Metropole mit dysfunktionaler Verwaltung
Die besondere Rolle der Stadtbezirke in der „zweistufigen Verwaltung“ ist eine Altlast aus der Bildung von Groß-Berlin im Jahr 1920
Von Rainer Balcerowiak
Die Berliner Verwaltung hat einen denkbar schlechten Ruf. Nicht nur in der Stadt selbst, sondern weit darüber hinaus gilt sie nahezu als Inbegriff mangelnder Effektivität, chaotischer Prozessabläufe und digitaler Rückständigkeit. Einigermaßen zeitnahe Termine in den Bürgerämtern, etwa zur Ausstellung oder Verlängerung von Dokumenten, sind ein rares Gut und auch die Bearbeitungszeit vieler Anträge sorgt mitunter für Kopfschütteln. Zwar gehören Forderungen nach durchgreifenden Verwaltungsreformen seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire aller Parteien, doch entsprechende Vorstöße blieben oftmals Stückwerk oder versandeten in den parlamentarischen und parteipolitischen Mühlen.
Die Ursachen für die anhaltende partielle Dysfunktionalität der Berliner Verwaltung sind vielfältig. Phasenweise wurde die Verwaltung besonders in den Bezirken regelrecht kaputtgespart und aktuell leiden viele Bereiche unter großem Personalmangel. Doch bei einer genaueren Betrachtung stößt man immer wieder auf ein tieferliegendes, strukturelles Problem, das seine Wurzeln bereits in der Gründung von Groß-Berlin im Oktober 1920 hat.
Mit dem „Groß-Berlin-Gesetz“ wurden nicht nur sechs bislang kreisfreie Städte (Lichtenberg, Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf, Neukölln und Spandau) eingemeindet, sondern aus den umliegenden Kreisen auch 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke. Die Einwohnerzahl Berlins verdoppelte sich dadurch auf 3,8 Millionen. Als neue Verwaltungseinheiten wurden 20 Stadtbezirke gebildet, denen einige weitreichende Kompetenzen eingeräumt wurden, als Preis für deren Zustimmung zur Eingliederung. Daraus entwickelte sich eine deutschlandweit einmalige Form der „zweistufigen Verwaltung“, die sich bis zum heutigen Tag im Spannungsfeld zwischen bezirklicher Selbstverwaltung und gesamtstädtischer Planung bewegt.
Stadtbezirke sind Zwitterwesen
Diese Organisationsform wurde nach der Zerschlagung des Faschismus durch die vier alliierten Siegermächte im Prinzip weitergeführt. Im Ostteil der Stadt, also der Hauptstadt der DDR, spielte das in Bezug auf eigene Kompetenzen der Bezirke keine wesentliche Rolle, es galt das Primat der gesamtstädtischen Planung. In Westberlin entstanden jedoch kleine „Fürstentümer“, mit sorgfältig abgesteckter Posten- und Pfründevergabe. Nach der Wiedervereinigung der Stadt wurde dann alles dem „Westberliner Muster“ angepasst. 2001 erfolgte schließlich die „große Bezirksreform“. Aus inzwischen 23 Stadtbezirken – im Osten der Stadt waren die großen Neubaugebiete Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen zwischen 1979 und 1986 als neue Stadtbezirke konstituiert worden – wurden 12, teilweise durch Zusammenlegungen über die alten Sektorengrenzen hinweg, wie Mitte und Kreuzberg-Friedrichshain.
An dem Charakter der Stadtbezirke als Zwitterwesen änderte dies nichts. Zum einen verfügen sie über ein gewähltes „Parlament“, die Bezirksverordnetenversammlung (BVV), und eine Art „Bezirksregierung“, das Bezirksamt, dessen Zusammensetzung proportional zu den bezirklichen Wahlergebnissen erfolgt. Also nicht in Form einer „Koalition“, sondern als Kollegialgremium. An der Spitze stehen Bezirksbürgermeister/innnen, die von der BVV gewählt werden. Dazu gehören ferner fünf Bezirksstadträt/innen, die für einzelne Ressorts wie Schule, Jugend, Stadtentwicklung, Bürgerdienste etc. verantwortlich sind.
Eine formale Qualifikation ist für diesen Job nicht zwingend erforderlich, die Ernennung erfolgt nach Parteienproporz und nicht auf Basis einer Ausschreibung. Ihnen nachgeordnet sind die jeweiligen Fachämter. Anders als Senator/innen sind die Mitglieder der Bezirksämter Beamte auf Zeit, und zwar für die Dauer der Legislaturperiode, in der sie gewählt wurden. Und da durch die Wahlwiederholung im Februar die laufende Legislaturperiode nicht beendet wurde, erhalten jene Bezirksbürgermeister/innen und Stadträt/innen, die den Bezirksämtern aufgrund veränderter politischer Mehrheitsverhältnisse nicht mehr angehören werden, ihre vollen Bezüge bis zum Ende der Wahlperiode im September 2026 – immerhin zwischen 9.000 und 11.000 Euro pro Monat.
Im Kern sind Bezirksamt und BVV jedenfalls Verwaltungsbestandteile und keine Organe selbstständiger Gebietskörperschaften, wie etwa Gemeindevertretungen. Sie haben auch keine kommunalen Steuereinnahmen, ihre Etats speisen sich in erster Linie aus Zuwendungen aus dem Landeshaushalt. Sie können auch keine Kredite aufnehmen. Bei Unterdeckung des Haushalts und entsprechenden „roten Zahlen“ greift die Finanzaufsicht des Landes, die sämtliche Ausgaben eines Bezirks auf gesetzliche Pflichtaufgaben beschränken kann. Generell müssen die Bezirkshaushalte der Landesebene zur Genehmigung vorgelegt werden.
Zwar gelten alle Verwaltungsorgane der Bezirke als „nachgeordnet“, dennoch führen die entwickelten Parallelstrukturen von Land und Bezirken zu erheblichen Problemen. Das betrifft unter anderem die Bearbeitung von Bauanträgen und Aufstellung von Bebauungsplänen, die zunächst den Bezirken obliegen – die entsprechende Vorhaben mitunter erheblich blockieren. Und das gilt nicht nur für den Wohnungsbau. Gerne werfen sich die Bezirke auch gegenseitig Knüppel in die Speichen, wenn es etwa um bezirksübergreifende Areale geht.
Auch Aufgaben des Schulträgers werden von den Bezirken übernommen. Ihnen obliegt die Verwaltung und Unterhaltung der äußeren Schulangelegenheiten der allgemeinbildenden Schulen. Dazu gehört die Zuständigkeit für Bau, Ausstattung und Unterhaltung, die Einrichtung von Klassen und die Zuweisung von Schüler/innen. Sie decken den Sachbedarf, stellen das Verwaltungspersonal, sind für die laufende Verwaltung der Schulen verantwortlich und müssen die Kosten für Lehrmittel übernehmen. Die „inneren“ Schulangelegenheiten fallen dagegen in die Zuständigkeit des Senats.
Doppelstrukturen gibt es auch für den Verkehrsbereich. Der Senat ist zwar für die gesamtstädtische Verkehrsplanung und die „Straßen mit übergeordneter Bedeutung“ zuständig, aber die Bezirke haben viele Gestaltungsspielräume, etwa bei der Einrichtung von verkehrsberuhigten und Fußgängerzonen. Regelmäßige Reibereien zwischen Bezirken und Senat gibt es unter anderem bei der Einrichtung von Fahrradstraßen oder der Unterbringung von Flüchtlingen und Wohnungslosen.
Kommt jetzt der große Wurf?
In der Corona-Krise zeigte sich zudem, dass die bezirklichen Gesundheitsämter als chronisch unterbesetzte Hochburgen der Fax-Kommunikation gar nicht in der Lage waren, gesamtstädtische Vorgaben zur Pandemie-Bekämpfung zu erfüllen. Und in vielen Bezirken befinden sich Parks und Grünflächen in einem erbarmungswürdigen Zustand. Deren Pflege und Unterhalt gehört zu originären Aufgaben der Bezirke, fiel aber vielerorts weitgehend dem Rotstift zum Opfer. Die Liste ließe sich beliebig lange fortsetzen.
Dass dieses System der teilweise starren, teilweise aber schlicht undurchschaubaren „zweistufigen Verwaltung“ mit etlichen sich überschneidenden Kompetenzen in einer Metropole wie Berlin nicht gerade der Weisheit letzter Schluss ist, ist keine neue Erkenntnis. Aber alle Anläufe für eine „durchgreifende Verwaltungsreform“ versandeten immer wieder in den politischen Mühlen. Erhebliche Beharrungskräfte gibt es sowohl in den Bezirksverwaltungen selbst, als auch in den großen politischen Parteien, für deren einflussreiche Bezirksverbände die bezirkliche Postenvergabe in der weitverzweigten Ämterstruktur quasi unverzichtbar ist. Es ist ein offenes Geheimnis, dass ab einer bestimmten Hierarchieebene ohne Parteibuch so gut wie nichts mehr geht.
Doch die strukturelle Dysfunktionalität vieler Verwaltungsbereiche hat mittlerweile dramatische Ausmaße angenommen, und der künftige Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) hat die „große Verwaltungsreform“ daher bereits während des Wahlkampfes zur „Chefsache“ mit „oberster Priorität“ erklärt. Im Mittelpunkt soll ein neues „Gesetz über die Aufgaben der Berliner Verwaltung“ stehen, in welchem die Zuständigkeiten und Kompetenzen der verschiedenen Verwaltungsebenen neu bestimmt und vor allem widerspruchsfrei ausgestaltet werden sollen. Dafür müssten auch Teile der Landesverfassung geändert werden. Und natürlich soll es – mal wieder – eine große „Digitalisierungsoffensive“ geben.
Was von diesen hehren Plänen und dem ambitionierten Zeitplan – bis Ende 2024 soll alles in Sack und Tüten sein – letztendlich übrig bleibt, muss sich erst noch zeigen. Bisher ist die Berliner Politik jedenfalls bei allen Versuchen, das anachronistisches Verwaltungskonstrukt radikal vom Kopf auf die Füße zu stellen, glorreich gescheitert.
MieterEcho 432 / Mai 2023