Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 432 / Mai 2023

„Es geht um die Würde“

 

Interview mit Paz Araya zur Wohnsituation in Chile

MieterEcho: Es gibt seit Jahren massive Proteste in Chile – welche Forderungen wurden und werden gestellt?

Paz Araya: 2019 war das wie eine Explosion, von der niemand wusste, wohin sie sich ausbreiten würde. Die Menschen waren auf der Straße und viele, die nie ihre Stimme erhoben hatten, brachten ihre Wut zum Ausdruck. Am Anfang waren es einfach wütende Menschen und alles andere, was wir wollten und wo wir hinwollten, war unklar. Dann wurde den Dingen nach und nach Namen gegeben. Ein Begriff der dabei emporkam, war Dignidad (Würde). Würde wurde zum zentralen Begriff der Proteste – wir wollen ein würdevolles Leben! Daran konnten dann die schon länger bestehenden Kämpfe wie die der Pobladoras, die für ein Recht auf Wohnraum kämpfen, anknüpfen und sagen: Ja, wir kämpfen auch um Würde. Auch die Umweltbewegungen schlossen sich an, welche in den sogenannten Zonas de sacrificio (geopferten Gebiete) kämpfen – Orten in Chile, deren Kontamination und Zerstörung gigantisches Ausmaß erreicht, wo die Menschen an Krebs und anderen Krankheiten sterben.

Es folgten auch andere Gruppen, wie z. B. Motorradfahrer, die für bezahlbares Benzin protestierten, oder auch Fußballfans. Bei den großen Demonstrationen waren 2 Millionen Menschen in Santiago auf der Straße, 7 Millionen im ganzen Land.

Können Sie die Wohnungssituation in Chile beschreiben?

Um die Situation auf dem Wohnungsmarkt zu verstehen, muss man die Diktatur von 1973 bis 1989 mit einbeziehen. Nicht nur die aktuelle Verfassung, sondern viele Gesetze wurden verabschiedet, die alles in Chile liberalisierten – Neoliberalismus extrem. In diesem Kontext steht auch die Wohnungspolitik, es fehlt fast jede Regulation, da alles den Marktbedingungen untergeordnet wird.

Hinzu kam 1979 eine Politik, die Ärmsten aus den Stadtzentren hin zur Peripherie umzusiedeln.

Wie lebten die Menschen vorher?

Vor der Diktatur, zu Zeiten der sozialistischen Regierung unter Allende, gab es Ansätze von sozialem Wohnungsbau, um dem akuten Wohnraummangel zu begegnen. Aufgrund ökonomischer Krisen zogen in den 1950ern immer mehr Menschen aus den ländlichen Gebieten in die Städte in oft viel zu kleine Behausungen ohne Zugang zu Trinkwasser, Strom etc. Heute lebt die Hälfte der Bevölkerung in Santiago. Der Staat baute Sozialwohnungen und den Ärmsten wurde die Möglichkeit gegeben, diese als Eigentum zu erwerben. Einen Teil bezahlten sie selbst, den anderen der Staat. Die Diktatur beendete alle Programme sozialen Wohnens. Menschen, die Sozialwohnungen bekommen hatten, wurden dazu gezwungen sie aufzugeben und an die Peripherie verdrängt.

Santiago ist eine sehr gespaltene Stadt mit 7 Millionen Einwohnern. Eine Person aus den Reichenvierteln stattet dem anderen Teil der Stadt fast nie einen Besuch ab. Die Verdrängung der ökonomisch Benachteiligten in die Randbezirke führt dazu, dass viele Menschen jeden Tag mehrere Stunden fahren müssen, um die essentiellen Dienstleistungen wahrzunehmen, die alle im Zentrum liegen, oder um zur Arbeit zu gelangen. Das Wachstum der Stadt eröffnet den Raum für Bodenspekulation in der Erwartung, dass Landparzellen am Rande der Stadt bestimmt bald bebaut werden.

In den 1990ern und 2000er Jahren schafften es viele Menschen, über Ersparnisse ihre Wohnungen zu kaufen, die Wohneigentumsquote lag 2002 bei über 50%. Doch in den letzten 20 Jahren mieten die Menschen aufgrund des geringen Einkommens vermehrt.

Ist es der Traum der Menschen, Eigentümer zu werden?

Die Generation meiner Eltern verfolgte den Traum des eigenen Hauses. Die eigene Wohnung steht in Chile für sozialen Aufstieg, für die Möglichkeit, der Armut zu entkommen, dem Schicksal nicht mehr ungeschützt ausgeliefert zu sein: Nie weiß ich, ob ich morgen noch ein Einkommen oder Arbeit habe, doch immerhin habe ich eine Wohnung. In den 1990ern war das noch realisierbar. Heute sind die Wohnungspreise jedoch so hoch, dass nur Menschen mit sehr hohen Einkommen einen Wohnungskauf in Betracht ziehen können.

Das Mindesteinkommen in Chile liegt bei ca. 300 Euro pro Monat. Um über die Runden zu kommen, braucht es aber um die 500 Euro. So hoch liegt momentan das gemittelte Einkommen. Es reicht gerade so, um als Einzelperson ohne Kinder durchzukommen. Dementsprechend ist die Verschuldungsrate der Chilen/innen enorm.

Werden die Menschen unfreiwillig zu Mieter/innen?

Ja, vor zwanzig Jahren war in einem Gebäudekomplex mit zwei bis drei Kernfamilien meist eine die Eigentümerin. Seit Anfang der 2000er steigt der Anteil der Mieter/innen deutlich. Doch auch eine Wohnung zu mieten ist nicht einfach, da oft ein Einkommen verlangt wird, das ein Dreifaches der Miete beträgt. Daher pferchen sich inzwischen oft mehrere Haushalte zusammen in eine Wohnung.

Gibt es organisierte Mieter/innen in Chile?

Beim Wohnthema geht es erstmal um den Wunsch, überhaupt an eine Wohnung zu kommen. Da viele Menschen weder Geld haben, um Wohnungen zu kaufen, noch sie zu mieten, gibt es informelle Ansiedlungen, die sogenannten Tomas (spanisch: tomar/nehmen). Zudem werden die Sozialwohnungen, die der Staat den Ärmsten zuteilt, nach marktwirtschaftlichen Kriterien hergestellt und sind somit sehr klein und von minderer Qualität. Es regnet hinein, Kälte zieht durch die Ritzen. Die Recht auf Wohnen-Bewegung besteht also aus Menschen, die in Sozialwohnungen leben und Wohnraum besserer Qualität fordern, sowie aus denen, die in Tomas leben und eine Sozialwohnung benötigen. Sie alle kämpfen für ein Recht auf Eigentum an Wohnraum. Die Mietenexplosion ist noch neu – 2018 gab es erstmals eine Reportage zu den steigenden Mietpreisen.

Im September 2022 wurde der in basisdemokratischen Prozessen erarbeitete neue Verfassungsentwurf, welcher auch viele Passagen zum Recht auf Wohnen beinhaltete, in einem Referendum abgelehnt. Im Entwurf stand: „Der Staat kann sich an der Planung, dem Bau, der Sanierung, der Erhaltung und der Innovation von Wohnraum beteiligen.“ Warum „kann“ und nicht „muss“?

Die Verfassung der 1980er ließ den Staat komplett außen vor, basierte stark auf dem Recht auf Privateigentum, den Rechten der Unternehmen und des Marktes.

Die neue Verfassung sollte dem Staat überhaupt wieder die Möglichkeit geben, in die Marktprozesse einzugreifen. Zum Beispiel beim Thema Instandsetzung von Wohnungen hätte der Staat also ein Programm beschließen können, Menschen bei der Isolierung ihrer Wohnungen zu helfen, die dafür notwendigen Büros einzurichten und die technischen Kapazitäten anzuschaffen.

Wie ist die Stimmung im Land jetzt, einige Monate nach dem Scheitern der neuen Verfassung?

Die Stimmung vieler Menschen ist sehr gedrückt, die Enttäuschung groß. Viele fragen sich: Wofür sollen wir noch kämpfen? Der Verarbeitungsprozess dauert noch an. Die Propaganda der Rechten war sehr stark. Den Menschen wurde Angst gemacht, dass der Staat ihre Wohnungen oder Ersparnisse wegnehmen würde. Zudem gibt es einen starke strukturelle Diskriminierung in Chile. Die Verfassung hätte den Indigenen viele Rechte zugesprochen und davon fühlten andere sich wiederum bedroht. Wenn ein Kampf verloren wurde, musst du erst den Rückzug antreten, um mit neuen Strategien wiederzukommen. In den vergangenen Monaten wurde aber die Arbeit wieder aufgenommen, zum Beispiel mit Veranstaltungen und Protesten zu den steigenden Energiekosten.

In der Bewegung für das Recht auf Wohnen gibt es ja auch viele feministische Elemente. Was ist die Rolle der Frauen in der Bewegung für das Recht auf Wohnen?

Die Bewegung der Pobladoras tragen hauptsächlich Frauen, die in schlimmsten Wohnbedingungen in den Tomas leben. Die Kämpfe dieser Frauen sind beeindruckend. Oft leben sie in sehr prekären Arbeitsverhältnissen und bringen Familien mit mehreren Kindern durch. Die Bewegung für das Recht auf Wohnen wird maßgeblich von ihnen getragen.

Gibt es eine Einwanderungsbewegung von Arbeiter/innen anderer Nationalitäten?

Der Mythos von Chile als Oase Lateinamerikas ist eine Lüge. Eine kleine Gruppe besitzt den Großteil des Reichtums. Die Arbeitsmigrant/innen treffen dann auf eine sehr harte Realität von fehlenden und schlecht bezahlten Jobs. Zudem ist Chile ein recht rassistisches Land, sowohl nach innen gegenüber der indigenen Bevölkerung als auch nach außen gegen Menschen anderer Nationalitäten. Es gab Einwanderungswellen in den letzten 20 Jahren, unter anderem aus Peru, Venezuela, Kolumbien. Viele der Einwander/innen sind dann auch Teil der Pobladoras, die ein Recht auf würdevolles Wohnen fordern.

Wir danken für das Gespräch.

Das Interview führten Grischa Dallmer und Matthias Coers.

 

Paz Araya ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.


MieterEcho 432 / Mai 2023

Teaserspalte

Berliner MieterGemeinschaft e.V.
Möckernstraße 92
10963 Berlin

Tel.: 030 - 21 00 25 84
Fax: 030 - 216 85 15

Email: me(at)bmgev.de

Ferienwohnungen

Unsere Umfrage

Falls sich eine oder mehrere Ferienwohnung(en) in Ihrem Haus befinden, berichten Sie uns davon und schildern Sie Ihre Erfahrungen in unserer Online-Umfrage.