Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 433 / Juni 2023

Paradebeispiel für Spekulation und Vertreibung

In der Jagowstraße 35 wehren sich Mieter/innen gegen den Verfall und den drohenden Abriss ihrer Wohnungen

Von Rainer Balcerowiak

Unter den vielen Horrorgeschichten, die die Berliner Wohnungspolitik stetig produziert, ist der Fall der Jagowstraße 35 in Moabit aktuell wohl eine der gruseligsten. Der Altbau befindet sich im Westfälischen Viertel in Berlin-Moabit unweit der Spree, einer sehr begehrten Wohnlage, die trotz weit fortgeschrittener Gentrifizierung noch immer große Aufwertungspotenziale für Eigentümer bietet. In den vergangenen Jahren hat das Haus mehrfach den Besitzer gewechselt. Aktueller Eigentümer ist eine am Kurfürstendamm residierende GmbH, deren beide Geschäftsführer aus der Unterhaltungs- und Eventbranche bekannt sind.    


Mit der Immobilie haben sie einiges vor. Das Vorderhaus, für das ursprünglich eine Aufstockung geplant war, soll nunmehr abgerissen werden, das Antragsverfahren läuft seit einiger Zeit. Einige der verbliebenen Mieter/innen – insgesamt stehen in dem Komplex bereits 17 von 31 Wohnungen leer – wehren sich gegen diese Pläne und werden dabei vom Moabiter „Runden Tisch gegen Gentrifizierung“, einigen Bezirkspolitikern und Anwälten sowie neuerdings auch von einem gegenüber liegenden Hausprojekt in der Jagowstraße 12 tatkräftig unterstützt.

Was die Bewohner/innen des Hauses in der jüngeren Vergangenheit erlebt haben, spottet jeder Beschreibung. Seit Jahren klagen sie über Wasserflecken, Risse an den Hauswänden, Schimmelbildung, Schädlingsbefall und andere gravierende Missstände. Auch der gesetzeswidrige Leerstand vieler Wohnungen wurde immer wieder angezeigt. Inzwischen sind Teile des Hinterhauses weitgehenden „entkernt“, von den Zimmerdecken blieben nur noch die Balken übrig. Und im Vorderhaus führte ein großer Wassereinbruch zu immensen Schäden in einigen Wohnungen. Doch weder die zuständige Bauaufsicht, noch die Verantwortlichen in der Bezirkspolitik haben etwas unternommen. Es kam zwar im März 2022 zu einer Begehung durch die Wohnungsaufsicht, bei der aber laut dem zuständigen Baustadtrat Ephraim Gothe (SPD) keine gravierenden Mängel festgestellt wurden.

Bezirksamt blieb untätig

Auch die für die Unterbindung von Zweckentfremdung von Wohnraum – zu der auch der Leerstand gehört – zuständige Abteilung des Bezirks sah der Entwicklung tatenlos zu. Vielmehr wurde sogar eine Leerstandsgenehmigung bis Ende 2024 erteilt, da der Eigentümer umfangreiche Sanierungen angekündigt hatte. Dies wurde aber nicht – wie eigentlich vorgeschrieben – regelmäßig überprüft, und nach Aussagen von Bewohner/innen haben entsprechende Arbeiten schlicht nicht stattgefunden.

Worauf der Eigentümer hinaus will, ist inzwischen klar. Er hat im August 2022 einen Abrissantrag gestellt, der genehmigt werden müsste, wenn es sich um Wohnraum handelt, der aufgrund seines Zustands als „nicht mehr schützenswert“ eingestuft wird. Diese Einstufung würde den Eigentümer auch von der Verpflichtung befreien, bezahlbaren Ersatzwohnraum zu schaffen. Bei einer erneuten Begehung am 17. August 2022, bei der es eigentlich um die Beeinträchtigungen durch die Baustelle gehen sollte, wurde nach Aussagen der Bewohner/innen aber gezielt nach Mängeln in den Wohnungen gesucht, die die Einstufung als „nicht schützenswert“ untermauern sollten. Es gab auch keinerlei Anstalten, festgestellte Mängel zu beseitigen.

Doch die Bauverwaltung bezeichnete diese Darstellung in der Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Grünen-Abgeordneten Katrin Schmidberger und Jian Omar als „grob sachwidrig“. Die Mitarbeiter des Bau- und Wohnungsaufsichtsamtes seien „unparteiisch auf der Grundlage des Wohnungsaufsichtsgesetzes Berlin sowie der Bauordnung Berlin tätig.“  Omar zog gegenüber dem Tagesspiegel ein bitteres Fazit: „Leider scheint die Taktik aufzugehen, dass intakter Wohnraum unter dem Deckmantel einer Modernisierung zerstört wird und Leerstand produziert wird, um dann einen Abriss genehmigt zu bekommen.“ In dem Haus gehe es um die höchstmögliche Verwertung einer Immobilie auf Kosten der Mieter/innen.

Die Bezirksbürgermeisterin von Mitte, Stefanie Remlinger (B90/Grüne), äußerte bei mehreren Treffen zwar ihre „Betroffenheit“ und Verständnis für die Situation der Mieter/innen und sagte zu, die Leerstandsgenehmigung und auch den Abrissantrag nochmals überprüfen zu lassen, doch das blieben warme Worte. Im April 2023 erklärte sie auf einer Sitzung des zuständigen Ausschusses der Bezirksverordnetenversammlung (BVV), eine Rücksprache mit dem Rechtsamt des Bezirks habe ergeben, dass es keine erfolgversprechende Handhabe gebe, um den geplanten Abriss auf dem Rechtsweg zu verhindern. Der entsprechende Antrag werde derzeit weiterhin geprüft.

Laut einer Bewohnerin sehen das die inzwischen in der Angelegenheit aktiven Anwälte aber deutlich anders. Sie haben beim Bezirk Akteneinsicht über die mit dem Haus in Verbindung stehenden Vorgänge verlangt, was ihnen aber trotz der dafür vorgesehenen eindeutigen Fristen bislang verweigert wurde. Die Anwälte verweisen laut der Bewohner/innen darauf, dass es – anders als vom Rechtsamt des Bezirks bislang behauptet – eben keine eindeutige „fortlaufende Rechtsprechung“ zu dieser Frage gebe.  

Für die verbliebenen Bewohner/innen ist das eine unerträgliche Situation. Dabei geht es nicht nur um die Baumaßnahmen und die Mängel, sondern vor allem um die Angst, die Wohnung zu verlieren und angesichts der Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt auch keinen adäquaten Ersatzwohnraum finden zu können. Doch sie geben nicht auf und setzen weiter auf möglichst große Öffentlichkeit für diesen eklatanten Fall von profitgetriebener Vertreibung. 

Rückenwind bekommen sie auch aus der BVV. Die beschloss am 25. Mai einstimmig einen gemeinsamen Antrag der Grünen und der Linken zur Jagowstraße 35. 

In dem Antrag heißt es: „Das Bezirksamt wird ersucht, für die Wohngebäude der Jagowstraße 35 (Vorder-, Seiten- und Hinterhaus), die von den Eigentümern seit Jahren zunehmend leer stehen gelassen oder absichtlich in unbewohnbaren Zustand gebracht werden, obwohl die Grundsubstanz aller Gebäudeteile in einem statisch soliden und guten Zustand ist (...) eine Treuhänderin einzusetzen, um die dort immer noch wohnenden 21 Mieter/innen zu schützen, alle Mängel der bewohnten Wohnungen nachhaltig zu beseitigen und die leer stehenden Wohnungen endlich wieder in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen und dem Wohnungsmarkt wieder zuzuführen“.  

BVV fordert Treuhänderlösung

Die Treuhänderin soll eine der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften sein. Des Weiteren wird das Bezirksamt ersucht, durch die Bauaufsicht spätestens in einem Monat und dann in regelmäßigem Abstand mindestens alle drei Monate zu kontrollieren, „inwiefern der Eigentümer die Baumaßnahmen vornimmt, die als Bedingung für die Leerstandsgenehmigung aufgeführt sind, um die Wohnungen wieder einem bewohnbaren Zustand zuzuführen.“ 

Zur Begründung wird angeführt, dass die leerstehenden Wohnungen in der Jagowstraße 35 dem Verfall preisgegeben werden „oder sogar vorsätzlich durch Entkernung (Entfernen der Dielen, sowie der Sand- und Lehmeinschübe mehrerer Decken) in einen unbewohnbaren Zustand versetzt wurden“. Defekte Rohrleitungen seien seit Jahren nicht repariert, Wasserschäden nicht behoben worden, und „die Wärmedämmung von bewohnten Wohnungen wurde zumindest grob fahrlässig beschädigt“.

Martha Kleedörfer, Sprecherin für Wohnen und Verkehr der Linksfraktion in der BVV Mitte, bekräftigte gegenüber MieterEcho die Forderung nach einer Treuhandlösung. „Die Eigentümer der Jagowstraße 35 haben bislang keine Bereitschaft gezeigt, die leerstehenden Wohnungen wieder zu vermieten – im Gegenteil, wir vermuten, sie haben die Wohnungen vorsätzlich verfallen lassen“. Die Treuhänderin müsse eingesetzt werden, um die Wohnungen wieder in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen und zu vermieten. „Selbstverständlich müssen die Eigentümer für diese Kosten aufkommen. Bezahlbarer Wohnraum in Berlin ist zu wertvoll, als dass wir ihn verantwortungslosen Eigentümern überlassen können." Man sehe nun das „Bezirksamt in der Pflicht, die entsprechenden Schritte zur Umsetzung des Antrags einzuleiten“. 

Allerdings hat die BVV keine Handhabe, das Bezirksamt zu zwingen, diesen Beschluss tatsächlich umzusetzen. Und bislang machen weder Bezirksbürgermeisterin Remlinger noch Baustadtrat Gothe Anstalten, in dieser Richtung tätig zu werden. Daher soll der öffentliche Druck in dieser Angelegenheit aufrechterhalten werden.  


MieterEcho 433 / Juni 2023

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