Lärm, Monostruktur, Verdrängung
Wie der boomende Berlin-Tourismus Friedrichshain belastet
Von Nicolas Šustr
Fast schon triumphal klingt die Ankündigung von Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) für das Tourismusjahr 2024: „Wir werden, das können wir jetzt schon vorhersehen, in diesem Jahr aller Voraussicht nach die 30-Millionen-Marke für Übernachtungen knacken. “ Allein schon die anstehende Fußball-Europameisterschaft werde dafür sorgen. Tourismusförderung sei wichtig, denn jeder investierte Euro komme fünf- bis siebenfach zurück.
Doch es gibt nicht nur Gewinner. Zwar schafft der Tourismus gerade in Hotellerie und Gastronomie Beschäftigung, Bezahlung und Bedingungen sind jedoch oft schlecht. Mietwohnungen werden illegal zu Ferienwohnungen umgenutzt, was nicht nur für ungewollten Trubel in Mietshäusern sorgt, sondern auch die Wohnungsnot verstärkt und nachweislich den Mietenanstieg weiter befeuert. Weil Gastronomie, Spätis und Klamottenläden auch mehr Gewerbemiete zahlen können als beispielsweise Kitas oder klassische Nahversorger wie Gemüseläden, verschlechtert sich die Infrastruktur für die Wohnbevölkerung. Und dann ist da noch der nächtliche Lärm der feierwütigen Horden.
Der Friedrichshainer Kiez rund um die Simon-Dach-Straße ist einer der Orte, an dem die Auswirkungen des Tourismus kulminieren. Das räumt auch Franziska Giffey bei der Senatspressekonferenz im März ein. „Da ist natürlich vor jedem Haus mittlerweile Außengastronomie. Und natürlich wohnen da Menschen darüber“, sagt sie. „Selbstverständlich müssen wir auch Dinge tun, die eben zu mehr Stadtverträglichkeit beitragen. Und das auch mit der Zivilgesellschaft zusammen“, so Giffey weiter.
Erfolglose Eindämmungsversuche
Seit rund zwei Jahrzehnten ist die Simon-Dach-Straße Anziehungspunkt im Nachtleben, viele Jahre engagierte sich die Initiative „Die Anrainer“ dafür, die Auswirkungen auf die Anwohner zu reduzieren. Eines der Hauptanliegen war die Durchsetzung der nächtlichen Schließung der Schankvorgärten, ebenso die Eindämmung des schwunghaften Drogenhandels, der sich vor allem im Bereich von der Warschauer Brücke bis in die Revaler Straße und auf dem angrenzenden Gelände des ehemaligen Reichsbahn-Ausbesserungswerks (RAW) abspielt. Wirkliche Erfolge konnten „Die Anrainer“ nicht erzielen. Personalmangel und Arbeitszeitregelungen bei Polizei und Ordnungsamt haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass es – wenn überhaupt – nur punktuelle Kontrollen der Schließzeiten gab. 2020 meldete sich die Initiative zuletzt öffentlich zu Wort, seitdem herrscht Funkstille. Eine stille Kapitulation vor den Verhältnissen.
Und selbst im Hinterhaus bleibt man nachts nicht unbedingt verschont vom Tourismus in Friedrichshain. Grund sind die zahlreichen Ferienwohnungen. Laut Daten des Portals insideairbnb.com waren allein auf Airbnb Ende Dezember 2023 über 1.400 Unterkünfte registriert, die nicht explizit als Hotel oder Hostel ausgewiesen waren. Knapp 900 davon, also fast zwei Drittel, sind ganze Wohnungen. Welche dieser Angebote eine illegale Zweckentfremdung darstellen, ist selbst für die Ämter sehr schwierig festzustellen. Gesetzesverschärfungen sorgten für bessere Eingriffsmöglichkeiten, trotzdem sind die Behörden nach wie vor auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen. Durch die oft große Fluktuation und Anonymität in den Mietshäusern fällt die Vermietung als Ferienwohnung oft nicht auf. „Wir können uns nicht 24/7 365 Tage im Jahr vor die Wohnung auf die Lauer legen“, benannte Karsten Baudach, Leiter des Fachbereichs Wohnen in Tempelhof-Schöneberg, das Problem kürzlich bei einer Anhörung im Abgeordnetenhaus.
„Viele ‚alte Einheimische‘ verfügen einfach nicht über die ökonomischen Mittel, um sich selbst oder ihre ‚authentisch‘ genannten Kieze vor der freizeitzentrierten neuen Welle konsumorientierter kapitalistischer urbaner Umstrukturierung zu schützen“, beschreiben Stefan Brandt, Sybille Frank und Anna Laura Raschke wissenschaftlich nüchtern die Lage in den vom Tourismus überrannten Berliner Kiezen in einem Beitrag im 2022 erschienenen Sammelband „Unsettled Urban Space“.
Dabei sind die Auswirkungen von Touristifizierung und Gentrifizierung wissenschaftlich kaum zu trennen. Man ist mit einem Amalgam der verschiedenen Verwertungsprozesse der Stadt konfrontiert. So gibt es inzwischen einen fließenden Übergang bei der Kurzzeitvermietung zwischen rein touristischer Nutzung oder jener an Menschen, die einige Monate oder vielleicht ein Jahr in der Stadt leben, um zu studieren oder zu arbeiten. Ebenso fließend ist der Übergang zwischen Ferienappartment und möbliert vermieteter Wohnung.
„Die Analogie zur Gentrifizierung macht klar, dass es sich um einen Aufwertungsprozess handelt, wobei die Entwicklungsparameter im Fall der Gentrifizierung neue Bewohnergruppen, bei der Touristifizierung Stadtbesucher sind“, schrieb Stadtforscherin Verena Pfeiffer-Kloss bereits 2011 in einem Beitrag für Urbanophil. „Die räumliche Form und das Funktionsprinzip eines Touristifizierung-Gebiets ist dabei oft vergleichbar mit der Anlage von Shopping-Malls mit zwei Ausgangspunkten und einer dazwischen liegenden Flanierstrecke, an der sich statt Einkaufsläden Kneipen reihen“, beschrieb sie ein Profil, das auf die Simon-Dach-Straße durchaus zutrifft.
Inzwischen hat die Senatswirtschaftsverwaltung mit dem 24-köpfigen „Bürger:innenbeirat Berlin-Tourismus“ eine institutionalisierte Vertretung der Zivilgesellschaft geschaffen, jeder Bezirk hat zwei Menschen in das Gremium entsandt. Eine Vertreterin für Friedrichshain-Kreuzberg ist Franziska Rottig, die das Geschehen als Anwohnerin erlebt, sich aber auch wissenschaftlich mit den Auswirkungen von Tourismus beschäftigt – an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde. Der Wirtschaftsförderung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg attestiert Rottig im Bezirksvergleich ein großes Engagement, um „Impulse für ein angemessenes Verhalten der Besucher wie auch Einheimischen zu setzen“. Als Beispiel nennt sie das Projekt Fairkiez, in dessen Rahmen auch die „Nachtläufer*innen“ unterwegs sind. Durchschlagende Erfolge sind jedoch nicht spürbar.
Organisierte Verantwortungslosigkeit
In seiner Dissertation zu „Governance-Techniken der (Ent-)Problematisierung stadttouristischer Konflikte“ geht Forscher Christoph Sommer hart ins Gericht mit der Berliner Tourismuspolitik. Das fängt schon an mit den Summen, die für die Bewältigung von Auswirkungen auf die Kieze zur Verfügung gestellt werden. 10,1 Millionen Euro wurden 2018 aus dem Landeshaushalt für Tourismus bereitgestellt, davon gerade 240.000 Euro für den „Akzeptanzerhalt“. Entsprechend der geringen Summe hatte Friedrichshain-Kreuzberg nicht einmal 8% der veranschlagten Mittel erhalten.
„Organisiertes Hinschauen“ nennt Sommer die unter Einbindung der Zivilgesellschaft etablierten Gremien, aber auch Projekte wie „Fairkiez“, die wegen fehlender Sanktionsmöglichkeiten letztlich unverbindlich sind. „Die institutionalisierten, dauerhaften Bearbeitungsstrukturen, wie auch die Ereignisse des moderierten Redens über konflikthaften Tourismus, werden zu ‚Lösungen‘ deklariert – ohne dass der Organisation der Konflikt-Thematisierung eine Konflikt-Bearbeitung folgen muss“, bemängelt er. Die organisierte Kommunikation über tourismusbedingte Konflikte entlaste von politisch-administrativem Handlungsdruck. Der Lösungscharakter der Foren des Organisierten Hinschauens – wie auch der auffordernde Impetus der Beteiligungsformate („mitdenken“, „mitmachen“) – entlastet die Tourismusorganisation visitBerlin wie auch die Senatswirtschaftsverwaltung vom Handlungsdruck im Hinblick auf die Bearbeitung tourismusbedingter Konflikte.
Dadurch werde „nicht der Konsens über einen angemessenen Umgang mit tourismusbedingten Konflikten stabilisiert, sondern das Vertrauen in die Gestaltungsfähigkeit des städtischen Tourismusmanagements untergraben“, so Sommer weiter. Auch die Delegierung der Aufgaben, die eigentlich die Senatsbau- oder -verkehrsverwaltung zu lösen hätten und nicht die halbstaatliche Agentur visitBerlin, kritisiert er. Denn in den Fachverwaltungen könnten „leichter bessere Antworten auf tourismusbedingte Konflikte gefunden werden, die größtenteils Stadtentwicklungskonflikte sind“.
Christoph Sommer stellt der Landespolitik generell ein schlechtes Zeugnis im Umgang mit dem Thema aus: „Belange der Tourismuskritik werden mit Verweis auf eine vermeintlich intolerante Haltung derjenigen, die sie vorbringen, einer grundsätzlichen Debatte entzogen.“
MieterEcho 440 / Mai 2024