Ein Lehrstück über die Marktwirtschaft
Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD tut den Mieter/innen nicht gut
Von Marek Schauer
Nachdem die Berliner Wahl im Februar wiederholt wurde und die Verhältnisse der bekannten Wahlvereine im Abgeordnetenhaus neu sortiert waren, wussten jene Wahlvereine jeweils, was „der Wählerwille“ für sie zu bedeuten hatte. Das ist immer sehr interessant, weil einen konkreten Willensinhalt aus einem Kreuz zu entnehmen, dürfte selbst einem professionellen Hellseher schwerfallen.
Die CDU nahm als stärkste Partei den Wählerwillen für sich in Anspruch, den Bürgermeister zu stellen, die SPD noch unmittelbar nach der Wahl auch so. Man merkt – und das passt dann auch zum „willensgetilgten“ Kreuz –, dass der Wählerwille ein Legitimationsinstrument für die politischen Zwecke der Wahlvereine ist und sonst gar nichts.
Am Ende ist der Wählerwille dann Begründung für eine Koalition von CDU und SPD geworden. Zuvor hatten sich CDU/SPD, CDU/Grüne und SPD/Grüne/Linke zu Sondierungen getroffen. Nachdem sich insbesondere enttäuschte Grüne und Linke auf den sozialen Medien wie Twitter mit hämischen und beleidigten Sozialdemokraten eine zum Fremdschämen unangenehme Schlammschlacht wegen der verschmähten Neuauflage von Rot-Grün-Rot geleistet haben, legten die Koalitionäre nun den entsprechenden Koalitionsvertrag vor. Dabei geben die Koalitionäre ihr Bestes. „Das Beste für Berlin“ lautet auch die Überschrift des Vertrages, und deshalb wird sich allenfalls in Nuancen etwas für Berlins Mieter/innen ändern. Aber der Reihe nach.
Einst sind die Ossis wegen fehlender Bananen und Compact Discs gegen einen ganzen Staat auf die Straße gegangen, weil die Planwirtschaft versagte, diese Gebrauchsgüter zur Verfügung zu stellen. Mit der freien Marktwirtschaft und der sie betreuenden Demokratie wollen Ossis wie Wessis die viel existienziellere Wohnungsfrage in den Großstädten offenbar nicht mehr in Zusammenhang bringen. Das ist fatal. Bei den Kolleg/innen vom Berliner Mieterverein schließt man im „Mietermagazin“ (3/19) bereits: „Der Markt versagt. (…) Die Kräfte des freien Wohnungsmarktes schaffen es nicht, genügend bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen.“ Das tut so, als gäbe es eine planvolle Aufgabe „des Wohnungsmarktes“. Von wegen: Wie soll eine Ansammlung von Konkurrenten um den Immobilienmarkt um den höchstmöglichen Gewinn aus dem Geschäft mit der Miete so ein Interesse auch haben? Die Marktteilnehmer versagen nicht, sie verfolgen genau den Zweck, den sich der auf Wirtschaftswachstum scharfe Berliner Stadtstaat dem Grunde nach wünscht.
Der Markt funktioniert, wie er soll
Der Koalitionsvertrag jedenfalls ist – bezogen auf das Angebot eines schlicht im Leben notwendigen Obdachs – ein Zeitdokument über die Verheerungen freier Marktwirtschaft. Konsequenterweise packt die Koalition das Thema Mieten in die Abteilung Soziales. „Es geht darum, den sozialen Ausgleich in unserer Stadt zu bewahren und zu fördern, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen (…)Die große soziale Frage des Jahrzehnts ist die Frage des bezahlbaren Wohnens. Wir bekennen uns zu einem effektiven Schutz von Mieterinnen und Mietern und dazu, mit aller Kraft den Bau von bezahlbaren Wohnungen in der Stadt voranzubringen.“ Damit dokumentiert die Koalition, dass Wohnen keine Selbstverständlichkeit in der von ihr verwalteten Welt ist – die Hinweise im Vertrag zur Obdachlosigkeit, die bis 2030 nicht mehr das schöne Stadtbild stören soll, bestärken diese Diagnose. Ferner haben viele Berliner/innen offenbar systematisch so wenig Einkommen, dass sie sich keine für ihre Reproduktion notwendige Wohnung zu leisten vermögen. Freie Marktwirtschaft versagt da nicht, sie funktioniert: Die Arbeitgeber kalkulieren den Lohn nach ihrem Geschäft und nicht nach den Ausgaben wie Miete oder Heizung und Brot, und die Immobilienwirtschaft holt aus dem Einkommen eben raus, was sie kann – Mietpreisbremse hin oder her. Die Beschwerde soll sich so ein Mieter erstmal trauen.
Zunächst darf sich erst einmal das Bau- und Immobilienkapital freuen: „Den Neubau bezahlbarer Wohnungen treiben wir gemeinsam und mit sehr ambitionierten Zielsetzungen voran. Wir bekennen uns grundsätzlich zum Neubauziel von durchschnittlich bis zu 20.000 neuen Wohnungen pro Jahr, davon bis zu 5.000 Sozialwohnungen. (…) Angesichts der aktuellen schwierigen und krisenhaften Rahmenbedingungen in der Bauwirtschaft wird dieses Ziel in der verbleibenden Legislaturperiode nicht sofort erreichbar sein. (…) Von den neu zu errichtenden Wohnungen soll ein Anteil von rund 6.500 Wohneinheiten pro Jahr auf die Landeseigenen Wohnungsgesellschaften (LWU) entfallen. (…) Die Wohnungsbauförderbestimmung (WFB) werden wir überprüfen und zügig an die geänderten Umfeldbedingungen wie erhöhte Zinsen und Baukosten anpassen. Dazu werden in der WFB die Bedingungen so justiert, dass eine angemessene Wirtschaftlichkeit der Immobilien erreicht wird. (…) Darüber hinaus wird die Koalition zusätzliche Förderungen für den Bau von Frauen-, Studierenden- und Azubi-Wohnheimen, für Wohnraum für Wohnungslose, insbesondere Neu- und Umbau von Housing-First-Projekten, aufsetzen. (…) Die Wärmewende muss für Mieter und Eigentümer sozialverträglich und bezahlbar gestaltet werden.“
Das sind die wesentlichen Passagen der Bauen, Bauen, Bauen-Abteilung im Vertrag, denen man entnehmen kann, dass Immobiliengeschäftemacher auch Sozialfälle zu sein scheinen, wenn sie ohne Fördermaßnahmen, wie etwa günstige Darlehen oder Zuschüsse, gar nicht auf die Beine kommen. Wo Mieter/innen freundliche Ratschläge ihrer Landlords bekommen, doch einfach mal mehr arbeiten zu gehen, wenn die Miete bis zu 50% und mehr ihres Einkommens ausmacht, müssen Vermieter/innen zur Realisierung ihrer Gewinne nur beim Staat nach Steuergeldern fragen, um ihre Gewinnrechnungen aka „Wirtschaftlichkeit der Immobilien“ zu realisieren.
Nebenbei erfährt man durch geständige Einlassung auch den Grund der „Wohnungsnot“: Das Immobiliengeschäft mit den „einkommensschwachen Haushalten“ lohnt schlicht nicht und erst recht in ökologischer Hinsicht („Wärmewende“). Nochmal: Der Markt versagt nicht, genau so läuft er eben. Und die Bauunternehmen werden schon die Angebotshefte bereithalten und dürfen sich trotz „krisenhafter Rahmenbedingungen“ auf weitere Gewinne freuen.
Ferner ist es schon ein Widerspruch, wenn an jeder Stelle von bezahlbarem Wohnraum die Rede ist, gleichzeitig jedoch nur ein Viertel des Neubauziels Sozialwohnungen sein sollen. Wer den Zweck „bezahlbaren Wohnraum“ ausgibt, der muss dann in der Konsequenz auch diesen erfüllen und den Neubau dem unterordnen. Unbezahlbaren Wohnraum gibt es ja nun schon genug.
Zahnlose Absichtserklärungen
Die Koalition hat natürlich auch ein „Herz für Mieter/innen“. Sie setzt sich „für einen konsequenten Schutz von Mieterinnen und Mietern ein und nutzt alle Instrumente auf Landes- und Bundesebene, die einen verbesserten Mieterschutz gewährleisten. (…) Die Koalition strebt die Einrichtung einer Prüfstelle zur Einhaltung der Mietpreisbremse an. (…) Darüber hinaus wird sich das Land Berlin im Bundesrat weiterhin für Gesetzesänderungen zum Mieterschutz einsetzen, z. B. für die Verlängerung, verbesserte Durchsetzbarkeit und Sanktionierung der Mietpreisbremse, eine Kappungsgrenze bei Indexmietverträgen, Verbesserungen beim Kündigungsschutz (Schonfristzahlungen, Eigenbedarfskündigungen, Härtefallregelungen), die Verlängerung des Umwandlungsvorbehalt über 2025 hinaus und gegen Mietwucher. Die Koalition setzt sich (…) Die Koalition begrüßt (…)Es soll (…) Wir wollen prüfen (…)“.
Wenn man mal von der grundsätzlichen Frage absieht, warum Menschen mit dem Bedürfnis nach einem Obdach eigentlich zusätzlichen „Schutz“ brauchen, ist das ganze nicht mehr als heiße Luft und ein Entschuldigungszettel: Sämtliche „Mieterschutzinstrumente“ können auf Landesebene gar nicht umgesetzt werden und gleichzeitig glaubt man, mit der Partei, die den Mietendeckel gekippt und im Bund dafür gesorgt hat, dass die Mietpreisbremse erst durch den Kampf des um sein Obdach besorgten Mieters durchgesetzt werden muss, solche Projekte durchführen zu können?
Kein Wunder, dass sich die Passagen zum Mieten und Wohnen lediglich in zahnlosen Absichtserklärungen ohne Verbindlichkeiten verlieren. Bis auf die Passage zum alten sozialen Wohnungsbau, wo Mieten durch den Wegfall der Förderung massiv gestiegen sind und steigen („Durch die gesetzliche Absicherung von Verpflichtungsmieten und Mietzuschüssen im alten sozialen Wohnungsbau wollen wir Härten aufgrund hoher Kostenmieten vermeiden.“) gibt es wenig bis keine verbindlichen Passagen zu konkreten Projekten. Der Status quo wird für weitgehend positiv erachtet, was Verben wie „verstetigen, verstärken, bekennen zu“, die in Dauerschleife das Papier durchsetzen, ausdrücken. Man liegt begrifflich nicht daneben, wenn man den Koalitionsvertrag in Sachen Mieten und Wohnen selbst unter den Möglichkeiten des Sozialstaates als lahme Ente bezeichnet.
Rechtsanwalt Marek Schauer, spezialisiert auf Miet- und Wohnungseigentumsrecht.
MieterEcho 432 / Mai 2023