Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 431 / April 2023

Frankreich: Massive Streiks gegen „Rentenreform“

Alle Gewerkschaftsdachverbände ziehen diesmal an einem Strang gegen die Macron-Regierung

Von Bernhard Schmid

Millionen Menschen nahmen im Laufe des Monats März in Frankreich an Protestdemonstrationen und Streiks teil und eröffneten dadurch ein Kräftemessen mit dem Regierungslager unter Staatspräsident Emmanuel Macron und Premierministerin Elisabeth Borne und den hinter ihnen stehenden Kapitalkreisen.

Unterdessen fand die Regierung, auch unter dem Druck der massiven Proteste, in der französischen Nationalversammlung – wo sie seit Juni 2022 nur noch über eine relative, und nicht länger eine absolute Mehrheit verfügt – keine Mehrheit für ihr Vorhaben einer „Reform“ der Rentenregeln. Am 16. März löste Premierministerin Borne den Mechanismus nach Artikel 49 Absatz 3 der geltenden Verfassung von 1958 aus, welcher es erlaubt, einen Gesetzestext ohne Abstimmung durch das Parlament zu drücken, indem die Regierung die Vertrauensfrage stellt. Stürzt sie nicht über ein gemeinsames Misstrauensvotum aller Oppositionsfraktionen, von Links bis Rechts, dann gilt die Vorlage automatisch als angenommen. 

Dadurch löste die Regierung jedoch eine innenpolitische Krise aus und goss Öl ins Feuer der Proteste, deren Fortgang zu erwarten ist, den Gewerkschaften jedoch möglicherweise aus dem Ruder läuft. Am Abend des 16. März kam es infolge von Ausschreitungen allein in Paris zu 217 Festnahmen. Zahlreiche Mülleimer gingen in Paris, wo sich infolge des Streiks der Müllabfuhr bis dahin 8.000 Tonnen nicht abgeholter Abfälle in den Straßen angesammelt hatten, und anderen Städten in Flammen auf.

Zuvor hatten im März bereits Raffinerie-, Bahnbeschäftigte und Lehrkräfte tage- oder wochenweise gestreikt. Bereits im Januar und Februar hatten an insgesamt fünf „Aktionstagen“ laut Regierungsangaben je mehrere Hunderttausend Menschen, laut den Zahlen der Gewerkschaften gar bis zu 2,8 Millionen (auf dem damaligen Höhepunkt am 31. Januar) an Demonstrationen teilgenommen. 

Doch worum geht es in der Sache? Einmal mehr plant eine französische Regierung eine „Reform“ der Rentensysteme. Mehrere solcher „Reformen“ zum Thema wurden bereits verabschiedet, auch wenn eine besonders gewichtige im Herbst 1995 durch massive Streiks im öffentlichen Dienst verhindert werden konnte. Doch andere kamen durch, etwa zur Rentenhöhe und zur Zahl der Beitragsjahre in der Privatwirtschaft (August 1993), zur Zahl der Beitragsjahre für Staatsbedienstete (Frühjahr 2003), zur Anhebung des Mindestalters von zuvor 60 auf derzeit 62 Jahre (unter Nicolas Sarkozy) im November 2010 und zur neuerlichen Anhebung der Beitragsdauer (Anfang 2014 unter dem Sozialdemokraten François Hollande).

Anfang 2020 scheiterte Macron mit einem damaligen Reformvorhaben. Neben mehrwöchigen Streiks – von der Eisenbahn bis zum Justizwesen – kam damals noch der Ausbruch der Corona-Pandemie als Verhinderungsgrund hinzu.

Altersgrenze und Beitragsjahre sollen steigen

Wesentlicher Inhalt der derzeit geplanten, offiziell seit dem 10. Januar dieses Jahres angekündigten „Reform“ – die sich in ihren Inhalten von der ursprünglich 2019/20 geplanten unterscheidet – ist die Anhebung der Mindest-Altersgrenze von derzeit 62 auf künftig 64 Jahre, ab Anfang 2030. Dies ist jedoch nur das Alter, ab dem jemand frühestens einen Anspruch auf Ruhestand geltend machen kann, mit Ausnahme von Personen mit ärztlich nachgewiesener Berufsunfähigkeit. Es bedeutet nicht, dass es ab diesem Alter eine Rente ohne Abschläge gäbe. Eine solche gibt es bereits heute erst ab 67, und dieses Alter für die abzugsfreie Rente wird auch bleiben. Ansonsten gibt es für jedes fehlende Beitragsjahr Abzüge in Höhe von fünf Prozent (in der Bundesrepublik: 3,6%). Erforderlich für die abschlagsfreie Rente sind derzeit 41,5 Beitragsjahre, laut den Regierungsplänen jedoch ab 2027 dann 43 Jahre (in Deutschland 45 Jahre).

Dagegen sind sich die französischen Gewerkschaften, die aus historischen Gründen in politische Richtungsverbände aufgespalten sind, dieses Mal alle einig. Von der Union syndicale Solidaires (Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften) und der CGT, dem historisch ältesten Dachverband, auf der linken Seite, bis zur an der Spitze sozialpartnerschaftlich und klassenkampffeindlich ausgerichteten CFDT auf dem rechten Flügel der Gewerkschaftsbewegung.

Einer der Hauptgründe für diese Einigkeit liegt in der derzeitigen Positionierung der in den 1970er und 1980er Jahren überwiegend sozialdemokratisch geprägten CFDT, die neben der CGT einen der beiden stärksten Dachverbände im Land bildet. Die Führung des Dachverbands CFDT hatte sich in den vergangenen 25 bis 30 Jahren zu einer wichtigen Stütze bei der – sozial leicht abgefederten – Umsetzung zentraler Projekte der kapitalistischen Eliten entwickelt. Derzeit ist jedoch ein Teil seiner Basis stark an den Protestmobilisierungen beteiligt, durchaus mit einigem Elan, einschließlich Bezugnahmen auf die Revolte von 1968 und den seinerzeit vielfach benutzten Parolen.

Zwar trug die CFDT-Führung – gegen eine starke innere Opposition – die „Rentenreform“ von 1995 (die gestoppt werden konnte) und die trotz Protesten nicht verhinderte von 2003 jeweils mit. Doch im Juni 2022 zwang ein Gewerkschaftstag den Vorstand des Dachverbands ein Stück weit auf eine kämpferische Linie: 67% der Delegierten stimmten gegen einen windelweichen Antragsentwurf des Vorstands, welcher ihm die Zustimmung zu allen möglichen „Rentenreformen“ ermöglicht hätte, und für einen in einem Punkt wesentlich härteren Entschließungsantrag. Dieser sieht zumindest ein klares Nein zur Anhebung der Altersgrenze (derzeit 62) für das Renteneintritts-Mindestalter vor. Allerdings lässt der Kongressbeschluss zugleich stehen, dass die CFDT sich für eine Anhebung der Zahl obligatorischer Beitragsjahre ausspricht, wie sie 2013/14 unter der sozialdemokratischen Präsidentschaft von François Hollande (von zuvor 41,5 auf 43) beschlossen wurde. Und der Antrag lässt zugleich eine Tür für anders geartete „Reformen“ offen. Dass die Basis der CFDT derzeit in Bewegung gerät, ist also erfreulich. Es wäre allerdings ein Fehler, würde man aus linker Sicht ihren Leitungsapparat nunmehr für einen Verbündeten halten.

Regierung will Gesetz durchpeitschen

Dass die CFDT einen wichtigen Teil der derzeitigen intersyndicale, also des aus (allen) Gewerkschaftsvorständen gebildeten Bündnisses gegen die Rentenreform bildet, ermöglichte einerseits eine erhebliche Breite des Protests. Andererseits beeinflusste dies auch die Protestformen. Denn während vor allem Teile der CGT und die Union syndicale Solidaires schon früh Streiks – auch unbefristete – favorisierten, sperrte sich vor allem die CFDT im Bündnis dagegen. Sie favorisierte zunächst möglichst breite Demonstrationen, aber keine Streiks oder jedenfalls keine unbefristeten, „um die Sympathie der Öffentlichkeit nicht zu verlieren“, und Aktionsformen wie den Appell an Geschäftsleute zur Schließung ihrer Läden aus Solidarität.

Spätestens Anfang Februar war jedoch ein Zeitpunkt erreicht, ab dem die Beteiligung an Protestzügen quantitativ kaum noch steigerbar erschien und nach dem starken Anschwellen der Demonstrationen im Laufe des Januars nun auch keine Zuwächse mehr verzeichnete. Ab dem 7. März wurde deswegen, mit dem Beginn tage- und wochenlanger Streiks etwa im Transport- und Energiesektor, eine andere Gangart eingeschlagen – die Gewerkschaften hatten gar keine andere realistische Möglichkeit.
Hoffentlich kommt die Initiative zu nunmehr auch unbefristeten Streiks nicht zu spät, zumal die Regierung mit dem Beschluss zur Umgehung des Parlaments vom 16. März ihrerseits auf Konfrontation und Beschleunigung setzte. Zwar gibt es historische Präzedenzfälle dafür, dass auch ein bereits beschlossener Gesetzestext vom Tisch genommen werden kann. Im April 2006 hat es das in Frankreich beim Kündigungsschutz für die jüngeren Beschäftigten (unter dreißig) gegeben, es ging damals um den „Ersteinstellungsvertrag“ (CPE). Doch dies erneut zu erreichen, ist anspruchsvoll. Vielleicht hätte man auch einfach nicht so lange mit den Arbeitskämpfen warten sollen. Der Ausgang wird darüber Auskunft geben.

 

Bernhard Schmid lebt seit den frühen 90er Jahren in Paris und ist dort hauptberuflich als Anwalt tätig. Ferner schreibt er regelmäßig für mehrere linke Publikationen im deutschsprachigen Raum (u.a. junge Welt, Jungle World, Analyse & Kritik, konkret, Labournet Germany).


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