Von der Pandemie zur Inflation
Armut in Deutschland hat sich durch die Krisen der vergangenen Jahre ausgebreitet und vertieft
Von Jonas Pieper und Wiebke Schröder
Mitten in der Corona-Pandemie setzte in der zweiten Jahreshälfte 2021 eine immer stärker anziehende Inflation ein, die sich nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine beschleunigte. Im Laufe des Jahres 2022 stiegen die Preise dann so schnell, wie sie es in Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr getan hatten. Mit dem Armutsbericht 2022 analysierte der Paritätische Gesamtverband, wie sich die Einkommensarmut in Deutschland in dieser Zeit zwischen Pandemie und Inflation entwickelt hat.
Für das zweite Pandemiejahr 2021 konstatiert der Bericht einen traurigen Höchststand der Armutsquote: 16,9%, das entspricht 14,1 Millionen Menschen, mussten hierzulande zu den Einkommensarmen gezählt werden. Das heißt, dass sie von weniger als 60% des mittleren Einkommens leben mussten. Das waren 600.000 mehr als 2020 und 840.000 mehr als vor der Pandemie. Noch nie wurde auf der Datenbasis des Mikrozensus eine höhere Armutsquote für das Bundesgebiet gemessen.
Die Entwicklung fügt sich in einen besorgniserregenden Aufwärtstrend der Armutsquoten ein, der bereits 2006 eingesetzt hat. Die Armutsquote stieg – trotz immer weiter steigendem Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt – von 14 auf 16,9%. Mit einem Sprung von 15,9 auf 16,9% war der Anstieg der Armutsquote in den beiden Pandemiejahren 2020 und 2021 jedoch der steilste innerhalb von zwei Jahren seit Beginn der Messung.
Noch nie hatte sich die Armut in Deutschland in der jüngeren Vergangenheit so schnell ausgebreitet wie während der Pandemie. 2020 hatten die verschiedenen Sofortmaßnahmen der Bundes- und Landesregierungen noch dafür gesorgt, dass die Armut trotz des wirtschaftlichen Einbruchs und des folgenden Anstiegs der Arbeitslosigkeit nur relativ moderat anstieg. Viele hatten mit noch Schlimmerem gerechnet. 2021 jedoch schlugen dann die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie voll auf die Armutsentwicklung durch.
Gruppenspezifische Armutsentwicklung
Dabei fiel ein ungewöhnlicher Zuwachs der Armut unter Erwerbstätigen auf, besonders unter Selbstständigen. Deren Armutsquote sprang während der Pandemie von 9 auf 13%. Dieser Befund korrespondiert mit einschlägigen Untersuchungen, die schon während der Pandemie Hinweise darauf gaben, dass es vor allem Selbständige waren, die in der Pandemie in großer Zahl finanzielle Einbußen zu erleiden hatten.
Auch unter den abhängig Beschäftigten fiel ein ungewöhnlich starker Anstieg der Armut in der Pandemie auf: von 7,9 auf 8,5%. Dabei dürfte neben den Einkommensverlusten bei Kurzarbeit und einem rapiden Anstieg von Teilzeitarbeit auch die Tatsache eine Rolle spielen, dass unter den abhängig Beschäftigten pandemiebedingt jene am stärksten von Einkommensverlusten betroffen waren, die ohnehin über eher geringe Erwerbseinkommen verfügten.
Traurige Höchststände erreichten 2021 auch die spezifischen Armutsquoten von Rentner/innen mit 18,2 sowie Kindern und Jugendlichen mit 21,3%. Ein besonders hohes Armutsrisiko hatten auch – wie auch schon bei den früheren Erhebungen – kinderreiche Familien und Alleinerziehende. Nichterwerbstätige und Personen mit niedrigem Bildungsniveau waren ebenfalls stark überproportional von Armut betroffen.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung der Einkommensarmut in Deutschland setzte im Herbst 2021 mit den steigenden Lebenshaltungskosten eine immer stärkere Vertiefung der Armut ein. Der zunehmende Verlust der Kaufkraft traf diejenigen, die ohnehin schon nicht wussten, wie sie über den Monat kommen sollen, mit voller Wucht. Bei einem Hartz IV-Regelsatz oder Altersgrundsicherung von 449 Euro bedeuteten Inflationsraten von über 8% im Herbst 2022 herbe Einschnitte beim Nötigsten. Die Preise für Lebensmittel oder Energie zogen sogar noch deutlich schärfer an: Nahrungsmittel waren im Dezember 2022 innerhalb eines Jahres um mehr als 20% teurer geworden, die Kosten für Haushaltsenergie um mehr als 40%.
Der Paritätische Gesamtverband hatte bereits vor Einsetzen der sprunghaften Inflation mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass der Regelsatz bei weitem nicht auskömmlich war. Denn er reichte weder für eine gesunde und ausgewogene Ernährung noch für soziale Teilhabe, wie die Einladung von Freund/innen zum Essen nach Hause oder für eine jährliche Urlaubsreise von einer Woche. Betroffen waren Millionen Bezieher/innen von Leistungen der sozialen Mindestsicherung, aber auch diejenigen, die mit ihrem Einkommen knapp über dem Grundsicherungsniveau liegen. Die zunehmende Not zeigte sich unter anderem an der massiv steigenden Nachfrage bei den Tafeln, die Mitte 2022 rund 50% mehr Kund/innen als noch zu Beginn des Jahres vermeldeten. Viele Tafeln mussten in der Folge Aufnahmestopps verhängen.
Angesichts dieser massiven Problemlage fielen die Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung in Hinblick auf die Unterstützung armer Menschen enttäuschend aus. Die insgesamt drei Entlastungspakete, die die Bundesregierung im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht hat, halfen Menschen mit kleinen Einkommen in viel zu geringem Umfang, während große Summen an Haushalte flossen, die nicht auf staatliche Hilfen angewiesen sind. Von den rund 30 Milliarden Euro aus den ersten beiden Entlastungspaketen flossen nur etwa zwei Milliarden zielgerichtet an einkommensschwache Haushalte. Das dritte Entlastungspaket setzte mit der Wohngeld- und Hartz-IV-Reform zwar in Teilen an zielgenauen Hebeln an, um die Situation einkommensarmer Haushalte zu verbessern. Eine konsequente Armutsbekämpfung erfolgte jedoch nicht.
So ging die Bundesregierung die Verbesserungen in der Grundsicherung nicht so energisch und konsequent an, wie die soziale Lage der Menschen es erfordert. Die Erhöhung der Hartz IV-Regelsätze (jetzt als „Bürgergeld“ bezeichnet) zum 1. Januar 2023 um 53 Euro fiel viel zu gering aus. Die Ausweitung des Wohngelds ist zwar grundsätzlich zu begrüßen, dennoch blieb auch hier einiger Verbesserungsbedarf außen vor. Gleichzeitig werden bei der Gas- und Strompreisbremse enorme Summen mit der Gießkanne verteilt. Denn schließlich erhalten alle, unabhängig ob reich oder arm, eine Deckelung des Strom- und Gaspreises für 80% des Vorjahresverbrauchs. Reiche Menschen mit Sauna oder Pool im Haus profitieren dabei stärker als arme Menschen in schlecht isolierten Wohnungen, die schon lange auf Sparflamme leben.
Unzureichende Grundsicherung
Eine zielgerichtete und wirkungsvolle Armutspolitik muss die einkommensorientierten sozialen Transferleistungen deutlich anheben und verbessern. Grundsicherung, Wohngeld und BAföG sind hier die Hebel. Der Regelsatz in der Grundsicherung für Arbeitssuchende, in der Altersgrundsicherung und bei Erwerbsminderung war bereits vor der anziehenden Inflation nicht bedarfsdeckend. Dies gilt auch für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Nach Berechnungen des Paritätischen müsste der Regelsatz dazu derzeit nicht 502 Euro, sondern 725 Euro betragen.
Ähnliches gilt für das BAföG. Nach unserer Auffassung darf das BAföG nicht unter dem Existenzminimum liegen, sondern muss analog zur Grundsicherung schnellstmöglich angehoben werden. Im Wohngeld müssen die Stromkosten dauerhaft enthalten sein. Außerdem bedarf es einer jährlichen Dynamisierung und einer Neuausrichtung der Mietenstufen an den ortsüblichen Vergleichsmieten. Zur Bekämpfung von Armut gehören auch Löhne, die vor Armut schützen, die Einführung einer einkommens- und bedarfsorientierten Kindergrundsicherung, die Stärkung der Arbeitslosenversicherung, eine Neuaufstellung der gesetzlichen Rentenversicherung und eine konsequente Mietpreispolitik, zum Beispiel durch eine bundesgesetzliche Ermöglichung eines Mietenstopps.
Dies wären die Elemente einer offensiven und problemlösenden Armutspolitik. In den Krisen der vergangenen Jahre hat die Bundesregierung zwar – oft spät – auf den gesellschaftlichen Druck reagiert und einzelne Maßnahmen zur Unterstützung einkommensarmer Haushalte beschlossen. An der massiven sozialen Ungleichheit hat das jedoch nichts geändert – im Gegenteil.
Jonas Pieper und Wiebke Schröder sind als Referent/innen für übergreifende Fachfragen beim Paritätischen Gesamtverband tätig.
MieterEcho 431 / April 2023