Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 430 / Februar 2023

Hürdenlauf zum neuen Sozialticket

Die als Wahlkampfgeschenk eingeführte „soziale Wohltat“ entpuppt sich als bürokratisches Monster

Ein Erfahrungsbericht von Paul und Paula*

Am 1. Januar wurde das neue Sozialticket für den öffentlichen Nahverkehr in Berlin eingeführt. Wir schildern unsere ersten Erfahrungen damit, die wohl als exemplarisch für diese ganze Misere gesehen werden können.

Paul: Es ist jetzt Mitte Januar, ich habe nach mehrmaligen Aufforderungen endlich den Berechtigungsnachweis bekommen, den Nachfolger des Berlin-Passes. Den brauche ich, um meine BVG-Kundenkarte für das Sozialticket zu beantragen. Ein Sozialticket habe ich schon am 1. Januar gekauft.

Allerdings musste ich da mangels Berechtigungsnachweis und mangels gültigem Bewilligungsbescheid die Nummer meines abgelaufenen Berlin-Passes eintragen. So bin ich jetzt auf die Kulanz der Kontrolleure angewiesen und steige bei Kontrollen lieber aus, bevor ich dran bin. Obwohl ich also ein Ticket habe, fahre ich rechtlich „ohne gültigen Fahrschein“, weil ich weder einen Berechtigungsnachweis, noch einen gültigen Bescheid habe. Ein sehr unentspanntes Fahren!

Nachdem ich den Berechtigungsnachweis Mitte des Monats endlich erhalten habe, habe ich natürlich noch am gleichen Tag die Kundenkarte der BVG beantragt. Wann diese dann kommt, weiß ich nicht, wahrscheinlich Anfang Februar. Mir ist es nicht alleine so gegangen, es häufen sich die Chaos-Geschichten zum neuen Sozialticket und zur Umstellung auf diesen Berechtigungsnachweis. Niemand weiß, was diese Umstellung überhaupt soll.
Die Beantragung der Kundenkarte ist alles andere als einfach und für Menschen ohne Internetzugang noch komplizierter. Für Menschen, die kein Geld vom Staat kriegen, oder Menschen ohne Papiere gibt es keine Lösung.

Da wirkt es wie Hohn, wenn die zuständige Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) dazu sagt: „Ich bin froh über diese unbürokratische Lösung.“ Das einzig Positive ist die Reduzierung des Preises des Sozialtickets auf 9 Euro, die zunächst aber nur bis Ende März gesichert ist. 

Paula: Die „Freude“ über das 9-Euro-Ticket ist groß. Es wurde angeblich unbürokratisch umgeschichtet, Bürgerämter haben weniger Arbeit, dafür Sozialämter und Jobcenter mehr. (Das Sozialamt Neukölln hatte übrigens im Dezember zwei Wochen geschlossen, wegen Überlastung) Jetzt soll das mit einem QR-Code laufen. Den werde ich wohl erst im April oder Mai bekommen, wenn meine SGB II-Leistungen weiter bewilligt sind. Erst dann kann ich einen Antrag auf eine Kundenkarte bei der BVG stellen. Was, wie ich hörte, weder on- noch offline optimal funktioniert. Echte Teilhabe für alle Betroffenen sieht anders aus. Wie kommt man eigentlich zu seinem Recht, wenn man nicht perfekt deutsch spricht? Ich bin privilegiert, weil Muttersprachlerin, und kann nun erst mal meine Aktennummer in das Ticket eintragen, schleppe den „Bewilligungsbescheid“ mit mir rum, der bald in Fetzen hängt und dessen Daten eigentlich niemanden von der BVG oder outgesourcten Sicherheitsfirmen was angehen. Ich bin eine Aktennummer. Stigmatisierung reproduzieren können sie. Viele Leute wissen nichts von dem neuen Berechtigungsnachweis und dass man eine extra BVG-Kundenkarte braucht. Also ist man auf das Wohlwollen der Kontrolleure in S- und U-Bahn angewiesen, die ja dafür nicht gerade bekannt sind. 

Klar, ich freue mich über die Krümel, die momentan vom Wahlkampftisch fallen, wie das 9-Euro-Ticket und 50 Euro sogenannten Inflationsausgleich. Wobei letzterer eine Anpassung ist, die seit 2010 vom Bundesverfassungsgericht gefordert wird und mit der die Bundesregierung weiterhin an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit bleibt. Ich muss langsam mal überlegen, was ich mit dem ganzen Geld mache, vielleicht in den Urlaub fahren? Ach nee, dann muss ich ja einen Antrag auf Abwesenheit stellen und darüber freuen sich die Mitarbeiter/innen im Jobcenter besonders. Diese Anträge werden gerne ganz unkompliziert per Vorlage routinemäßig abgelehnt. Also harre ich der Dinge, die da kommen, mehr kann ich nicht tun. In der Hoffnung, es mögen wirkliche Vereinfachungen und echte Teilhabe kommen. Wie wäre es mit kostenfreiem öffentlichen Nahverkehr für Alle? Ist wohl zu einfach.

Fazit: Wow, es gibt Wahlkampfgeschenke! Die Senatsparteien auf Stimmenfang – „Wir machen was!“ Reine Verarsche – für uns ist das neue Sozialticket jedenfalls ein Schuss in den Ofen! 

 

*Paul und Paula (Namen geändert) sind zwei Aktivist/innen, die bei der Erwerbsloseninitiative Basta! organisiert sind.
Webseite: www.bastaberlin.de   


MieterEcho 430 / Februar 2023

Teaserspalte

Berliner MieterGemeinschaft e.V.
Möckernstraße 92
10963 Berlin

Tel.: 030 - 21 00 25 84
Fax: 030 - 216 85 15

Email: me(at)bmgev.de

Ferienwohnungen

Unsere Umfrage

Falls sich eine oder mehrere Ferienwohnung(en) in Ihrem Haus befinden, berichten Sie uns davon und schildern Sie Ihre Erfahrungen in unserer Online-Umfrage.