Gentrifizierung auf leisen Sohlen
Der Soldiner Kiez entwickelt sich vom Problemquartier zum Aufwertungs-Hotspot
Von Philipp Möller
In der aufgeheizten Debatte um die Ausschreitungen in der Silvesternacht fühlte man sich zuweilen in die stadtentwicklungspolitischen Auseinandersetzungen der 1990er und 2000er zurückversetzt. Vier SPD-Bezirkspolitiker/innen forderten in einem Positionspapier eine stärkere „soziale Durchmischung“ sogenannter „Problemquartiere“ , die viele Medien als Schwerpunkte der Krawalle an Silvester identifizierten. „Daher müssen wir in Kiezen mit hohem Anteil an Transfermittelempfänger/innen oder mit Menschen mit Wohnberechtigungsschein eher mittel- und höherpreisigen Wohnraum schaffen“ , heißt es in dem Papier. Nach einigen Jahren leerer Worte gegen steigende Mieten sind die Sozialdemokraten offenbar wieder bei der politisch forcierten Gentrifizierung angekommen, die sie ab Ende der 1990er in „sozialen Brennpunkten“ in innerstädtischen Bezirken wie Neukölln, Kreuzberg oder Mitte forcierten.
Der Soldiner Kiez an der östlichen Grenze des Weddings gilt schon lange als ein „Problemquartier“. Laut Informationen des Tagesspiegels wurde in der Silvesternacht ein Schuss auf einen unbesetzten Streifenwagen in der Soldiner Straße abgegeben. Durch Berichte über eskalierte Polizeieinsätze geriet der Soldiner Kiez in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder in die Schlagzeilen. Doch in jüngster Zeit wandelt sich das Image des Quartiers. 2018 bejubelte die Morgenpost eine Entwicklung „vom Problem- zum Vorzeigekiez“ und beschrieb damit nichts anderes als die beginnende Gentrifizierung des Viertels.
Der soziale Austausch von Bevölkerungsgruppen, der die Gentrifizierung kennzeichnet, steht im Soldiner Kiez erst ganz am Anfang. Bei den Armutsindikatoren erreicht das Quartier berlinweite Spitzenwerte. Die Armutsquote liegt bei fast 40%. Nach einer zuvor leicht rückläufigen Tendenz stieg dieser Wert in den vergangenen zwei Jahren wieder leicht an. Knapp zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen im Kiez müssen in Armut aufwachsen. 28% der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter beziehen Transferleistungen. Zwar sinkt diese Quote seit Jahren kontinuierlich, jedoch spiegelt diese Entwicklung lediglich die berlinweite Tendenz wider. Auch bei der Mietentwicklung weist das Quartier im Vergleich keine signifikanten Steigerungen auf, vielmehr zählen die Angebotsmieten laut IBB-Wohnungsmarktbericht zu den niedrigsten im gesamten Bezirk Mitte.
Erheblicher Verdrängungsdruck
Allerdings waren große Teile der Soldiner Straße in den letzten Jahren von Baugerüsten geprägt. Viele Häuser wurden modernisiert, was bekanntlich mit deutlichen Mietsteigerungen einhergeht. Nachdem ein bezirklich beauftragtes Gutachten dem Kiez offiziell einen erheblichen Aufwertungs- und Verdrängungsdruck attestierte, stellte der Bezirk das Gebiet 2018 unter Milieuschutz und erließ eine soziale Erhaltungssatzung, um die Gentrifizierung zumindest zu verlangsamen. Neubau gab es im Soldiner Kiez mangels Bauflächen in den vergangenen Jahren nur wenig. Jedoch dürfte die neu entstehende Baugruppe „Sol101“ in der Soldiner Straße mit 14 Eigentumswohnungen zu Preisen von 257.000 bis 618.000 Euro genau jenem höherpreisigen Wohnraum entsprechen, den sich die SPD-Bezirkspolitiker/innen in ihrem eingangs erwähnten Positionspapier so sehr herbeisehnen. Im Exposee der ausführenden „Urbansky Architekten“ ist bereits von einem „vielversprechenden Standort“ die Rede.
Deutlich sichtbar wird die Gentrifizierung auch bei der Entwicklung der Gewerbestruktur. Nach und nach verschwinden in der Soldiner Straße Wettbüros, Casinos oder einfache Eckkneipen. Stattdessen eröffnen immer mehr hippe Cafés mit Bioprodukten. Zuletzt siedelte sich eine Schokoladenmanufaktur an, die nach eigenen Angaben aus dem Prenzlauer Berg verdrängt wurde und bei der 100 Gramm Schokolade gerne mal knapp 10 Euro kosten dürfen. Wie groß die Zahl an Studierenden und „Kreativen“ als Pionieren der Gentrifizierung mittlerweile ist, lässt sich allabendlich im „Soldiner Eck“ beobachten. Im Schein bunter Lichterketten bevölkern mehrheitlich hippe Studierende die Kiezkneipe, die seit über 25 Jahren am Ende der Soldiner Straße existiert und suchen bei billigem Bier nach einer „authentischen“ Erfahrung proletarischer Lebenswelten.
Eine gewisse „Hipsterisierung“ lässt sich auch politisch feststellen. Vor einigen Jahren eröffneten Bündnis90/Die Grünen in der Soldiner Straße ein eigenes Abgeordnetenbüro und gewannen bei den letzten Abgeordnetenhauswahlen das Direktmandat im Wahlkreis. Wie in Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Friedrichshain oder Neukölln zu beobachten, ist der wachsende Zuspruch für die Grünen ein zuverlässiger Indikator für die zunehmende Gentrifizierung eines Kiezes. Die vielen Stimmen für die Grünen sind mit Blick auf die Sozialstruktur der Bewohner/innen jedoch nicht nur ein Anzeichen für den zunehmenden Zuzug urbaner Mittelschichten. Vielmehr sind weite Teile der Anwohner/innen vom Wahlrecht ausgeschlossen, nur knapp 42% sind wahlberechtigt. Rund 80% der Anwohner/innen haben eine Migrationsgeschichte.
Durch seine vergleichsweise günstigen Mieten ist der Soldiner Kiez ein Ankunftsquartier. Neu zugezogene Menschen können hier Anschluss an kulturelle Netzwerke finden, zahlreiche Vereine und Träger bieten Deutschkurse sowie Unterstützung bei Behördengängen an. Mit dem „Refugium“ in der Gotenburger Straße befindet sich eine Unterkunft für bis zu 150 Geflüchtete und Wohnungslose in einem ehemaligen Schulgebäude mitten im Quartier. Andreas Geisel (SPD), heutiger Stadtentwicklungssenator und ehemaliger Innensenator, nannte den Soldiner Kiez vor wenigen Jahren eine „Integrationsmaschine“, als Teil des Imagewandels erhält der hohe Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte eine zunehmend positive Konnotation.
Zwiespältiges Quartiersmanagement
Eine ganze besondere Rolle für den Wandel kommt dem Verein „Kiezbezogener Netzwerkaufbau“ zu. Er organisiert regelmäßige Fußballspiele von Kindern und Jugendlichen aus dem Kiez mit Polizeibeamt/innen des örtlichen Polizeiabschnitts 36, um Vertrauen zwischen Polizei und Kids aus dem Viertel aufzubauen und das vermeintlich „polizeifeindliche Klima“ im Kiez zu befrieden. Einmal im Jahr dürfen Kinder aus dem Quartier sogar in Mannschaftswägen, die sonst im Kiez patrouillieren, zu einem großen Fußballturnier fahren. Das Projekt erhielt bundesweit Aufmerksamkeit und brachte den Soldiner Kiez als „Vorzeigequartier“ in die Schlagzeilen.
Das dürfte ganz im Sinne der Bezirkspolitik sein, die seit Jahren versucht, das Quartier aufzuwerten, um neue, zahlungskräftigere Bewohner/innen anzuziehen. So wurde der Kiez rund um die Soldiner Straße 1999 zu einem der ersten Quartiersmanagementgebiete in Berlin, wobei die zwiespältige Rolle der „QMs“ zwischen dem Aufbau von sinnvollen Unterstützungsangeboten für die Anwohner/innen und der sozialen Absicherung von Aufwertungsprozessen schon vielfach analysiert wurde. Das zeigt sich auch im „integrierten Handlungs- und Entwicklungskonzept 2019-21“ für das QM-Gebiet Soldiner Straße/Wollankstraße. Darin werden als „Worst Case“-Szenarien für die Kiezentwicklung unter anderen „Gentrifizierung“ und „Aufwertung“ genannt, gleichzeitig eine „gute soziale Durchmischung“ und „vom drittletzten Platz in der Sozialstatistik nach oben rutschen“ als „Best Case“ Szenarien aufgeführt.
Einen Vorgeschmack, wohin die Reise für den Soldiner Kiez gehen könnte, bietet ein Blick auf die Verkehrsplanungen. Nachdem die Soldiner Straße zwischen 2018 und 2021 für 3,7 Millionen Euro grunderneuert wurde, will der Bezirk ab 2024 den „Panketrail“ an dem gleichnamigen Fluss zu einem Radschnellweg ausbauen. Die angrenzende Grüntaler Straße soll komplett zu einer Fahrradstraße werden. Im Sinne der Verkehrswende ist dieser Ausbau von Radverkehrsstrukturen dringend notwendig, jedoch lassen sich diese Maßnahmen nicht von der zunehmenden Aufwertung des Kiezes trennen. Noch zählt das Quartier durch die starke verkehrliche Belastung als einfache Wohnlage, das könnte sich durch die Zurückdrängung des Autoverkehrs jedoch ändern. Schließlich gehört es zu den Kennzeichen einer kapitalistisch organisierten Stadtentwicklung, dass Steigerungen der Lebensqualität die Verwertungsbedingungen für Wohnraum deutlich verbessern.
MieterEcho 430 / Februar 2023