Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 429 / Januar 2023

Kampf um den Molkenmarkt

Die Planungen für das Quartier in Berlin-Mitte stehen exemplarisch für die Auseinandersetzung zwischen der Privatisierungslobby und den Verfechter/innen einer sozialen Stadtentwicklung

Von Matthias Grünzig

An einem der zentralsten Orte Berlins, direkt hinter dem Roten Rathaus, befindet sich ein Gebiet, an dem sich die Zukunft der Berliner Stadtentwicklungspolitik entscheiden kann: Der Molkenmarkt. Hier soll ab 2028 ein neues Stadtquartier mit rund 400 Wohnungen entstehen. Und hier spiegeln sich die aktuellen stadtpolitischen Konflikte Berlins exemplarisch wider. Eine Seite fordert ein zukunftsweisendes Quartier mit bezahlbaren Wohnungen und einer klimagerechten Gestaltung. Die andere Seite fordert die Privatisierung der landeseigenen Flächen und den Bau exklusiver Wohnungen. Und beide Seiten wissen: Was hier entsteht, wird auf ganz Berlin und wahrscheinlich auch über Berlin hinaus ausstrahlen. 

Diese Konflikte begleiten schon die gesamte Planungsgeschichte des Molkenmarkt-Projektes. Zu Beginn der Planungen 1996 ging es um ein unsoziales und elitäres Projekt. Initiator war Hans Stimmann, der damalige Staatssekretär für Stadtentwicklung. Sein Ziel war eine radikale Wende – weg von einer sozial orientierten Stadtentwicklung, hin zu einer Stadtpolitik, die vor allem die Förderung von einkommensstarken Schichten zum Ziel hatte. Planerische Umsetzung erfuhr dieser Paradigmenwechsel im „Planwerk Innenstadt“, das im November 1996 öffentlich vorgestellt wurde. Diese Planungen wurden begleitet von Polemik gegen Mieter, die angeblich keinen Beitrag zur Stadtkultur leisten würden, und Forderungen nach einem „Abschied von der Mieterstadt“. Die führenden Köpfe dieser Planung waren neben Stimmann der Stadttheoretiker Dieter Hoffmann-Axthelm sowie die Architekten Bernd Albers und Tobias Nöfer. 

Der Molkenmarkt nahm in diesen Planungen eine Schlüsselstellung ein. Hier sollte beispielhaft vorgeführt werden, wie ein Modellquartier für einkommensstarke Schichten aussehen könnte. Die Grundstücke sollten privatisiert und anschließend mit teuren Wohnhäusern bebaut werden. Zudem sahen die Planer noch eine weitere Attraktion vor, die die gewünschten kaufkräftigen Schichten für den Molkenmarkt interessieren sollte. Denn an der Klosterstraße planten sie die Wiedererrichtung des „Gymnasiums zum Grauen Kloster“. Die bereits 1574 gegründete Elite-Schule zählte zu den renommiertesten Lehranstalten Preußens. Als neue Eliteschule sollte sie jetzt ihren Beitrag zur Aufwertung des Quartiers leisten und die gewünschten gutbetuchten Bürger in das Viertel locken.

„Rot-Rot-Grün“ leitete Kehrtwende ein 

Diese Planungen wurden auch in den folgenden Jahren weiter verfolgt. Am 18. Mai 1999 wurde eine reduzierte Variante des „Planwerks Innenstadt“ vom damaligen CDU-SPD-Senat beschlossen. Im Mai 2003 folgte der Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan 1-14, der das Gebiet um den Molkenmarkt umfasste. Dieser Bebauungsplan wurde schließlich am 19. April 2016 vom damaligen SPD-CDU-Senat beschlossen und am 12. Mai 2016 vom Abgeordnetenhaus bestätigt.

Doch mit dem Amtsantritt des „rot-rot-grünen“ Senats Ende 2016 begann eine radikale Kehrtwende in Sachen Molkenmarkt-Planung. Zunächst wurde ein aufwendiger Partizipationsprozess gestartet. In mehreren Pop-Up-Werkräumen, Foren und Sondierungsgesprächen konnten Bürger/innen ihreVorstellungen von der Zukunft dieses Quartiers einbringen. Bei diesen Veranstaltungen wurde deutlich, dass sich eine Mehrheit keineswegs ein elitäres Viertel für einkommensstarke Schichten wünschte. Stattdessen standen Themen wie bezahlbares Wohnen, der Umgang mit dem Klimawandel und kulturelle Freiräume im Mittelpunkt. Diese Themen fanden Eingang in 8 Leitlinien für den Molkenmarkt, die nur noch wenig mit den Ideen des „Planwerks Innenstadt“ zu tun hatten. 

Die landeseigenen Grundstücke sollten nun nicht mehr privatisiert, sondern durch die landeseigenen Wohnungsgesellschaften WBM und Degewo bebaut werden. Der ursprünglich geplante Bau von teuren Luxuswohnungen war nun nicht mehr möglich. Denn die WBM und die Degewo waren aufgrund der Kooperationsvereinbarung mit dem Berliner Senat verpflichtet, mindestens 50% der Neubauwohnungen mit Nettokaltmieten von 6,50 Euro zu vermieten, die restlichen Wohnungen sollten zu einer Durchschnittsmiete von maximal 11 Euro vergeben werden.

Zudem wurde im August 2021 ein Wettbewerbs- und Werkstattverfahren Molkenmarkt gestartet, das auf den 8 Leitlinien basierte und die Entwicklung eines Masterplans für das Quartier zum Ziel hatte. Die Ausschreibung forderte ausdrücklich „innovative, zukunftsweisende und durchaus auch experimentelle Ideen und Konzepte“. Das einstige Modellprojekt für eine unsoziale Stadtpolitik sollte nun ein Modellprojekt für eine soziale und ökologische Stadtentwicklung werden. 

Diese Entwicklungen stießen bei den Anhängern der Privatisierung auf härtesten Widerstand. Bereits im Februar 2019 veröffentlichten verschiedene Initiativen eine Petition für „Bauherrenvielfalt und Rekonstruktion am neuen Molkenmarkt!“. Diese Petition forderte eine Rückkehr zu den ursprünglichen Zielen des „Planwerks Innenstadt“. Die Grundstücke sollten nicht durch landeseigene Wohnungsgesellschaften bebaut, sondern privatisiert werden. Zudem wurde die Rekonstruktion einzelner Leitfassaden verlangt. 

Das sorgte für Aufsehen, schließlich gehörte zu ihren Initiatoren die Planungsgruppe Stadtkern, die sich seit ihrer Gründung 2011 für die Privatisierung der Berliner Innenstadt eingesetzt hatte. Ihr gehörten einflussreiche Architekt/innen, Publizisten, Projektentwickler und Historiker an, darunter Dieter Hoffmann-Axthelm, Bernd Albers, Tobias Nöfer, Petra Kahlfeldt, Benedikt Goebel, Christian Müller, Gerwin Zohlen, Klaus Hartung und Willo Göpel. Diese Gruppe war deshalb wichtig, weil sie über gute Kontakte zu Teilen der Berliner SPD verfügte. Einzelne Mitglieder der Planungsgruppe Stadtkern, wie Goebel, sind auch Mitglieder der SPD.

Giffey unterstützt Privatisierungslobby

Dieses Netzwerk suchte spätestens 2021 die Nähe zur neuen SPD-Landesvorsitzenden Franziska Giffey, die sich ebenfalls für eine stärkere Förderung privater Investoren einsetzte. Im August 2021 gehörte das Bürgerforum Berlin zu den Initiatoren des Aufrufs „Weiterdenken statt enteignen“, der sich gegen das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ richtete. Am 16. August 2021 folgte ein Stadtspaziergang über den Molkenmarkt mit Giffey. Ein Großteil des Programms wurde durch Goebel bestritten. Auch auf dieser Veranstaltung warb Goebel für mehr Privatisierungen in der Innenstadt. Diese Aktivitäten sollten sich bei der Senatsbildung Ende 2021 auszahlen: Mit Petra Kahlfeldt wurde eine Vertreterin der Planungsgruppe Stadtkern zur Senatsbaudirektorin ernannt. 

Begleitet wurde diese Personalie von einer medialen Offensive. Am 29. Dezember 2021 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel mit dem Titel „Der Kampf um die ganz alte Mitte“, der einer Kampfansage an die bisherigen Konzepte und Verfahren gleichkam. Der Autor Matthias Alexander war kein Unbekannter. Alexander hatte sich für die Neue Altstadt in Frankfurt/Main engagiert und dabei auch mit Kahlfeldt zusammengearbeitet, die damals im Gestaltungsbeirat des Projektes saß. Alexander lieferte nun eine Generalabrechnung mit der Stadtentwicklungspolitik der vergangenen Jahre, die er mit dem Begriff „Misere“ charakterisierte. Vor allem empörte ihn die Festlegung, dass am Molkenmarkt landeseigene Wohnungsgesellschaften bezahlbare Wohnungen bauen sollten. Diese Regelung würde wenig Spielräume „für anspruchsvolle und kleinteilige Grundrisslösungen“ bieten. Auch der aktuelle Wettbewerb wurde kritisiert, er würde an überzogenen Erwartungen kranken, außerdem wäre „ein großer Teil der Mitglieder des Preisgerichts“ in dieser Funktion unerfahren. Garniert wurde der Text mit Angriffen auf die langjährige Senatsbaudirektorin Regula Lüscher und die ehemalige Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Die Linke), die für die „Misere“ verantwortlich wären.

Giffey und die von ihr eingesetzte Senatsbaudirektorin Kahlfeldt dagegen wurden als zupackende Macherinnen gefeiert, die nun endlich mit der „Misere“ aufräumen würden. Alexander erwartete, dass Kahlfeldt „nachträglich für klare Vorgaben sorgen“ und dabei auch die Eigentumsfrage noch einmal neu aufrollen würde. „In der entscheidenden Frage von Eigentum und Bauherrenschaft ist das letzte Wort noch nicht gesprochen“, so Alexander. 

Das Wettbewerbs- und Werkstattverfahren Molkenmarkt stand also von Anfang an unter heftigem Beschuss einflussreicher Lobbygruppen. Umso erstaunlicher war, dass das Verfahren dennoch zunächst erfolgreich verlief. Auf der ersten Preisgerichtssitzung am 29. und 30. November 2021 wurden zwei Entwürfe für die zweite Phase ausgewählt. Der Entwurf von OS arkitekter (Kopenhagen) und cka czyborra klingbeil architekturwerkstatt (Berlin) wurde von Anfang an den 8 Leitlinien gerecht. Er bot ein überzeugendes Konzept, das bezahlbares Wohnen, kostengünstige Räume für Kultur und eine klimagerechte Gestaltung miteinander in Einklang brachte. Dieser Entwurf wurde im Verlauf des Verfahrens weiter qualifiziert. Der Entwurf des Büros Bernd Albers (Berlin) mit Vogt Landschaftsarchitekten (Zürich) entsprach dagegen zunächst nicht den Leitlinien. Doch im Verlauf des Werkstattverfahrens wurde dieser Entwurf im Dialog mit dem Preisgericht deutlich verändert, die Folge war eine Annäherung an den Entwurf von OS arkitekter / czyborra klingbeil. Die Entwürfe, die am 12. September 2022 auf einem Bürger/innen-Abend vorgestellt wurden, waren realisierungsfähig und entsprachen in großen Teilen den Leitlinien, wobei der Entwurf des Teams OS arkitekter / czyborra klingbeil noch stärker den Leitlinien gerecht wurde. Dieser Entwurf hätte eine sehr gute Grundlage für den weiteren Planungsprozess geboten. Mehr noch: Er hätte die Chance eröffnet, das Molkenmarkt-Quartier zu einem klimagerechten Modellquartier mit überregionaler Ausstrahlung zu entwickeln. 

Die entscheidende Preisgerichtssitzung am 13. September 2022, auf der eigentlich der Siegerentwurf ausgewählt werden sollte, brachte schließlich den Eklat. Denn auf ihr verfügte Kahlfeldt kurzerhand, dass das Preisgericht keinen Siegerentwurf auswählen sollte. Diese Entscheidung sorgte für viel Ärger. Einerseits war sie eine Katastrophe für die Berliner Wettbewerbskultur. Welches renommierte Büro wird sich künftig noch an Wettbewerben in Berlin beteiligen, wenn sie so willkürlich beendet werden? Andererseits nährte sie die Befürchtung, dass Kahlfeldt das bisherige Verfahren mit all seinen positiven Inhalten abwickeln will. 

Diese Befürchtungen erhielten durch ein Papier der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen vom 26. September 2022 neue Nahrung. Denn in diesem Papier wurde ein völlig neues Planungsverfahren vorgestellt, das mit dem ursprünglichen Prozess nichts mehr zu tun hatte. Jetzt sollte ein Masterplan durch die Behörde von Kahlfeldt entwickelt werden. Zudem wurden plötzlich neue Elemente vorgesehen, von denen nie zuvor die Rede war: Gestaltungshandbücher sollten detaillierte Vorschriften für die Gestaltung der Neubauten vorschreiben, ein Gestaltungsbeirat sollte die Einhaltung der Gestaltungsvorschriften überwachen.       

Neuer Senat wird endgültig entscheiden

Warum ist das alles so brisant? Mit diesem neuen Verfahren besteht die Gefahr, dass die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen praktisch im Alleingang ein Konzept durchsetzt, das den Vorstellungen der Planungsgruppe Stadtkern entspricht. Sie kann jetzt einen Masterplan entwickeln, der den Forderungen nach bezahlbaren Wohnungen widerspricht und der durch die landeseigenen Wohnungsgesellschaften nicht realisierbar ist. Sie kann Gestaltungshandbücher verfassen, die aufwendige Fassaden vorschreiben, die den Bau weiter verteuern. Am Ende könnten den landeseigenen Wohnungsgesellschaften Gestaltungsvorgaben aufgedrückt werden, die so teuer sind, dass bezahlbare Wohnungen und bezahlbare Räume für die Kultur nicht realisierbar sind. Am Ende könnten dann doch teure Wohnungen für einkommensstarke Schichten stehen, wie sie bis 2016 geplant waren. 

Folgerichtig führten die Ereignisse vom 13. September 2022 zu heftigen Protesten. In einem Aufruf „Für ein soziales und ökologisches Modellquartier am Molkenmarkt“, an dem auch der Autor dieses Artikels beteiligt war, wurde eine ordnungsgemäße Beendigung des Verfahrens einschließlich der Auswahl eines Siegerentwurfs gefordert. Dieser Aufruf wurde von zahlreichen Initiativen, Verbänden und Einzelpersonen unterzeichnet, darunter der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) Berlin, der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) Berlin, Changing Cities, der Berliner Mieterverein, die Redaktion MieterEcho und viele andere. Aus der Politik waren unter anderem die stadtentwicklungspolitischen Sprecher/innen der Grünen und der Linken, Julian Schwarze und Katalin Gennburg, vertreten. Die Fraktionen der Grünen und die Linken haben zudem im November Fraktionsbeschlüsse zum Molkenmarkt gefasst, in denen ebenfalls die Auswahl eines Siegerentwurfs gefordert wird. Außerdem sollen alle weiteren Planungsschritte in einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Partnern – von den Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung, Umwelt und Kultur bis hin zu den Wohnungsbaugesellschaften und Akteuren aus der Zivilgesellschaft – entwickelt werden. Der Ausgang dieses Streits ist also offen. Wahrscheinlich werden die Wiederholungswahlen am 12. Februar 2023 und die anschließende Senatsbildung entscheiden, ob der Molkenmarkt doch noch als sozial-ökologisches Modellquartier entstehen kann oder ob ein Rollback zu Privatisierungen und Luxuswohnen eingeleitet wird.      

 

Matthias Grünzig arbeitet als als freier Journalist und Bauhistoriker und engagiert sich in der Initiative Offene Mitte Berlin.


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