Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 431 / April 2023

„Es ist ein Desaster, vor allem durch die Inflation“

 

Interview mit Wolfgang Büscher, Sprecher des Kinder- und Jugendwerks „Die Arche”

MieterEcho: Seit 1995 existiert die Arche als soziales Hilfsprojekt im Berliner Stadtteil Hellersdorf. Mit welchem Ansatz haben Sie Ihre Arbeit begonnen und wie hat sich dieser im Laufe der fast drei Jahrzehnte verändert?

Wolfgang Büscher: Unser Gründer Bernd Siggelkow kam damals als Sozialarbeiter und Pastor nach Hellersdorf. Er war damals auf vielen Spielplätzen, hat mit Kindern und Jugendlichen gesprochen und gemerkt, dass die Not sehr groß war. Und das hat sich seitdem noch beträchtlich verschlechtert. Wir gehen wie auch der Deutsche Kinderschutzbund davon aus, dass bis zu 4,6 Millionen Kinder in Deutschland in Armut oder Armutsgefährdung leben. Wir erleben in der täglichen Arbeit, dass die Not sehr groß ist. Mittlerweile spielt auch die einfache Versorgung mit Nahrungsmitteln eine immer größere Rolle, was sich durch Inflation weiter verschärft hat. Es zwar gibt eine Kinderkommission des Deutschen Bundestages, die aber kaum einen relevanten Stellenwert hat. Wir merken jedenfalls deutlich, dass arme Kinder schlicht vergessen werden.

Der Bereich von Hellersdorf, in dem Sie hier tätig sind, gehört ja zu den Hotspots der Kinderarmut in Berlin. Wie ist das entstanden?

Der Stadtbezirk rund um diese Arche – wir haben inzwischen insgesamt 6 in Berlin – ist sicherlich ein Hotspot. Hier kommen aber auch viele Kinder aus dem benachbarten Marzahn. Das liegt auch daran, dass hier die Wohnungsbaugesellschaften viele Wohnungen an Menschen vergeben, die Transferleistungen beziehen. Und deswegen bündelt sich das Ganze in bestimmten Stadtteilen.

Sie können ja durch Ihre Angebote wie etwa Mahlzeiten, Lebensmittelpakete, Hausaufgabenbetreuung und Freizeitangebote für Kinder und ihre Familien die größte Not ein wenig lindern. Aber stünde dafür nicht eigentlich der Bezirk oder letztendlich die Stadt Berlin in der Pflicht, diese Aufgabe zu übernehmen?

Das ist richtig, und das muss man auch deutlich so sagen. Sie tut es aber nicht. Viele Politiker haben uns gesagt: Dafür haben wir jetzt das Geld nicht. Wir können den Kindern ja nicht sagen, in fünf Jahren versuchen wir mal was, sondern wir müssen die Kinder jetzt fördern. Die sind heute hier in unserer Einrichtung, die haben Hunger. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Die wollen aber auch gefördert werden. Sie brauchen Bildung, denn nur durch starke Kinder kann ich später ein Land stark machen. Und viele dieser Kinder vergessen wir. Es verlassen pro Jahr rund 50.000 Kinder ohne Abschluss die Schule, das ist ein bildungspolitisches Desaster. Und da müssen wir ansetzen und den Kindern helfen. In der Regel sollte es die Politik tun. Aber sie tut es nicht.

Wie sieht denn gewöhnlicher Tag in der Arche aus?​

Morgens ab 8 Uhr kommen erst mal kleine Kinder. Die betreuen wir und wir bauen jetzt auch eine Kita. Aber die meisten Kinder kommen so ab 13 Uhr aus der Schule, bis zu 300 pro Tag. Sie essen dann kostenlos in der Arche und haben teilweise bis dahin auch noch nichts gegessen. Und das ist schlimm, weil sie sich mit Hunger in der Schule nicht auf den Unterricht konzentrieren können. Danach machen sie hier alles Mögliche: Hausaufgaben, Ergänzungsunterricht, sie spielen Fußball, gehen in unsere Turnhalle. Wir bieten auch musische Dinge an. Aber sie können auch einfach nur chillen, das ist ganz wichtig. Sie fühlen sich hier sicher, sind an einem sicheren Ort. Und die Kinder haben hier Bezugspersonen, die von ihnen nichts einfordern, sondern ihnen helfen. Wir suchen hier nicht wie in der Schule üblich nach den Schwächen der Kinder, sondern nach ihren Stärken.

Sie haben bereits das Essen als wichtigen Teil Ihres Angebots erwähnt und versorgen ja nicht nur die Kinder mit Mahlzeiten, sondern auch Familien mit Lebensmittelpaketen. Man hört von vielen sozialen Einrichtungen, etwa den Tafeln, dass das immer schwieriger wird, weil der Andrang wächst und gleichzeitig die Lebensmittelspenden stagnieren oder gar zurückgehen. Wie lösen Sie dieses Problem?

Wir haben hier einen Notfallfonds in Höhe von zunächst 500.000 Euro aufgelegt, der auch von Banken und großen Zeitungen unterstützt wurde. Es geht tatsächlich immer mehr um nackten Hunger. Als wir mit den Lebensmittelpaketen vor einigen Wochen angefangen haben, haben wir 30 Pakete ausgegeben, im Wert von 65 Euro. Die können sich Bedürftige alle 14 Tage abholen. Dann waren es 250, beim letztem Mal 370, heute werden es 600 sein und beim nächsten Mal wohl 1.000.

Es ist ein Desaster, vor allem durch die Inflation, die ja im preiswerten Segment viel höher als allgemein ist. Wir reden hier über Mütter, die den ganzen Tag nichts essen, damit sie ihrem Kind abends eine Mahlzeit gegen können. Ich bin jetzt 20 Jahre auch Sprecher der Arche, aber so extrem ist das erst seit zwei, drei Jahren.

Wie finanzieren Sie denn Ihre Arbeit? Gibt es denn auch öffentliche Mittel?

Nein, wir wirtschaften nur mit Spenden. Von der Politik wird uns manchmal auch vorgeworfen, wir würden mit unserer Öffentlichkeitsarbeit den Ruf von Berlin beschmutzen. Das habe ich selber zig Mal gehört von Politikern, auch wenn wir Fernsehinterviews gemacht haben. 

Wir brauchen in diesem Jahr 20 Millionen Euro, um unsere Arbeit – also nicht nur in Hellersdorf – zu finanzieren. Die Hilfsbereitschaft in Deutschland ist groß, das kann man schon sagen. Viele Menschen wollen was tun, wollen helfen, auch als Ehrenamtler. Es gibt vielfältige Unterstützung und Hilfe, aber wir müssen jedes Jahr ums Überleben kämpfen. Das ist schon hart.

Ihre Arbeit stößt ja auch auf anders begründete Kritik. Die Arche firmiert als christliches Kinder- und Jugendwerk und entstand im Umfeld von evangelischen Freikirchen. Betreiben Sie „Missionierung durch den Magen”, wie Ihnen bereits vorgeworfen wurde?

Nein, das ist nicht der Fall. Unter Gründer Bernd Siggelkow war Pastor der Heilsarmee. Das ist eine Freikirche, die harte soziale Arbeit macht, und keine Freikirche, die nur labert. Es waren Privatpersonen, die die Arche gegründet haben. Wir bekommen kein Geld von einer Kirche, außer vielleicht mal eine Kollekte von einer Gemeinde. Aber wir sind komplett unabhängig. Niemand hat mich zu Beginn meiner Arbeit hier gefragt, ob ich in einer Kirche bin, was auch nicht der Fall ist. Es gibt hier unter den Pädagog/innen Christen und auch Nichtchristen, und wir stehen zu christlichen Werten. Wir missionieren aber nicht. Das würde ja auch gar nicht gehen. Wir haben ja an vielen Arche-Standorten 90% oder mehr muslimische Kinder, in Hellersdorf inzwischen ungefähr 50%.

Inzwischen ist aus der 1995 in Hellersdorf gegründeten Arche ein bundesweites Netzwerk von 30 Archen in Deutschland erwachsen, die von bis zu 7.000 Kindern pro Tag besucht werden. Hinzu kommen jeweils ein Standort in Polen und in der Schweiz. Wie ist das organisiert? Als Sozialunternehmen oder als Verein oder eben als Netzwerk selbstständiger Einrichtungen?

Wir sind eine Stiftung, mit einem Vorstand und einigen sehr klein gehaltenen Verwaltungs-/Funktionsbereichen, wie z.B. Öffentlichkeitsarbeit oder Personalangelegenheiten. Der Sitz der Stiftung ist hier in Berlin und es ist eben kein loses Netzwerk, sondern schon einheitlich als NGO (Nichtregierungsorganisation) organisiert.

Die soziale Spaltung hat sich nicht nur in Berlin in den vergangenen Jahren deutlich verschärft, auch durch die Corona-Pandemie. Wie haben Sie das hier in Hellersdorf erlebt?

Sehr deutlich. Denn die Wohnungen sind in den meisten Fällen gerade für solche Extremsituationen viel zu klein. Die Kinder durften ja monatelang nicht raus, konnten sich kaum bewegen oder Freunde treffen. Viele wurden dick, haben bis zu 20 Kilo zugenommen. Auch die psychischen Belastungen waren enorm.

Mit den Folgen werden wir noch lange zu kämpfen haben. Wir haben jetzt etliche Kinder in der 3. und 4. Klasse, die nicht richtig lesen und schreiben können. Die werden alle ohne Schulabschluss von der Schule gehen und die werden dann im Transferleistungsbezug stranden. Wir vergessen Hunderttausende von Kindern, die hier leben, auch und gerade Kinder von Migrant/innen.

Welche Rolle spielt denn der Mangel an angemessenem, bezahlbarem Wohnraum hier in Hellersdorf?

Eine Riesenrolle. Und da gibt es auch groteske Verzerrungen, auch bei den hier stark vertretenen kommunalen Wohnungsbaugesellschaften. Die kommen ja gerne zu uns, wollen 10.000 Euro spenden und dann mit der Arche Werbung machen. Wir fragen dann auch mal, ob sie einem unserer Jugendlichen, der mit seiner Freundin ein Kind erwartet, eine Wohnung besorgen können. Wenn so ein Paar von Transferleistungen lebt, dann sagen die: Ja, da lässt sich was machen. Wenn die aber in eher schlecht bezahlten prekären Jobs arbeiten, dann eher nicht, denn wer weiß, wie lange die die Miete zahlen können. Die wollen lieber Bürgergeld-Empfänger/innen, weil da ja die Miete vom Amt kommt.

Sie verstehen Ihre Arbeit nicht nur rein karitativ, sondern wollen sich auch als Lobby der Schwachen in die politischen Auseinandersetzungen einmischen. Welchen Stellenwert hat das für die Arche insgesamt?

Wir helfen den Kindern, das steht natürlich im Mittelpunkt. Aber wir müssen politischen Druck machen, um Dinge zu verändern. Es reicht nicht, dass wir immer nur notdürftig Lücken schließen, sondern wir sagen den Politikern, was Sache ist. Ich habe gerade einen Beitrag für „Bericht aus Berlin” gemacht, wo auch Hubertus Heil (SPD) war, der Bundesminister für Arbeit und Soziales. Da haben wir nochmal deutlich gemacht, warum wir jetzt möglichst schnell die Kindergrundsicherung und auch viel mehr angemessene Wohnungen brauchen. Die Kinder können nichts für ihre Situation, und deswegen ist die politische Arbeit ein wichtiges zweite Standbein unserer Arbeit.

Und jetzt kommt Finanzminister Christian Lindner um die Ecke und meint, man müsse jetzt erst mal gucken, ob man überhaupt noch Mittel für die Kindergrundsicherung hat.

Der Lindner war mal hier und sagte, er habe was Tolles für die Kinder mitgebracht. Wir waren ganz gespannt, vielleicht hätte er ja auch einen Scheck dabei. Er hat mir dann einen Tischtennis-Schläger in die Hand gedrückt. Das ist wirklich unfassbar. Natürlich ist der gegen die Grundsicherung, weil seine Klientel daran kein Interesse hat.

Kooperieren Sie denn mit anderen Einrichtungen und sozialen Initiativen hier im Bezirk?

Ja, natürlich. Gerade heute ist der Arche-Leiter bei einer Krisensitzung des Bezirks, wo es um Sozialhilfe für Geflüchtete geht. Wir sind gut mit dem Jugendamt vernetzt, wir gehen in Schulen oder die kommen zu uns. Wir sind in allen Städten, in denen wir präsent sind, in Netzwerken und wollen auch keine Konkurrenz zu anderen Initiativen und Organisationen. Und wir sind glücklich über jedes Kind, das auch in eine andere soziale Einrichtung gehen kann und dort Unterstützung erhält.

Davon abgesehen, dass sich an dem desaströsen Umgang mit Kinderarmut gesamtgesellschaftlich generell was ändern müsste: Was sind denn Ihre unmittelbaren Erwartungen und Forderungen, die Sie an die Bezirks- und Landespolitik stellen?

Wir müssen unsere Schulen und Kitas besser ausrichten, wir brauchen mehr Lehrer/innen, mehr Sozialarbeiter/innen, mehr psychologische Betreuung. Doch letztendlich kommt man aus diesem ganzen Dilemma nur durch eine Sache raus: Durch Bildung, vor allem durch Schulen, die nach den Stärken der Kinder suchen. Und das alles kostet natürlich sehr viel Geld, aber für die Zukunft unserer Gesellschaft wäre das sehr gut angelegtes Geld.

Kinder, die von Transferleistungen leben müssen, haben kein schönes Leben. Sie können ihr eigenes Leben nicht gestalten und entwickeln. 4,6 Millionen Kinder leben in Deutschland in Armut oder in der Nähe davon. Und viele dieser Kinder werden niemals im Leben qualifiziert arbeiten können, weil sie miserabel ausgebildet sind und aussortiert werden.

Aber letztendlich machen Sie die Arbeit, weil der Staat da versagt. Entlassen Sie den Staat da nicht aus seiner Verpflichtung?

Ich kenne die Kritik. Und ich ärgere mich immer wieder, wenn etwa der Armutsforscher Christoph Butterwegge sagt, wenn es die Arche nicht gäbe, würde der Staat diese Arbeit machen müssen. Der tut es aber nicht. Die Kinder, denen wir jetzt etwas helfen können, würden durchs Raster fallen und würden ein beschissenes Leben führen. Wir kämpfen darum, dass jedes Kind eine Chance hat, ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben zu führen. 

Wir machen diese Arbeit, weil die Politik sie nicht macht. Und das ist kein Selbstzweck. Für mich wäre es der glücklichste Moment, wenn man hier irgendwann den Schlüssel umdrehen kann und das Licht ausmacht und sagt: Das war’s, wir brauchen die Arche nicht mehr. Genauso wäre das bei den Tafeln.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Rainer Balcerowiak.

 

Wolfgang Büscher ist Journalist, Autor und Medienberater. Er schrieb jahrelang für verschiedene Zeitungen als Bonn-Berichterstatter, war als Radiomoderator tätig und arbeitete als Medienberater für zahlreiche große Unternehmen. Seit 2002 lebt er in Berlin. Dort wurde er Pressesprecher des Kinder- und Jugendwerks „Die Arche“.


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