zur Folge, dass nicht nur größer werdende Teile der Bevölkerung dadurch stigmatisiert werden, sondern dass auch die Sozialarbeiter/innen mit immensen Problemlagen allein gelassen werden, wobei die Wohnungsnot im Zentrum stehen wird. Es stellt sich die Frage, wie man generell aus diesem Problem herauskommt und im Speziellen stellt sich in dieser Hinsicht für die Soziale Arbeit die Anforderung einer kritischen und differenzierten Positionierung.
Die Finanzierung und der eigenverantwortliche Bau von Trägerwohnungen, wie sie von einigen Organisationen der Sozialen Arbeit vorgeschlagen wurde, ist keine Lösung. Der Mangel an Baugrund sowie die horrenden Finanzierungs- und Baukosten stehen einer solchen Lösung im Wege. Preisgünstiges Bauen ist allenfalls mit Substandards möglich, was einer residualen Versorgung Vorschub leisten würde, was wiederum Segregation mit sich bringt. Auf diese Weise praktizierter Wohnungsbau für eine „marginalisierte“ Bevölkerungsgruppe zeigt sich zum Beispiel bei den Modulbauten für Geflüchtete oder bei sehr kostengünstigen Bauten innerhalb von Wohnkomplexen.
Gesellschaftliche Eingliederung und Integration kann so nicht funktionieren. An einem mit Steuermitteln finanziertem Wohnungsbau mit sozial orientierten Mieten führt kein Weg vorbei. Die Soziale Arbeit muss politisch aktiv werden und sich in die politischen Kämpfe einbringen. Die Demonstrationen der letzten Monate unter dem Motto „Soziale Arbeit am Limit“ weisen in die richtige Richtung, wenn dort unter anderem Maßnahmen der Politik eingefordert werden, um die Wohnungsnot zu beenden und die Armut statt die Armen zu bekämpfen.
Paula Maether, in Buenos Aires geboren, ist Sozialarbeiterin. Seit 2003 lebt sie in Berlin. Sie forscht über Migrationsprozesse und Sozialpolitik.
MieterEcho 438 / Januar 2024