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MieterEcho 432 / Mai 2023

Vom Bürger zur „Kund/in”

Die Organisation der Verwaltungen ist ein Spiegelbild gesellschaftlicher Machtverhältnisse

Von Karin Baumert

Wenn wir den Begriff der Verwaltungsreform hören, dann denken wir an Termine beim Bürgeramt. Freie Termine sind Glückssache. Aber eine Verwaltungsreform ist mehr. Gehen wir also auf Spurensuche.   

Eine Verwaltungsreform gab es bereits in den 1990er Jahren. Damals glaubte man, dass die kommunale Verwaltung effizienter arbeiten würde, wenn man sie an marktwirtschaftliche Organisationsstrukturen orientiert. Dahinter stand ein großes Heer an Berater/innen und natürlich die Wirtschaft. Für Investoren war es unerträglich, sich mit ihren Bauvorhaben in die Warteschlange in einem verstaubten Flur der Behörde einzureihen und abzuwarten, bis sie endlich aufgerufen wurden. Wenn man bedenkt, welche großen Bauvolumen die Mitarbeiter/innen einer Baubehörde zu genehmigen hatten, dann verwundert es nicht, dass häufig auch Geld angeboten wurde. Eine damalige Untersuchung des DIFU (Deutsches Institut für Urbanistik) ergab, dass in 80% der Baubehörden von den Investoren Geld nebenbei an die Bearbeiter von Baugenehmigungen gezahlt wurde, um in der Bearbeitungsschlange vorgezogen zu werden. Denn jeder Monat Wartezeit kostete die Investoren viel Geld. Das eigene Gehalt in der Behörde aufzubessern, schien mehr als logisch.

Aus dieser Perspektive heraus war die Bewertung einer Genehmigung als Produkt mit Kosten-Leistungsberechnung sinnvoll und überfällig. Aber konnte man deshalb alle Leistungen der Verwaltung als Produkte berechnen? Solange sich die Verwaltung als Dienstleister für Wirtschaftsakteure versteht, war die Verwaltungsreform der 1990er Jahre eine sinnvolle und einnahmenorientierte Zielvorstellung. Bei der Gelegenheit wurde allerdings jeder Verwaltungsvorgang als Produkt neu berechnet. So wurde die Sozialplanung in weiten Teilen abgeschafft. Einige werden sich noch daran erinnern, dass z. B. plötzlich Schulen fehlten. Denn die Stadt hatte in den geburtenschwachen Jahrgängen viele leerstehende Schulen geschlossen. Offenbar hatte niemand in der Verwaltung damit gerechnet, dass sich die Situation einmal ändert und tatsächlich Schulen fehlen könnten. Die Tatsache, dass dann geburtenstarke Jahrgänge auch wieder eingeschult werden, kam erst mit der Anmeldung der Erstklässler/innen wieder auf den Tisch der Verwaltung. 

Teilhabe nicht für alle

Der Abbau jeder Sozialplanungsstelle hatte einen blinden Fleck in der Verwaltung hinterlassen. Das war nicht nur eine Frage der Bezirke, sondern auch des Senates. Hier kann gut nachvollzogen werden, warum die 23 Bezirke zu 12 zusammengelegt wurden. Die Gentrifizierung vieler Berliner Stadtteile hatte zur Folge, dass Familien in andere Bezirke zogen, um eine preiswerte Wohnung zu bekommen. So entstanden aus den zum Teil nur von Kindern aus migrantischen Familien besuchten Schulen in Kreuzberg auf einmal neue zivilgesellschaftliche Elterninitiativen.

In allen Fragen des „gemeinsamen Standards“ für Stadtbewohner war die Spaltung der Stadt auch in den Schulen angekommen. Eltern übernehmen häufig diese Aufgaben. In der weiteren Entwicklung der Aufwertung und Verdrängung von Bewohner/innen aus ihren angestammten Kiezen wanderte dieses Problem durch Berlin und wird wohl mit dieser neuen Koalition endgültig Berlin verlassen. Preiswerte Wohnungen gibt es schon lange nicht mehr. Die letzten Sozialwohnungen werden allmählich abgeschafft.

Was bei Baugenehmigungen und Sondernutzungsgenehmigungen noch sinnvoll erscheint, wird bei Bildung, Gesundheit und Mobilität fraglich. Die in den 90er Jahren als Paradigmenwechsel in der Verwaltung begonnene Verwaltungsreform hält bis heute an. Die Widersprüche haben sich eher vergrößert. Denn eine Wirtschaftlichkeit im Gemeinwesen bedient die Wirtschaftsakteure, aber wo bleibt der Bürger? Der will seine bürokratischen Angelegenheiten regeln. Für viele Menschen sind aber die organisatorischen Fragen, wie polizeiliche Ummeldung bei Umzug in eine neue Wohnung oder die Verlängerung eines Personalausweises, viel mehr. Es geht auch um die Frage, wer in dieser Stadt ein Bürger dieser Stadt ist.

Eine polizeiliche Anmeldung ist z. B. eine Voraussetzung für die Beantragung von Sozialleistungen. Aber was ist mit den wohnungslosen Menschen? Auch für Arbeitsverhältnisse und andere Vorgänge, wie ein Konto eröffnen, schließt das Bürgeramt viele Menschen dieser Stadt aus. Nicht selten sind gerade diese Menschen auch die Arbeiter/innen, die die Drecksarbeit dieser Stadt illegal machen. Darum ist es keine sprachliche Raffinesse, wenn aus „Bürger/innen” die „Kund/innen” wurden. Teilhabe an der Gesellschaft und in dieser Stadt ist nicht für alle da. Das Bürgeramt als Dienstleister bleibt aber auch für die „Kund/innen” weit hinter den Erfordernissen zurück. Längst haben sich neue Akteure am Markt etabliert. Für jede Beantragung kann man einen kommerziellen Dienstleister beauftragen.

Da lohnt sich ein kleiner historischer Rückblick. Als sich die ersten Städte um Marktplätze herum organisierten, hatten die Bürger das Bedürfnis, gemeinsame Belange zu regeln. Das städtische Gemeinwesen ging alle an. Abgaben, Zölle, Stadtmauern, Straßenfluchten, Absprachen zur Bebauung, die gemeinsame Bewirtschaftung des Marktes, all das haben die Bürger miteinander besprochen. Bürger waren damals nicht alle Bewohner der Stadt, sondern die Händler. Im Laufe der Zeit hat das Gemeinwesen eine wechselvolle Geschichte erlebt. Als die Kommunarden in der Pariser Kommune das Rathaus besetzten, haben sie viele Dekrete erlassen für das Wohl und Zusammenleben der Stadtbewohner/innen. Ein kurzer Moment der Utopie war geboren.

Mit der Existenz zweier deutscher Staaten wurden Städte vergleichbar. Die Polikliniken in der DDR z. B. machten Gesundheit zum Gemeingut. In der BRD wurde die Gesundheit privatisiert. Und das ist auch der Kern der Verwaltungsreform. Bereits in den 80er Jahren machten sich in westeuropäischen Ländern vor dem Hintergrund zyklischer Krisen des Kapitals erste Konzepte breit, die den Staat und die Kommunen deregulieren wollten, Personal abbauen und öffentliche Aufgaben privatisieren. Scheinbar konnte der Markt alles besser und effizienter. Verwaltungen wirkten schwerfällig und wenig kundenorientiert.

Was wird für wen verwaltet?

Noch in den 70er Jahren gingen Bürger in der BRD auf die Straße, wenn ihre historische Stadt der autogerechten Planung zum Opfer fiel. Bürgerbeteiligung ging ins Städtebauförderungsgesetz als fester Teil der Planung ein. Bürgerinitiativen reformierten die Bildung, erste Kinderläden organisierten sich. Im Osten regelte der Staat eine flächendeckende Versorgung mit Kindergärten. Jedes Neubaugebiet hatte Richtlinien zur Versorgung der Bewohner mit Gemeingütern wie Kinderbetreuung, Bildung, Gesundheit und Altenfürsorge.

Auch wenn der einer breiten Kampagne geschuldete kommunale Rückkauf der Wasserversorgung als ein Erfolgsmodell gilt, kann daraus kein Trend abgelesen werden. Der Betrieb des Tesla-Werkes wird das Grundwasser gefährden. Diese Berechnungen hätten im Vorfeld der Baugenehmigung als „Abwägung öffentlicher Belange” prognostiziert werden können. Die Verwaltungsreform hat den Wirtschaftsstandort gefördert, Gemeingüter privatisiert und das Gemeinwesen als Servicepoint etabliert. Wer es sich leisten kann, wird in Berlin glücklich.

Aber das Gemeinwesen ist mehr als ein Servicepoint. Das gemeinsame Leben in einer städtischen Gesellschaft – nah und anonym zugleich – hatte schon immer diesen Hauch von Freiheit. Berlin hat damit geworben und ist gerade dabei, diese Duftmarke zu verspielen. Alles saniert und chic gemacht – es wird Zeit zu enteignen!

Es klingt zynisch, dass wir an der Verwaltungsreform ablesen könnten, in welcher Gesellschaft wir leben. Denn das sehen wir bereits täglich. Unsere Nachbar/innen werden zwangsgeräumt, weil sie keine Wohnung finden. Privatisierte Stadträume sind nicht für alle zugänglich. Geplant wird nur noch für die leistungsstarken Neumieter/innen. Gleichzeitig „funktioniert” die Bahn mit täglichen Pannen, das Ärztesystem ist überfordert, das Klima nicht mehr zu retten. Alles schreit nach Generalabrechnung.

Zurück in die Barbarei oder in die Hände gespuckt. Die zyklische und die allgemeine Krise des Kapitalismus sind längst zum Dauerzustand geworden. Aber wir leben gemeinsam in Berlin und lesen die Dekrete der Pariser Kommune, nachdem sie das Rathaus besetzten.

 

Karin Baumert ist Stadtsoziologin und politische Aktivistin.


MieterEcho 432 / Mai 2023