Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 430 / Februar 2023

Verdrängung droht an allen Ecken

Seit über zehn Jahren rollt eine Gentrifizierungswelle durch den Wedding – doch viele Basisinitiativen und Nachbarschaftsgruppen halten dagegen

Von Björn Tvätt

Der Wedding – manche lieben ihn, andere kennen ihn kaum. Fast 180.000 Einwohner/innen drängen sich in den Vierteln entlang von Müllerstraße, Badstraße und Seestraße am nördlichen Rand der Berliner Innenstadt. Lange Zeit war der nordöstliche Zipfel Westberlins vom realsozialistischen Osten eingekeilt und von der Westberliner Verwaltung vergessen. Seit einigen Jahren zeigt die Immobilienwirtschaft jedoch zunehmendes Interesse an diesem Bezirk. Die großen Industrieanlagen vom Anfang des 
20. Jahrhunderts, wie die einst größte Glühbirnenfabrik Europas in den Osram-Höfen oder die alten AEG-Werke am Humboldthain, boten über Generationen hinweg Arbeitsplätze für die Bewohner/innen und prägten ihn als Arbeiterbezirk. Doch diese Zeiten sind vorbei: Internationales Kapital drängt in die Stadt, um vermeintlich ungenutzte Flächen und Gebäude zu „aktivieren“ .

Laut den jährlich erscheinenden Wohnungsmarktreports von CBRE explodierten die Angebots-Kaltmieten im Wedding zwischen 2012 und 2022 um nahezu 100% von 6,40 Euro/qm auf 12,50 Euro/qm. Der IBB-Wohnungsmarktbericht konstatiert eine zunehmende Überbelegung von Wohnraum. Demnach sinkt der Wohnflächenverbrauch pro Einwohner/in, während die Anzahl der Personen pro Wohnung steigt. Zudem haben die vier Weddinger Bezirksregionen laut bezirklichen Daten aus dem Jahr 2021 die mit Abstand jüngste Bevölkerung Berlins. Zusammengenommen wird daraus eine typische Entwicklung der Gentrifizierung deutlich: Junge Menschen können nicht mehr aus dem elterlichen Heim wegziehen, weil sie keinen adäquaten Wohnraum finden.

Neben diesen statistisch belegbaren Veränderungen gibt es aber auch viel subtilere Folgeerscheinungen der vom Kapitalismus produzierten Wohnungsnot. Gerade in den Gründerzeitvierteln rund um die Sprengelstraße und Malplaquetstraße wird die Veränderung der letzten Jahre im Straßenbild deutlich sichtbar. Mehr und mehr schicke Cafés siedeln sich hier an, die an Friedrichshain, Kreuzberg oder Prenzlauer Berg erinnern. 

Breschen der Aufwertung

Neben einigen Straßen, die starker Veränderung unterliegen, entstanden auch zwei herausragende Kulturstandorte. Einerseits das Areal „Silent Green“ am Nettelbeckplatz, welches im ehemaligen Westberliner Krematorium entstand und nun einen Kultur- und Veranstaltungscampus mit internationaler Reichweite beherbergt. Andererseits gibt es bereits seit 2007 das ehemalige BVG-Areal an der Uferstraße, dass sich in die Uferhallen und die Uferstudios aufteilt und ebenfalls ein internationales, an moderner Kunst interessiertes Publikum anzieht. Beide Areale waren städtische Grundstücke, die privatisiert wurden. Doch es ist nicht sicher, ob beide eine ähnliche Rolle bei der Aufwertung des Bezirks einnehmen werden. Bereits 2016 konnten in direkter Nachbarschaft des Silent Green erste hochpreisige Eigentumswohnungen im Projekt „GreenView“ bezogen werden. Es folgten im gegenüberliegenden Postamt hochpreisige Co-Working Spaces der Branchengröße „Unicorn“, ein Sterne-Restaurant wenige Häuser weiter sowie teure Cafés rund um den Nettelbeckplatz. Hier ist die Gentrifizierungsmaschine in vollem Gange.

Währenddessen stehen solche Entwicklungen bei den Uferhallen noch aus. Anders als beim Silent Green fand ein teurer Umbau bisher nicht statt. Die Mieten sind noch bezahlbar. Doch dies könnte sich bald ändern, geht es nach den Plänen der neuen Eigentümergesellschaft „Augustus Capital“, die auf dem Areal teure Eigentumswohnungen und Büros bauen will. Derzeit befindet sich das Projekt in einem Bebauungsplanverfahren. Die Bebauung gänzlich zu verhindern, scheint derzeit in weiter Ferne zu liegen. Erst im Herbst des vergangenen Jahres kündigte der Investor öffentlich an, auf Grundlage bereits erteilter Baugenehmigungen und schon vor Abschluss des Bebauungsplanverfahrens mit den Bauarbeiten starten zu wollen. Anders als beim Silent Green gibt es für die Uferhallen jedoch eine kritische Öffentlichkeit. Das Beteiligungsverfahren wurde überhaupt erst gestartet, weil einige der betroffenen Künstler/innen und ihr Verein „Uferhallen e.V.“ Druck auf den Bezirk ausübten. Darüber hinaus gibt es zwischen einem Teil der Künstler/innen und Nachbarschaftsinitiativen, wie der Kiezkommune Wedding, eine Diskussion darüber, was die Umgestaltung des Areals auch für die umliegenden Straßen bedeutet.

Eine Besonderheit des Wedding stellt sicherlich seine hervorragende Lage in Bezug auf die Anbindung an mehrere Hochschulen dar. So sind die Humboldt-Universität und die Technische Universität innerhalb von 10 Minuten mit der U-Bahn zu erreichen. Die Berliner Hochschule für Technik (ehemals Beuth-Hochschule) liegt direkt im Bezirk. Diese schnelle Anbindung und die lange Zeit günstigen Mieten machen den Bezirk besonders für junge Studierende attraktiv. Mitte der 2010er Jahre entstanden an verschiedenen Orten im Wedding mehrere Anlagen mit zusammen rund 1.800 Wohneinheiten, die vermeintlich speziell für Studierende konzipiert wurden. Dabei handelt es sich um voll möblierte Mikro-Apartments zwischen 20 und 30 qm, die als Renditeobjekte einzeln verkauft und dann treuhänderisch durch private Projektentwickler verwaltet werden. Als prominentestes Beispiel galt seinerzeit „Campus Viva II“ in der Koloniestraße, welches unter dem Motto „Mein Sohn will zum Studieren nach Berlin, ich zum Investieren.“ zahlungskräftige Investoren anwarb. Doch schlussendlich dienen diese Wohnungen eher als kurzfristige Unterbringungsmöglichkeit für zahlungskräftige Neuberliner/innen, die in die Stadt strömen, um in der viel umworbenen Start-up-Szene kurzfristige Anstellungen zu finden.  

Blickt man zurück, finden sich auch in der Geschichte des Wedding viele einschneidende städtebauliche Umstrukturierungen. Diese sind keine Besonderheit, sondern prägen viele Viertel des sogenannten „Wilhelminischen Mietskasernenrings“. Weite Teile des Stadtteils Gesundbrunnen und der Quartiere rund um den Leopoldplatz entstanden in dieser Epoche der Industrialisierung. Durch die starke Zerstörung im Zweiten Weltkrieg folgten in vielen Teilen großangelegte Sanierungsprojekte des Wohnhausbestands, so zum Beispiel im Brunnenviertel. Diese stadtplanerischen Eingriffe bestehen bis heute. Erst im vergangenen Oktober erließ der Berliner Senat ein neues Sanierungsgebiet rund um die Badstraße, nahe der Bahnstation Gesundbrunnen. Über Intentionen und Auswirkungen von Sanierungs- und Milieuschutzgebieten sowie der Eröffnung von Quartiersmanagements auf die Gentrifizierung ließe sich sicherlich ein ganzes Buch schreiben. Bislang festzustellen ist jedoch, dass die eingeleiteten städtebaulichen Maßnahmen zur Aufwertung der Wohnqualität vielfach stärker zur Verdrängung beitrugen, als Sozialpläne zum Erhalt der bestehenden Nachbarschaften bewirken konnten.

Lebendige Netzwerke halten dagegen

Neben der Vielzahl von negativen Veränderungen in den vergangenen Jahren gibt es aber auch ein lebendiges Netzwerk von Nachbarschafts- und Mieter/inneninitiativen, Kiezläden und anderen basispolitischen Gruppen im Bezirk, welches seinen Teil dazu beitragen konnte, dass im Wedding eben doch noch nicht alles verloren ist. Viele dieser Initiativen eint, dass sie sich neben dem Wohnen auch anderen (sozial-)politischen Themen widmen und so dauerhafte nachbarschaftliche Netzwerke aufbauen konnten. Vorreiter ist sicherlich die seit 2012 bestehende Stadtteilorganisation „Hände weg vom Wedding“. Ferner entstanden in den letzten Jahren mehrere unabhängige und sozialistisch geprägte Nachbarschaftszentren wie das Kiezhaus Agnes Reinhold, das internationalistische Büro, die unabhängige Hartz IV-Beratungsstelle von Basta! oder das Nachbarschaftsbüro Kommune65 der Kiezkommune Wedding. Diese Gruppen schufen aber nicht nur offene Anlaufstellen, sondern wirken mit der eigenen Stadtteilzeitung Plumpe in den Kiez hinein. Auf diese Netzwerke und deren mehr als zehnjährige Organisierungserfahrung im Bezirk können neue Nachbarschaftsinitiativen stets zurückgreifen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass auch eines der größten und beständigsten Kiezteams der Kampagne „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ im Wedding entstand. Auch konnten in der Vergangenheit Hausgemeinschaften, wie die „Amma65“ in der Malplaquestraße oder die „Kolonie10“ in der Koloniestraße, Erfolge im Kampf gegen Verdrängung und ihre Hausbesitzer erringen. Die Erfolge zeigen: Widerstand lohnt sich, und das letzte Wort um die Zukunft des Bezirks ist noch nicht gesprochen. 

 

Björn Tvätt ist Mitglied in der Kommission für Wohnen der Kiezkommune Wedding, regelmäßiger Autor der Stadtteilzeitung Plumpe und seit vielen Jahren in politischen Kämpfen im Wedding und darüber hinaus aktiv.


MieterEcho 430 / Februar 2023

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