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MieterEcho 438 / Januar 2024

Kein Licht am Ende des Tunnels

Dramatische Zunahme der Wohnungslosigkeit und keine Hoffnung auf Besserung

Interview mit Werena Rosenke

MieterEcho: Was ist die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W)?

Werena Rosenke: Die BAG W ist der bundesweite Dachverband der Einrichtungen und sozialen Dienste der Wohnungsnotfallhilfe mit insgesamt ca. 1.250 Mitgliedern. Wir entwickeln sozial-, wohnungs- und fachpolitische Forderungen und Empfehlungen zu Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit.

Wir vertreten die Wohnungsnotfallhilfen im „Bündnis bezahlbares Wohnen“ und im Lenkungskreis des „Nationalen Aktionsplans zur Überwindung der Wohnungslosigkeit bis 2030“. Jährlich veröffentlichen wir unseren Statistikbericht zur Lebenslage von Menschen in Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit. Dies ist die einzige, jährlich seit 1990 erscheinende, bundesweite qualitative Dokumentation, in die knapp 40.000 aggregierte Klientendaten einfließen.

Wie viele Menschen waren 2022 in Deutschland wohnungslos, und wie haben sich die Zahlen gegenüber dem Vorjahr verändert?

Im Verlauf des Jahres 2022 waren in Deutschland laut der aktuellen Hochrechnung der BAG W 607.000 Menschen wohnungslos. Davon lebten rund 50.000 auf der Straße. Aus den Zahlen ergibt sich ein Anstieg der Stichtagszahl von 2021 zu 2022 um 67% und der Jahresgesamtzahl um 58%. Bei deutschen Wohnungslosen beträgt der Anstieg 5%, bei den nicht-deutschen 118%. Letzteres ist vor allem auf die Zunahme der Zahl wohnungsloser Geflüchteter, insbesondere aus der Ukraine, zurückzuführen.

Was können Sie zu Herkunft, Alter, Geschlecht und weiteren soziologischen Faktoren wohnungsloser Menschen sagen?

Die Gruppe der wohnungslosen Menschen ist sehr heterogen. Ein Drittel aller Betroffenen sind Einpersonenhaushalte, zwei Drittel Mehrpersonenhaushalte. Allerdings sind Wohnungslose mit deutscher Staatsbürgerschaft zu 58% Einpersonenhaushalte, wohnungslose Menschen mit nichtdeutscher Staatsbürgerschaft vor allem Familien. 

26% aller wohnungslosen Personen sind Kinder oder Jugendliche. Bei den deutschen Wohnungslosen liegt der Anteil der Minderjährigen bei knapp 9%, bei den Nichtdeutschen bei knapp 34%. Unter allen Volljährigen sind 58% männlich, 42% weiblich. Von den deutschen volljährigen Wohnungslosen sind 72% männlich und 28% weiblich, bei den Nichtdeutschen ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichen.

Was sind die Ursachen von Wohnungslosigkeit?

Wir unterscheiden in unserem Statistikbericht zwischen formalen Gründen und Auslösern des Wohnungsverlustes.

Zu den formalen Gründen: Mehr als 32% der Klient/innen verloren ihre Wohnung aufgrund von Kündigung, knapp 6% aufgrund einer Räumungsklage, 15% wurden zwangsgeräumt. 26% der Betroffenen sind ohne Kündigung ausgezogen, 17% haben selbst gekündigt. Nicht selten kommen Menschen damit einem drohenden Wohnungsverlust zuvor. Selbstkündigung oder der Auszug ohne Kündigung müssen also keineswegs freiwillig sein.

Konkreter Auslöser des Wohnungsverlustes ist in vielen Fällen eine Gemengelage aus finanzieller Not und Konflikten in Familie, Ehe oder Partnerschaft. Wichtige Faktoren sind Miet- oder Energieschulden (18%), Trennung / Scheidung (ca. 16%), Auszug aus der elterlichen Wohnung (7%) und Konflikte im Wohnumfeld (16%). Bei mehr als 9% der Frauen ist Gewalt durch den Partner oder durch Dritte Auslöser des Wohnungsverlustes. Nichtdeutsche Wohnungslose hatten mehrheitlich in Deutschland noch nie eine Wohnung. Der Hauptauslöser der Wohnungslosigkeit ist die Flucht.

Der fehlende bezahlbare Wohnraum ist und bleibt der Hauptgrund für die Wohnungslosigkeit. Durch das sukzessive Auslaufen von Sozialbindungen bei gleichzeitig niedrigen Neubauraten sinkt der Anteil der verfügbaren Sozialwohnungen dramatisch – nach Berechnungen der BAG W seit 1989 um ca. 1.801.000 Wohnungen (-62,3%) auf aktuell ca. 1.088.000. Diese fehlen dauerhaft für eine soziale Wohnraumversorgung. Einer immer größeren Zahl Wohnungssuchender mit geringem Einkommen steht somit ein ständig schrumpfendes Angebot an bezahlbarem Wohnraum zur Verfügung.

Was müsste getan werden, um Wohnungslosigkeit zu überwinden? Wohnungslosigkeit ist die extremste Form sozialer Ausgrenzung. Wohnungslose Menschen sind überwiegend langzeitarbeitslos, haben geringe Bildungsqualifikationen, können häufig ihre Rechte auf Transferleistungen nicht realisieren, finden keinen Zugang zu geregelter medizinischer Versorgung. Oftmals leben sie sozial sehr isoliert und erfahren Stigmatisierung, Diskriminierung und Gewalt im öffentlichen Raum. Diese Ausgrenzung muss überwunden werden.

Deswegen fordert die BAG W bereits seit einem Jahrzehnt eine umfassende „Nationale Strategie“ zur Überwindung von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit. Unser föderales System erfordert politische Maßnahmen zur Überwindung von Wohnungslosigkeit und sozialer Ausgrenzung auf allen politischen Ebenen, also eine vertikale Kooperation zwischen Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.

Wie schätzen Sie den „Nationalen Aktionsplan zur Überwindung der Wohnungslosigkeit bis 2030“ der Bundesregierung ein?

Die Bundesregierung hat sich mit dem „Nationalen Aktionsplan“ zum Ziel gesetzt, die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Mit 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr – wie von der Ampelregierung versprochen – kann dem Mangel nicht ausreichend entgegengesteuert werden. Zusätzlich zu den Sozialwohnungen werden weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen benötigt. Entstanden sind in den letzten Jahren jeweils nur ca. 25.000 neue sozialgebundene Wohnungen, die nicht einmal das Abschmelzen des Sozialwohnungsbestandes durch Auslaufen der Bindungen kompensieren. Benötigt wird vor allem ein Wohnungsbestand mit dauerhaften Sozialbindungen. Deswegen muss die Bundesregierung – wie beim Wohnungsgipfel im Kanzleramt angekündigt – die Neue Wohngemeinnützigkeit jetzt einführen.

Es bedarf weiterer gezielter Maßnahmen, um wohnungslose Menschen wieder in eine eigene Wohnung zu bringen, denn oft sind sie Vorurteilen und Diskriminierungen ausgesetzt. Nötig sind deshalb Bindungen und Quotierungen für Wohnungslose im Sozialwohnungsbestand sowie die gezielte Akquise von Wohnungsbeständen bei privaten Vermietern und der Wohnungswirtschaft.

Welche Möglichkeiten gibt es, Wohnungslosigkeit bereits im Vorfeld, z. B. durch Änderungen im Mietrecht, zu vermeiden?

Ein Leichtes wäre es, die Mietschuldenübernahme im SGB II wie im SGB XII als Beihilfe vorzusehen. Darüber hinaus muss durch den Gesetzgeber dringend klargestellt werden, dass – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – bei einer Mietschuldenbefriedigung nicht nur die außerordentliche Kündigung des Mietverhältnisses, sondern auch die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung geheilt ist. Der Gesetzgeber ist ebenfalls aufgefordert, Klarheit beim Datenschutz zu schaffen, damit bei gefährdeten Wohnverhältnissen so früh als möglich interveniert werden kann.

In jede Kommune und jeden Landkreis gehört eine Zentrale Fachstelle zur Verhinderung von Wohnungsverlusten. Der flächendeckende Ausbau eines präventiven Systems zur Verhinderung von Wohnungsverlusten muss verwirklicht werden.

Wie könnte sich die Wohnungslosigkeit in Deutschland in Zukunft entwickeln?

Im Augenblick gibt es keine Hinweise auf Entwarnung – im Gegenteil. Die Bautätigkeit – sowohl im Bestand als auch im Neubau – ist rückläufig, Mieten steigen und ebenfalls die Zahl der Menschen, die auf bezahlbaren und langfristig sozial gebundenen Wohnungsbestand angewiesen sind. Die Energie- und Klimakrise und steigende Lebenshaltungskosten durch Inflation betreffen besonders Menschen, die bereits gesellschaftlich und sozial marginalisiert sind. Besonders gefährdete Gruppen sind einkommensarme Ein-Personen-Haushalte, alleinerziehende und kinderreiche Familien.

Das Wohnungsthema hat große gesellschaftliche Sprengkraft, weil es sich geradezu für populistische Aneignung anbietet und entsprechend auch benutzt wird: Die Geflüchteten beziehen angeblich nicht nur die letzten bezahlbaren Wohnungen, sondern nehmen auch den deutschen Wohnungslosen noch die Notunterkünfte weg – so ein gängiges rechtes Narrativ.

Angesichts dieser populistischen Hetze müssten eigentlich alle demokratischen Parteien und die Zivilgesellschaft ein massives Interesse an der Überwindung von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit haben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Andreas Hüttner.

 

Werena Rosenke, Publizistin, bis Ende 2023 Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W).


MieterEcho 438 / Januar 2024