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MieterEcho 429 / Januar 2023

Vom „Planwerk Innenstadt“ zur „Charta Molkenmarkt“

Ein gut eingespieltes Netzwerk für „retrospektives Bauen“ hat weitgehend die Kontrolle über die Stadtentwicklungspolitik übernommen

Von Verena Hartbaum

Der Aufschrei war weit über die Berliner Stadtgrenzen hinaus zu vernehmen, als Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt in der Preisgerichtssitzung zur Planung des Molkenmarktes am 13. September 2022 verkündete, dass es weder an diesem noch an einem anderen Tag zu einer Entwurfsentscheidung kommen würde, die aus dem vorangegangenen und mit erheblichem Aufwand durchgeführten Wettbewerbs- und Werkstattverfahren resultiere. Zahlreiche Medien haben seither über diesen eklatanten Verfahrensfehler, über die Entwertung von Formaten der Öffentlichkeitsbeteiligung, über das Verspielen des allgemeinen Vertrauens in demokratische Prozesse und über die Verschwendung jener Steuergelder berichtet, welche die jahrelangen Partizipationsprozesse rund um die Zukunft des Molkenmarktes gekostet haben.     

Der Kern des Konflikts liegt in der ebenfalls im September angekündigten „In-Haus-Lösung“ aller weiteren Planungsgrundlagen für das Areal zwischen Rotem Rathaus, Altem Stadthaus und Spree durch die Berliner Senatsbauverwaltung. Also einer stadtentwicklungspolitischen Zeitreise zu jenen Tagen, als der Senatsbaudirektor noch Hans Stimmann (SPD) hieß. Dessen „Planwerk Innenstadt“, ein privatisierungsorientierter Masterplan auf Basis einer historischen Parzellenstruktur, war ebenfalls ein in der Senatsbauverwaltung erarbeitetes Planungswerkzeug, geprägt von dem Willen zur zügigen Bebauung und damit auch verbunden zur zügigen Veräußerung städtischer Liegenschaften. Tobias Nöfer, damals Berufsanfänger und heute vielbeschäftigter Architekt im Stile des „retrospektiven Bauens“, hat das „Planwerk“ und damit die Grundlage jener historischen Informationen erstellt, die in den folgenden Jahrzehnten zum Maßstab für unzählige Planungen in Berlin werden sollten.

Idealisierte Vergangenheit

Das „Planwerk Innenstadt“ wurde im Jahr 1999 vom Berliner Senat als städtebauliches Leitbild beschlossen und ab 2010 durch das sogenannte „Planwerk Innere Stadt“ – welches durch räumliche Erweiterungen neue Schwerpunkte setzte, sich dabei aber auf seinen Vorgänger bezog – abgelöst. Es bildete die Grundlage dafür, dass ein großer Teil der in den vergangenen drei Jahrzehnten gebauten Stadt auf jener Vorstellung eines historischen Berlins beruht, die Hans Stimmann, Tobias Nöfer und ihre Kollegen Manfred Ortner, Fritz Neumeyer, Dieter Hoffmann-Axthelm und Bernd Albers im „Planwerk“ angelegt haben. Von der „Wiederherstellung“ noch kriegszerstört brachliegender städtebaulicher Anlagen, wie jener des Pariser, des Potsdamer oder des Leipziger Platzes, der massiven Überbauung ganzer Straßenblöcke wie jenen entlang der Friedrichstraße, bis hin zu einzelnen Repräsentationsgebäuden wie dem sogenannten Stadtschloss: Der architektonisch inszenierte Rückblick ist in wohl kaum einer anderen Stadt so umfangreich realisiert worden wie in Berlin nach 1989/90. Dabei wurden weite Teile der jüngeren Baugeschichte ausgeblendet.

Ebenfalls in kaum einer anderen Stadt ist mit der architektonischen Ausschlachtung der Vergangenheit eine derartige Wertschöpfung betrieben worden. Der retrospektive Stadtumbau ist hier mit dem nach dem Mauerfall einsetzenden Bauboom gestartet und seitdem zu einem zunehmend marktgetriebenen Phänomen geworden. Denn die mit dem „Planwerk Innenstadt“ einhergehende Privatisierung von Grund und Boden wird architektonisch vorrangig mit der Zurschaustellung von Distinktionsmerkmalen verbunden. Während im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des Stadtschlosses der Sinn von Symbolen feudaler, vormoderner Gesellschaftsformen noch öffentlich debattiert wurde, lösten die in den vergangenen Jahren an zahlreichen Orten entstandenen historisierenden Wohn- und Geschäftshäuser sowie ganze Quartiere, mit Bezeichnungen wie „Kronprinzengärten“, „Belles Etages“, „Fellini Residences“ oder „Königs-Quartier“, kaum noch Diskussionen aus: Das retrospektive Bauen scheint zunehmend im marktgerechten Zuschnitt aufzugehen. Es ist nicht zu übersehen, dass dabei das Moment der Retrospektive auch als stadträumliche Herstellung anachronistischer Gesellschaftsordnungen verstanden wird. Ausgehend von Verhältnissen, die längst keine Aktualität mehr besitzen (sollten), findet gerade durch die ständige baukulturelle Bezugnahme auf vergangene Epochen eine Entfremdung von Geschichte statt. Der architektonisch inszenierte Rückblick durch Bauten, die irgendwie dem Bild einer idealisierten Vergangenheit entsprechen, wird zum Dauerspektakel, die Simulation von historischer Wiederkehr erzeugt den Eindruck von Fremdbestimmung und Unausweichlichkeit.

Die ständige Verknüpfung der Immobilienobjekte und ihrer Umgebung mit der Narration einer idealisierten Vergangenheit zielt natürlich auf deren Wertsteigerung. Denn nicht das Gebäude an sich, sondern das Grundstück, seine Lage und die dazugehörige Erzählung sind wertgenerierend. Diese Form der Akkumulation ermöglicht es u.a. der Baubranche, die bereits bestehende Warenwelt aufzuwerten und erneut zu veräußern, ohne ihr im schöpferischen Sinne etwas hinzugefügt zu haben. Die treibenden Kräfte jener auf Wertigkeit durch historische Reminiszenz setzenden „Portfolioarchitektur“ sind in einigen wenigen Unternehmen konzentriert: Einschlägige Büros aus der konservativen (meist) Berliner Architekturszene wie Patzschke & Partner, Kahlfeldt Architekten, Hilmer, Sattler und Albrecht oder Nöfer Architekten. Sie kooperieren in der Regel mit Wohnungsbaugesellschaften wie der Ralf Schmitz GmbH oder Büros für Projektentwicklung und Bauträgerschaft wie der Groth Gruppe, Kondor Wessels oder der Aktiengesellschaft Bauwert. Sie realisieren an unzähligen Orten Berlins profane Investorenarchitekturen im historischen Gewand.

Dass auch die seit Dezember 2021 amtierende Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt mit dem von ihr bis zum Amtsantritt geführte Architekturbüro zu den Profitierenden dieser Entwicklung zählt, sorgte für ein Aufbegehren innerhalb der Berliner Architekt/innenschaft. Jene, denen entgangen ist, dass Kahlfeldts Fachkollege Tobias Nöfer, Zeichner des berüchtigten „Planwerk Innenstadt“ und ebenfalls gut im retrospektiven Baugeschäft verankert, die Koalitionsverhandlungen auf Seiten der SPD beratend begleitet hat, stellen sich bis heute die Frage, wie die konservative Architektin mit einem Spitzenposten innerhalb einer „rot-grün-roten“ Koalition unter Bausenator Andreas Geisel (SPD) zu vereinbaren ist.

Schulterschluss mit Rechtspopulisten

Bei ihrer ersten Feuertaufe am Molkenmarkt hat die Senatsbaudirektorin deutlich gemacht, dass von ihr auch als Politikerin keine Zugeständnisse an Planungs- und Verfahrensalternativen im Sinne einer sozialen und ökologischen Stadtentwicklungspolitik zu erwarten sind. Während unter ihrer Vorgängerin Regula Lüscher (seit 2007) allmählich klar zu werden schien, dass der autoritäre Politikstil eines Hans Stimmanns zu Recht der Vergangenheit angehört, wird Berlin nun von eben dieser Vergangenheit eingeholt: Mit ihrer Entscheidung, dass die weitere Planung des Molkenmarktes durch die Verwaltung gesteuert werden soll, nährt Petra Kahlfeldt die Befürchtung, dass nicht nur ein gestalterischer, sondern auch ein programmatischer und eigentumsrechtlicher Rollback ins Haus steht. In einem eigens dafür eingerichteten „Sonderreferat für die historische Mitte“ in der Senatsbauverwaltung soll nun mittels Masterplan und Gestaltungshandbuch eine „Charta Molkenmarkt“ entstehen, die dem aktuellen politischen Begehren stärker entspricht, als es die Ergebnisse des Wettbewerbs- und Werkstattverfahrens vermocht haben. Das entspricht einer Leitbildentwicklung, die ohne gesellschaftliche Relevanz und ohne öffentliche Diskussion auskommt, obwohl eine „Charta“ – ganz im Gegensatz zum „Planwerk“ – eigentlich höchsten gesellschaftlichen Konsens voraussetzt.

Diese Befürchtung speist sich auch aus Bildern, die seit dem skandalösen Verfahrensabbruch die Feuilletons zieren. Denn während sich Teile der aufgebrachten Fachwelt noch zu Protestaufrufen formieren, laufen Berliner „Altstadtfreunde“ zur Höchstform auf. Mit öffentlichkeitswirksamer Unterstützung einer erst im vergangenen Juli durch die 90-jährige Berlinerin Marie-Luise Schwarz-Schilling gegründeten „Stiftung Mitte Berlin“ setzen sich zahlreiche Stadtbildvereine wie Berliner Historische Mitte e.V., der Förderverein Bauakademie e.V., das Forum Stadtbild Berlin e.V., die Gesellschaft Historisches Berlin e.V., die Planungsgruppe Stadtkern oder Stadtbild Deutschland e.V. offensiv für eine Rekonstruktion des Molkenmarktes auf Grundlage eines Stadtgrundrisses aus den 1920er Jahren ein. Auf dem von jener Stiftung in der Parochialkirche organisierten „Mitte-Festival“ im Oktober 2022 wurden nicht nur für den Molkenmarkt, sondern auch für nahegelegene Grundstücke Vorschläge zum „Wiederaufbau von Berlins historischer Mitte“ präsentiert. In demonstrativer Einigkeit wurden dabei Forderungen nach „kleinteiliger Planung“ und „Bauherrenvielfalt“ als Synonyme für die Forderung nach der Privatisierung der Grundstücke verwendet.

Dass der Einfluss von Stadtbildvereinen nicht zu unterschätzen ist, weiß man nicht nur in Berlin. Das Stadtschloss und die künftige Errichtung der Berliner Bauakademie sind ebenso auf die Initiativen „gemeinnütziger“ Verbünde zurückzuführen wie Garnisonkirche und Stadtschloss in Potsdam, der Dresdner Neumarkt oder die neue Frankfurter Altstadt. Dass dabei die Grenzen des politisch Tragbaren mitunter fließend sind, machte u.a. der Skandal um die Großspende des rechtsextremen Mäzens Ehrhardt Bödecker für die Rekonstruktion der Berliner Stadtschlossfassade oder das Publikwerden jener fragwürdigen Koalition zwischen der „Bürgerinitiative Pro Altstadt e. V.“ und der rechtspopulistischen Wahlvereinigung „Bürger für Frankfurt“ (BFF) deutlich, auf deren Anregungen der Neubau der Frankfurter Altstadt zurückzuführen ist.

Im Berliner Stadtentwicklungsausschuss wiederum bekommt die neue Ausrichtung der Stadtentwicklungspolitik Zustimmung von CDU und AfD, während die Koalitionsparteien Grüne und Linke Kritik üben. So verteidigte im September 2022 der stadtentwicklungspolitische Sprecher der CDU, Stefan Evers, die Abwicklung des Verfahrens am Molkenmarkt mit Verweis darauf, dass dieses ohnehin von Beginn an „vermurkst“ gewesen sei. Und der stadtentwicklungspolitische Sprecher der AfD, Harald Laatsch, sprach sich für eine historisierende Gestaltung des Quartiers aus. Auch hier wird deutlich, dass die stadträumliche Herstellung anachronistischer Gesellschaftsordnungen nicht alleine einem architekturhistorisch verklärten Bildungsbürgertum zupasskommt, sondern auch der sogenannten Neuen Rechten und ihren reaktionären baukulturellen Strategien in die Hände spielt.

Parzellierung als Grundbaustein

Die Berliner Planungsverantwortlichen hingegen möchten von politischen Zuschreibungen architektonischer Fragen nichts wissen. Unbeirrt bemühen sich alte wie neue Protagonisten um die Berliner „Kernstadt“ und üben sich in Netzwerkbildung. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der „Planungsgruppe Stadtkern“. Mitglieder des 2011 gegründeten und wenig später mit dem „Bürgerforum Berlin e.V.“. fusionierten Netzwerkes sind Architekt/innen wie Petra Kahlfeldt, Tobias Nöfer und der 2022 verstorbene Bernd Albers, aber auch Stadtplaner und Historiker wie Harald Bodenschatz oder Benedikt Goebel. In ihrer 2015 veröffentlichten „Charta für die Mitte von Berlin“ referenzierte die Planungsgruppe ein gleichnamiges Dokument von 1990, in dem bereits die sogenannte „Gruppe 9. Dezember“ nicht nur die Anerkennung und Wiederherstellung historischer Straßenzüge und Plätze im Sinne der „kritischen Rekonstruktion“ gefordert, sondern auch die Parzelle als Grundbaustein des städtebaulichen Instrumentariums beschrieben hatte.

Auch am Molkenmarkt wird künftig um die Frage der Parzellierung gerungen werden – steht und fällt mit ihr doch die Möglichkeit zur Privatisierung der bisher für die Bebauung durch landeseigene Wohnungsbaugesellschaften vorgesehenen Fläche. Während das Wettbewerbs- und Werkstattverfahren noch in vollem Gange war und das Architekturbüro von Bernd Albers seinen kleinteiligen Bebauungsvorschlag auf Bitte des Preisgerichts hin sukzessive in eine Struktur mit größeren Gebäudeeinheiten und dadurch geringeren Bau- und Betriebskosten, flexiblerer Gebäudenutzung und einer großzügigeren Außenraumgestaltung überführen musste, forderte die „Planungsgruppe Stadtkern“ Parzellierung und Bauherrenvielfalt durch Privatisierung der Grundstücke am neuen Molkenmarkt. Auch Benedikt Goebel, Gründungsmitglied der Planungsgruppe und Vorstandsmitglied der neuen „Stiftung Mitte“ hat sich vielfach für die Privatisierung der Grundstücke auf Grundlage einer kleinteiligen Parzellierung („Bauherrenvielfalt“) ausgesprochen. 

Mit Blick auf den Molkenmarkt, besonders aber auch mit Blick auf eine mögliche Bebauung des Marx-Engels-Forums, gehen die Protagonist/innen sogar so weit, Restitutionsforderungen jüdischer Nachfahr/innen der durch die Arisierung enteigneten jüdischen Eigentümer/innen für eine kleinteilige Parzellierung des Geländes zu instrumentalisieren, die in dem Moment rechtskräftig würden, wenn das Areal in Bauland umgewandelt würde. Dieses in der „Planungsgruppe Stadtkern“ vor allem mit der Person Harald Bodenschatz verbundene Anliegen war auch auf dem „Festival Mitte“ ein abendfüllendes Programm, in Form einer Idealisierung des jüdischen Lebens im Vorkriegs-Berlin als „christlich-jüdische Blütezeiten“.

 

Verena Hartbaum ist Akademische Mitarbeiterin des Instituts für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) an der Universität Stuttgart.


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