Rüstzeug für den Widerstand
Neue Ausgabe der „Berliner Hefte zur Geschichte und Gegenwart der Stadt“ erschienen
Von Peter Nowak
Der Berliner Immobilienmarkt boomt weiter, Menschen werden aus ihren vertrauten Lebenszusammenhängen verdrängt. Wohn-, Arbeits- und Gewerberäume dienen Immobilienkonzernen, Investmentfonds und anonymen Eigentümer/innen als Anlageobjekte. „Doch wer sind die tatsächlichen Akteur/innen hinter der Ökonomisierung des städtischen Lebens? Was ermöglicht ihr Handeln – und wie lässt es sich politisch und gesellschaftlich kontrollieren und durchkreuzen?“
Diese zentralen Fragen stellen verschiedene Autor/innen in der aktuellen 11. Ausgabe der „Berliner Hefte zur Geschichte und Gegenwart der Stadt“. Die Herausgeber/innen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die sozialen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen in Berlin und anderen Städten zu analysieren und zu kritisieren. Die Hefte bieten Informationen über die Berliner Immobilienbranche und ihre Verflechtung mit der Politik, die auch für Menschen nützlich sind, die von diesen Praktiken betroffen sind und sich dagegen wehren wollen. Denn dafür ist es notwendig und wichtig, über Eigentumsverhältnisse auf dem Berliner Immobilienmarkt informiert zu sein.
Und das leisten die Berliner Hefte in einer größtenteils allgemein verständlichen Sprache. In der 9. Ausgabe stand die Europacity am Berliner Hauptbahnhof im Zentrum (siehe MieterEcho 428). In der aktuellen Ausgabe mit dem kurzen und prägnanten Titel „X Properties“ liefern die Autor/innen anschauliche Beispiele für die kapitalistische Landnahme in unterschiedlichen Berliner Stadtteilen.
Schon in der Einleitung wird deutlich, dass die Texte aus der Perspektive der Menschen geschrieben wurden, die von den Immobilienfirmen verdrängt werden sollen. „Es war in den letzten Dezembertagen 2019, als das Gerücht die Runde machte, das Gewerbegebäude in der Oranienstraße 25 habe eine neue Eigentümerin. Im Laufe weniger Tage bestätigte ein Schreiben der Hausverwaltung, dass von der Berggruen Holding, die schon zuvor durch ihre Geschäftspraktiken zur starken Belastung für Mieter/innen und Anwohner/innen geworden war, das Gebäude an die Victoria Immo Properties V S.a.r.l. mit Sitz in Luxemburg verkauft wurde“. So schildern Jörg Franzbecker und Naomi Henning den Beginn einer Geschichte, die in den Jahren 2020/21 zu zahlreichen Protesten und Kundgebungen geführt hat.
Betroffene kommen zu Wort
Unter dem Motto „Kisch & Co bleibt“ kämpften sie für den Erhalt des bekannten Buchladens in der Oranienstraße 25. Das Ziel konnte nicht erreicht werden. Aber der Buchladen konnte in der Straße bleiben und fand ganz in der Nähe ein neues Domizil. Weniger bekannt ist, dass auch weitere Projekte und Mieter/innen, darunter die neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) ihre Räume in dem Haus verloren haben. So kann konstatiert werden, dass hier ein weiterer, gewachsener Ort linker Kultur in Berlin-Kreuzberg verloren gegangen ist. In den Räumen des Buchladens ist nun zur Zwischennutzung ein Humana-Shop eingezogen. Das fast leere Gebäude wird rund um die Uhr von einem privaten Sicherheitsdienst bewacht.
Naomi Hennig widmet sich mit Pandion einem weiteren in Berlin expandierenden Immobilienkonzern. Es geht dabei um die The Shelf und The Grid benannten Büroneubauten am Moritzplatz. „Die für das Thema der Finanzialisierung entscheidende Nachricht ist, dass sowohl The Shelf als auch The Grid 2020 durch den Vermögensverwalter DWS – dessen Hauptaktionär die Deutsche Bank ist – erworben wurde. The Shelf ging an einen geschlossenen DWS-Fond – während The Grid nun Teil des Portfolios eines offenen Immobilien-Publikumsfonds der DWS mit dem fantasievollen Namen Grundbesitz Europa ist.“
Hier wird die oft mit dem technischen Begriff Finanzialisierung versehene private Aneignung in Berlin gut analysiert. Aber es wird erfreulicherweise auch den davon Verdrängten Raum gegeben, ihre Positionen dazustellen. Dazu gehört Christian vom Syndikat-Kollektiv. Die Neuköllner Kiezkneipe in der Weisestraße wurde im August 2020 mit einem großen Polizeieinsatz geräumt und steht seitdem leer. Christian beschreibt, wie er und seine Mitstreiter/innen auf der Suche nach den Eigentümern auf die Pears Global gestoßen sind, eine Luxemburger Briefkastenfirma. Das Syndikat hat ihre Recherche öffentlich gemacht. Dadurch erfuhren auch andere Mieter/innen verschiedener Häuser in Berlin, wer die ihnen bisher unbekannten Eigentümer sind.
Es gab darauf im Sommer 2020 mehrere gemeinsame Aktionen von Mieter/innen aus Pears Global-Häusern. Dazu gehörte auch das sogenannte Luftbrückenhaus in der Oderstraße in Neukölln. Viele der älteren Mieter/innen dieses Gebäudes hatten vorher nie etwas von der alternativen Kiezkneipe Syndikat gehört. Doch am Vorabend der Räumung standen auch mehrere Aktive der Initiative „LeineOder bleibt“, in der sich die Bewohner/innen zusammengeschlossen hatte, mit Transparenten in der Weisestraße und forderten den Erhalt des beliebten Lokals. Sie waren dem Kneipenkollektiv dankbar, dass durch deren Recherche auch „ihr“ Eigentümer frühzeitig bekannt wurde und sie sich wehren konnten. Tatsächlich profitierten die Mieter/innen des Luftbrückenhauses später vom Vorkaufsrecht, das der Bezirk Neukölln im Mai 2020 zu ihren Gunsten ausübte. Auch das Syndikat hat mittlerweile in Neukölln wieder Räumlichkeiten gefunden.
Sehr informativ ist auch die historische Recherche, mit der Florian Wüst die Geschichte des Millionengrabs Steglitzer Kreisel rekonstruiert. Das desaströse Projekt macht noch immer Schlagzeilen. „Zuletzt in Verbindung mit der wirtschaftlichen Schieflage und dem dubiosen Geschäftsgebaren des börsennotierten Immobilienkonzerns Adler Group und dessen Tochtergesellschaft Consus Real Estate, welche die CG-Gruppe 2017 sukzessive übernommen hat“, schreibt Wüst. Der Gründer dieser CG-Gruppe ist jener Christoph Gröner, der kürzlich wieder in die Schlagzeilen geriet, weil er angeblich eine hohe Parteispende an die CDU mit der Bedingung verband, den Berliner Mietendeckel im Interesse seiner Aktionäre zu gestalten (siehe Artikel Alte Tradition in diesem MieterEcho).
Spekulation kein neues Phänomen
Doch Wüst geht in seinem Artikel auch auf heute kaum noch bekannte Details des Steglitzer Kreisels ein. „Vor dem Hintergrund explodierender Kosten – von ursprünglich veranschlagten 80 Millionen auf geschätzte Baukosten von 324 Millionen D-Mark im Jahr 1973 – und dem Scheitern eines weiteren finanziellen Engagements des Senats meldete die Avalon im April 1974 Konkurs an. Der Senat musste bürgen und war fortan im Besitz einer gigantischen Bauruine.“
Hier wird deutlich, dass das Investoren-Monopoly in Berlin nicht erst vor 20 Jahren begonnen hat. Die Rolle, die heute ein Christoph Gröner und Co. spielen, nahm vor über 50 Jahren unter anderem Sigrid Kressmann-Zschach ein. Die politisch gut vernetzte Bauunternehmerin und Architektin wurde in den 1970er Jahren zur Personifizierung kapitalistischer Stadtentwicklung, was heute weitgehend vergessen ist. Es ist ein Verdienst der Berliner Hefte, hier aktuelle und historische Entwicklungen zusammengebracht zu haben.
Das Heft komplettieren Texte von Louis Moreno, Raquel Rolnik sowie dem Duo Isadora Guerreiro/ Paula Freiro über die Immobilienspekulation in London und New York. Sie betten die Debatte um die Kapitalverhältnisse in Berlin in einen internationalen Zusammenhang ein, der nötig ist, um sie zu verstehen. Dabei geht Moreno auch darauf ein, wie diese Prozesse die Individuen beeinflusst, beispielsweise durch Dauerwerbung an Litfaßsäulen, Plakatwänden und in Laufschriften, die mittlerweile in den Innenstädten nicht mehr wegzudenken sind. Am Ende landet die Autorin bei den iPhones, und erklärt an diesem Beispiel die Veränderungen im Kapitalismus.
Die Beiträge in den Berliner Heften sind jedenfalls ein gutes Beispiel für eine fundierte Recherche aus der Perspektive der Opfer der profitgetriebenen Verdrängung. Neben den anregenden Texten sollen auch die zahlreichen Fotos in der Ausgabe nicht unerwähnt bleiben, die die sehr vielfältigen Protestbewegungen gegen den Ausverkauf der Stadt an das Immobilienkapital dokumentieren.
X Properties
Joerg Franzbecker, Naomi Hennig, Florian Wüst
Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart
der Stadt #11
ISBN: 978 3946674108, 7 Euro, 155 Seiten
Veranstaltungsempfehlung: Lesung gegen Pandion und Co.
Sa., 8. Juli 2023, 17:00 – 19:00 Uhr | Bürgergarten Laskerwiese, Persiusstr/Laskerstr, 10245 Berlin
Es laden ein die Stadtteilinitiativen Wem gehört der Laskerkiez? und Wir bleiben alle Friedrichshain
unterstützt von der Bezirksgruppe Friedrichshain der Berliner MieterGemeinschaft.
MieterEcho 433 / Juni 2023