Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 438 / Januar 2024

Gegen Wohnungslosigkeit hilft nur Wohnungsbau

Das Berliner Housing First-Programm ist ein richtiger Ansatz – doch ohne bezahlbaren Wohnraum kann es kaum Wirkung entfalten

Von Andrej Holm

Berlin hat einen Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Ein zentrales Instrument ist der Housing First-Ansatz. Trotz steigender Fördervolumen für das Programm ist der Erfolg bisher überschaubar. In den ersten Jahren des Programms wurden gerade einmal 79 Wohnungen vermittelt. Das Beispiel Finnland zeigt, dass der Erfolg von Housing First vor allem dann eintritt, wenn es nicht nur als soziale Arbeit, sondern als wohnungspolitisches Instrument verstanden wird.

Im September 2021 veröffentlichen Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) und Staatssekretär Alexander Fischer als eine der letzten Amtshandlungen des rot-rot-grünen Senats einen „Berliner Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030“. Für dieses ambitionierte Ziel griff der Masterplan die seit Langem bestehende Kritik am bisherigen Hilfesystem der Unterbringung und sozialarbeiterischen Betreuung auf und forderte nichts weniger als einen „Paradigmenwechsel der Berliner Wohnungslosenpolitik“. Im Masterplan heißt es: „Zuallererst brauchen wohnungslose Menschen eine Wohnung. Aufgabe eines auf Selbstermächtigung und Emanzipation ausgerichteten Sozialstaats ist es, den Weg aus der Wohnungslosigkeit in die eigene Wohnung so kurz und so schnell wie möglich zu bahnen.“ 

Damit orientierte sich der Berliner Senat an den internationalen Erfahrungen des Housing First-Konzepts, das der simplen Überzeugung folgt, dass Menschen ohne Wohnung am besten mit einer Wohnung geholfen werden kann. Der Masterplan setzt daher auf die Doppelstrategie, den Verlust von Wohnungen zu verhindern und wohnungslosen Menschen so schnell wie möglich einen eigenen Wohnraum zu besorgen. Dazu sollen die seit 2018 gestarteten Housing First-Modellprojekte schrittweise zum Regelansatz der Wohnungslosenpolitik in Berlin entwickelt werden. 

In der bisher üblichen Abfolge von Straße, Notunterkunft, betreute Übergangswohnung und sozialen Unterstützungsleistungen für individuelle Problemlagen wie Sucht und Schulden stand die eigene Wohnung am Ende der staatlichen Interventionskette. Im Housing First-Ansatz erfolgt zuerst und ohne jede Vorbedingung die Anmietung einer eigenständigen Wohnung und wird zum Ausgangspunkt für weitergehende Unterstützungsangebote auf dem Weg zur angestrebten Stabilisierung der Lebensführung.

Fördervolumen viel zu gering

Kurzum: Housing First klingt nach einem vernünftigen Konzept zur Beendigung der Wohnungslosigkeit – ist aber in der Praxis mit erheblichen Problemen konfrontiert. In der Modellphase von 2018 bis 2021 wurden von den beiden beauftragten Trägern „Housing First Berlin“ (gemeinsames Projekt vom Verein Berliner Stadtmission und der Neue Chance gGmbH) und „Housing First für Frauen“ (vom Sozialdienst katholischer Frauen e.V. Berlin) lediglich 79 Wohnungen vermittelt. 

Bei einem Fördervolumen von insgesamt 1,93 Millionen Euro für das Modellprojekt entspricht das einem Förderaufwand von knapp 25.000 Euro je Wohnung. Für die beiden vergangenen Jahre wurde das Budget für das Housing First-Programm auf 2,8 Millionen (2022) bzw. 3,3 Millionen Euro (2023) aufgestockt und vier weitere Projektträger in das Programm aufgenommen. Sechs verschiedene Soziale Träger mit unterschiedlichen Zielgruppen sollen in den nächsten Jahren die Wohnungen an Wohnungslose vermitteln. 

Die Zielzahlen der beiden Modellprojekte für die kommenden Jahre liegen bei insgesamt 150 Wohnungen pro Jahr, die vier kleineren Projekte sollen weitere Wohnungen akquirieren und an Wohnungslose vergeben. Doch selbst eine Zielzahl von 250 pro Jahr wäre viel zu wenig, um den Bedarf für geschätzt 5.000 bis 6.000 Menschen ohne Obdach und weitere 30.000 in ordnungsrechtlichen Unterbringungen zu bedienen. Um die Gesamtzahl der 35.000 Obdach- und Wohnungslosen über das Housing First-Programm zu versorgen, würde es beim aktuellen Tempo der Vermittlung 140 Jahre dauern. Um wie im Masterplan vorgesehen bis zum Jahr 2030 alle wohnungslosen Menschen mit einer Wohnung zu versorgen, müssten pro Jahr 5.000 Wohnungen vergeben werden. Und selbst diese Rechnung würde nur aufgehen, wenn keine weiteren Wohnungsnotfälle hinzukommen. Zudem ist von einer erheblichen Dunkelziffer behördlich nicht erfasster Wohnungsloser auszugehen.

In Stellungnahmen der zuständigen Senatsverwaltung auf Anfragen im Abgeordnetenhaus wird der Benennung von konkreten Zielzahlen allerdings ausgewichen, weil die „Zielerreichung maßgeblich von einer erfolgreichen Wohnraumakquise abhängt“. Auch die Anfang 2023 ausformulierten Förderricht-linien für Housing First-Projekte bleiben im Blick auf die Zielzahlen erschreckend vage. „Die Bewilligungsbehörde“ so heißt es in schnörkellosen Amtsformulierungen, „entscheidet über die Förderung nach pflichtgemäßem Ermessen insbesondere unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit und im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“. Mit anderen Worten: Die in den Programmpapieren versprochene Überführung vom Housing First zum Regelansatz der Wohnungslosenpolitik steht unter Haushaltsvorbehalt.

Ein Masterplan ohne konkrete Zielzahlen und ohne verlässliches Budget vermittelt aber keine Wohnungen. Auch bei der Ausschreibung für die Trägervereine der Housing First-Projekte standen Kriterien wie ein professionelles Projektmanagement, Zielgruppengenauigkeit oder Erfahrungen mit dem System der Berliner Wohnungslosenhilfe höher im Kurs als die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich Wohnungen besorgen zu können. Wie in anderen Vergabeprozessen auch konnten Projekte im Rahmen eines Interessenbekundungsverfahrens eingereicht werden. Die Bewertungskriterien bestanden aus insgesamt 10 Bereichen, in denen insgesamt maximal 66 Punkte vergeben wurden. Die einzige wohnungsbezogene Anforderung lautete „Vorgehen zur Wohnraumgewinnung und Darstellung der damit verbundenen Wohnraumpotentiale“ und wurde mit maximal 5 Punkten bewertet. 

Finnland gilt völlig zu Recht in vielen Debatten zu Housing First-Programmen als Referenz und erfolgreiches Beispiel. In Finnland wurde der Weg des Housing First früher als in anderen europäischen Ländern beschritten und hat zu messbaren Erfolgen geführt. Seit dem Start des Programms im Jahr 2007 konnte die Zahl der landesweit erfassten Wohnungslosen von knapp 8.000 auf etwa 4.000 reduziert werden. Allein zwischen 2008 und 2019 wurden über 7.000 Wohnungen im Rahmen des Housing First-Programms vermittelt. Bis 2027 soll dort niemand mehr ohne Wohnung sein. 

Erst Wohnung, dann soziale Betreuung

Das Geheimnis des finnischen Erfolges beginnt wie ein schlechter Witz: Treffen sich ein Sozialamtsleiter, ein Bischof und ein Unternehmer… Bereits seit 1987 stand die Überwindung der Obdachlosigkeit in allen finnischen Regierungsprogrammen, doch mit der Zeit wurde allen Beteiligten klar, dass der klassische Weg der Sozialarbeit mit verschiedenen Stufen der Beratung und Unterstützung nur selten zum Erfolg und zur Vermittlung einer Wohnung führten. 

Im Jahr 2007 berief der damalige Bau- und Umweltminister und spätere Bürgermeister von Helsinki, Jan Vapaavuori,  eine Arbeitsgruppe ein, die Vorschläge für einen neuen Weg zur Überwindung der Obdachlosigkeit erarbeiten sollte. Der Expertenkreis bestand aus dem Sozialamtsleiter von Helsinki (Paavo Voutilainen), dem Bischof Eero Huovinen, dem Direktor der Y-Foundation (Hannu Puttonen) und dem Arzt und Aktivisten Ilkka Taiple und nannte sich selbst Arbeitsgruppe „Name an der Tür“. 

Sie definierten den ersten Housing First-Ansatz in Finnland, aus dem bis heute die zentralen Prinzipien des Programms abgeleitet werden: „Die Lösung sozialer und gesundheitlicher Probleme ist keine Voraussetzung für die Vermittlung von Wohnraum, sondern Wohnraum ist eine Voraussetzung, die auch die Lösung der anderen Probleme eines Obdachlosen ermöglicht.“ Die Vorschläge der Expertengruppe wurden in das „Finnische Regierungsprogramm zur Reduzierung der Langzeitobdachlosigkeit“ (PAAVO I) überführt und mit konkreten Maßnahmen verbunden. Der Staat stellte Geld für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung, gemeinnützige Stiftungen wie die Y-Foundation bauten preisgünstige Wohnungen und stimmten mit den Kommunen deren Vergabe ab. 

Über eine Regierungsagentur zur Wohnungsbaufinanzierung und -entwicklung werden im Rahmen des Housing First-Programms staatliche Garantien und Zinszuschüsse für den Bau von Sozialwohnungen sowie Investitionszuschüsse zur Verbesserung der Wohnverhältnisse von Gruppen mit besonderen Bedürfnissen mit bis zu 50% der genehmigten Investitionskosten finanziert. Die Sozialwohnungen stehen in Finnland grundsätzlich allen Staatsbürgern offen – Wohnungssuchende mit geringen Einkommen und unzulänglichen Wohnbedingungen werden jedoch bevorzugt.

In einem Zusatzprogramm werden darüber hinaus Wohnungen für besondere Bedarfsgruppen wie Obdachlose, Menschen mit Behinderungen und Studierende gefördert und gebaut, die dann auch im Rahmen der Housing First-Programme durch die Kommunen vergeben werden können. Die Housing First-Wohnungen sind oft kleine Apartments, die aber immer in Wohnanlagen mit größeren Gemeinschaftsräumen errichtet werden. Die über das Housing First-Programm versorgten Mieter/innen müssen dabei selbst für ihre Miete aufkommen, können aber einen sozialen Mietzuschuss beantragen, der bis zu 35%  der Kosten betragen kann. Zudem bieten die sozialen Vermietungsgesellschaften den Housing First-Mieter/innen auch kleinere Jobs in den Wohnanlagen an, so dass die Mietzahlungen gesichert werden können. Housing First wird aber  nicht nur in geschlossenen Wohnanlagen praktiziert. Obdachlose können auch dezentral in Einzelwohnungen in ganz normalen Wohnhäusern untergebracht werden. Obwohl die Schaffung speziellen Wohnraums für Obdachlose hohe Investitionen erfordert, gehen die staatlichen und privaten Träger davon aus, dass mittel- und langfristig dennoch erhebliche Einsparungen realisiert werden können. Die Ausgaben für Gesundheitsversorgung und soziale Dienstleistungen sinken signifikant, wie auch die Kosten für Polizei und Justiz. Denn Menschen, die von der Straße in Housing First-Projekte gebracht wurden, sind weniger krankheitsanfällig und werden auch seltener straffällig. Laut einer Fallstudie betragen diese Minderausgaben bis zu 15.000 Euro pro Person im Jahr, wenn die Betroffenen vernünftig untergebracht sind.  

Lernen vom finnischen Modell

So positiv die Strukturen und Effekte des finnischen Housing First-Programms auch klingen, soll eine gravierende Einschränkung der Strategien gegen Wohnungslosigkeit in Finnland nicht verschwiegen werden. Das Housing First-Programm ist bisher ein For-Finns-Only-Programm, denn eine finnische Staatsbürgerschaft ist die Voraussetzung für den Zugang zu den Wohnungen und Unterstützungsangeboten des Housing First-Programms. Insbesondere für die steigende Zahl an Wohnungslosen aus Osteuropa  bietet das Programm bisher keine Lösungen.

Trotz dieser Einschränkungen kann die Berliner Politik von Finnland lernen, denn ein grundlegender Unterschied der finnischen Politik im Vergleich zu den Berliner Housing First-Modellen wird schnell deutlich: Die Initiativen zur Beendigung der Wohnungslosigkeit werden dort nicht vorrangig als sozialpolitische Herausforderung angesehen, sondern als zentrales Feld der Wohnungspolitik. Juha Kaakinen, der die Housing First-Programme von Beginn an begleitet hat, fasst die Besonderheiten des finnischen Models prägnant zusammen: „Die starke Führung des Staates und die für die Bekämpfung der Obdachlosigkeit bereitgestellten Haushaltsmittel haben dazu beigetragen, dass die verschiedenen Akteure die Wohnungslosigkeit gemeinsam erheblich reduzieren konnten. Die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum ist die wichtigste Maßnahme zur Verringerung der Obdachlosigkeit.“ 

Solange die Berliner Housing First-Programme auf einen Mix von sozialer Beratung und erratischer Wohnungsakquise bei öffentlichen und privaten Wohnungsbaugesellschaften setzen, werden die Erfolge beschränkt bleiben. Von Finnland zu lernen heißt relativ simpel: Wer Wohnungslosigkeit beenden will, muss bezahlbaren Wohnraum schaffen.

 

Zum Weiterlesen:

Kaakinen, Juhu 2017: A Home of Your Own: Housing First and ending homelessness in Finland (www.homelesshub.ca/resource/home-your-own-housing-first-and-ending-homelessness-finland)

Y-Foundation 2022: Home for All: A practical guide to providing homes for those in need: The story of the Y-Foundation.
(ysaatio.fi/wp-content/uploads/2022/03/Home-for-all.pdf)


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