Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 435 / August 2023

Ein bisschen Vietnam in Berlin

Das Dong Xuan Center in Lichtenberg ist viel mehr als nur ein großer Asia-Markt

Von  Huyen My Khuat und Antonie Schmiz  

„Entschuldigung!“ , ruft jemand hinter mir. Ich drehe mich abrupt um und stehe vor einer Sackkarre, auf der sich die Kartons so hoch stapeln, dass der junge vietnamesische Mann dahinter kaum zu erkennen ist. Ich weiche aus und er bahnt sich den Weg weiter durch die Gänge des Ladens. Routiniert schiebt er die schweren Kisten mit asiatischen Lebensmitteln vor sich her.     


Überall hocken und stehen Menschen, eilen Arbeiter/innen vorbei, packen Kisten aus und sortieren Waren in die Regale: Reispapier, Fischsauce, fermentierte Bohnen, Blattgemüse, aber auch getrocknete und tiefgekühlte Ware. Selbst lebende Fische und Krustentiere lassen sich hier aus Aquarien kaufen. Auf dem Boden vor den Kühlschränken liegen zerrissene Kartons, die als Bodenunterlage dienen. 

Eine Frau steht an einem Klapptisch, auf dem eine melonengroße, gelbgrüne, stachelige Frucht liegt, in ihren Händen ein langes Hackmesser mit Bambusgriff. Vorsichtig schneidet sie die Frucht in zwei Hälften. Das zellartig unterteilte Fruchtfleisch kommt zum Vorschein, bevor sie es in Styroporschalen abpackt. Süßliche Zwiebel? Käse? Ein einzigartiger Geruch durchdringt mich und ich rümpfe die Nase. Der Geruch der Quả Mít, die in Deutschland auch als Jackfrucht bekannt ist, schreckt zunächst ab. Ihr buttriger, frischer Geschmack kann dann aber durch seine Ähnlichkeit mit Mango, Banane und Apfel überzeugen. Ob frisch serviert, in Gebäck, Eis oder anderen Gerichten verarbeitet, findet sie im Dong Xuan Center eine große Käuferschaft.

Dieser asiatische Lebensmittelladen ist nur eines der vielen Geschäfte in den Hallen des Großhandelszentrums in Lichtenberg, das nach dem Markt in der Altstadt Hanois benannt ist. Wenn ich Fernweh habe, besuche ich regelmäßig diesen ganz speziellen Ort inmitten Ostberlins. Schlendere ich dann durch die Hallen, erlebe ich „Klein Hanoi“ mit allen Sinnen. Dicht an dicht wartet hinter jeder Tür ein Laden mit einem einzigartigen Warensortiment. Auf einer Fläche von über 165.000 qm vermietet die Dong Xuan GmbH in sechs Hallen Gewerberäume für mehr als 400 Unternehmen mit rund 2.000 Beschäftigten.

Chance für Vertragsarbeiter/innen

Unter ihnen sind Menschen, die erst kürzlich in Deutschland angekommen sind. Sie finden hier Arbeit, sozialen Anschluss und Zugang zu einer spezifischen Infrastruktur, um sich ein neues Leben fernab von Vietnam aufzubauen: Rechtsanwälte, Übersetzungsbüros und vieles mehr. Das Center bildet eine Art Mikrokosmos, einen Ort des Austauschs für die hier niedergelassenen Händler/innen. Es nimmt eine essenzielle Rolle für die vietnamesische Gemeinschaft ein, die sich in seiner Geschichte widerspiegelt.

Das Großhandelszentrum wurde 2005 durch Nguyen Van Hien auf dem Gelände des ehemaligen VEB Elektrokohle gegründet. Auch er befand sich nach der Schließung vieler DDR-Betriebe, in denen mehr als 60.000 vietnamesische Vertragsarbeiter/innen tätig waren, in einer Situation großer Unsicherheit. Während die Nachwendezeit für viele Deutsche eine Neuorientierung und eine Aufhebung von Mobilitätsbarrieren darstellte, verloren die vietnamesischen Vertragsarbeiter/innen von einem auf den anderen Tag ihre Arbeitsplätze in der DDR-Industrie und lebten bis 1997 in der aufenthaltsrechtlichen Schwebe, ohne finanzielle Mittel und Unterstützung beim Zugang zum Arbeitsmarkt.

Ein großer Teil von ihnen kehrte nach Vietnam zurück, obwohl das Land weiterhin mit den Folgen des Krieges zu kämpfen hatte und keine Zukunftsperspektiven für sie bot – sodass viele schnell die Rückreise nach Deutschland antraten. Für die verbliebenen Vietnames/innen war die Selbstständigkeit der einzige Weg, sich aus ihrer prekären Situation zu befreien. 

Bereits zu DDR-Zeiten nähten viele in ihrer Freizeit imitierte Jeans-Kollektionen und brachten die nachgefragte Mangelware in den Umlauf. So entstanden für sie aus der Not heraus neue Möglichkeiten: Sie bauten ihre Handelsaktivitäten, insbesondere jene im Textilbereich, aus und nutzten belebte Straßenecken, S-Bahnhöfe und Flohmärkte, um im kleinen informellen Stil mit Konsumgütern und Textilien zu handeln. Ob Waren aus Vietnam, China, Thailand oder anfangs Osteuropa – transnationale Handelsnetzwerke ermöglichten die Weiterentwicklung vom Straßenverkauf über den Einzel- und Großhandel zu Import- und mittlerweile auch Exportgeschäften.

Die Gründung des Dong Xuan Centers ebnete vielen ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter/innen den Weg aus der wirtschaftlichen Marginalisierung, auch wenn viele der Beschäftigten zu relativ geringen Löhnen arbeiten – gerade, wenn sie die Jobs im Center als Einstieg in den Berliner Arbeitsmarkt nutzen. Anfangs noch für den Großhandel ausgelegt, durchlebte das Center eine Transformation zu einem wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Zentrum für mehr als 36.000 in Berlin lebende vietnamesische Staatsbürger/innen, von denen rund 11.500 im Bezirk Lichtenberg leben. 

Wer aber glaubt, dass das Dong Xuan Center nur unter Vietnames/innen beliebt ist, liegt falsch: Unternehmer/innen und Händler/innen aus Indien, Pakistan, Afghanistan oder auch China treffen hier sowohl auf eine ebenso lokale Lichtenberger Kundschaft als auch auf internationale Besucher/innen auf der Suche nach einem Schnäppchen oder einer Erfahrung der anderen Art.

Seit Kurzem lässt sich beobachten, dass sogenannte Frachtdienstleister zu den Mieter/innen des Dong Xuan Centers gehören. Diese reagieren auf die große Nachfrage nach „Made-in-Germany”-Produkten in Vietnam und anderen asiatischen Ländern und exportieren vor allem Kosmetikartikel, Nahrungsmittel für Babys sowie Kleinkindausstattung.

Die beschriebene Transformation des Centers verläuft jedoch nicht reibungslos. Das Center unterliegt dem Entwicklungskonzept für den produktionsgeprägten Bereich im Stadtentwicklungsplan Industrie und Gewerbe, was sowohl die Abgabe von Waren an Privatkunden, als auch Dienstleistungsbetriebe, wie Friseure und Nagelstudios ausschließt. Offiziell darf nur bis zu 10% der Ware an Privatkund/innen über die Ladentische wandern; Restaurants sind offiziell Betriebskantinen für die Beschäftigten in den Hallen. Die Erweiterung des Centers um ein Hotel und den kürzlich fertiggestellten Neubau des historisch wichtigen Kulturhauses beruhen auf langjährigen Verhandlungen zwischen dem Bezirk und der Leitung des Centers.

Große Nutzungskonflikte im Gebiet 

Verhandelt wird hier über wohn- und freizeitbezogene Nutzungen, die sich planungsrechtlich nicht mit den anrainenden Produktions- und Industriestandorten und deren Lärm- und Feinstaubemissionen vereinbaren lassen. Mit der Einhaltung des Stadtentwicklungsplans unterstützt der Bezirk die Erhaltung bezahlbarer Mieten für Industrie und Gewerbe in Zentrumsnähe und widersetzt sich dessen Verdrängung an den Stadtrand. Zudem möchte er den Einzelhandel in den bestehenden Zentren des Bezirks schützen, welcher sich durch die Pandemie-Jahre mit neuen Herausforderungen konfrontiert sieht.

Gleichzeitig ist das Dong Xuan Center für den Bezirk aber ein wichtiger Steuerzahler, der eine große Anzahl an Arbeitsplätzen sicherstellt. Für Berlin erfüllt das Center die Vision einer Chinatown, die Berlin über viele Jahre an unterschiedlichen Standorten initiiert oder unterstützt hat. Eine solche Ethnisierung von Außen entspricht zwar nicht der heterogenen Händler/innenschaft, diese profitiert jedoch von der Referenz auf international bekannte Chinatowns und die damit zusammenhängende Beliebtheit des Centers unter Tourist/innen. 

Diese unterschiedlichen Interessenlagen werden in einem lokalen Umfeld ausgehandelt, in dem seit vielen Jahren auch Künstler/innen um ihre Ateliers, Ausstellungsräume und Werkstätten kämpfen, die ebenfalls von Nutzungseinschränkungen durch das Planungsrecht im Gewerbegebiet betroffen sind. Mit der wachsenden Lichtenberger Kulturlandschaft auf der einen und Neuentwicklungen auf der anderen Seite – wie dem kurz vor der Eröffnung stehenden benachbarten Topas-Gewerbepark – bleibt abzuwarten, wie der Spagat im Nutzungskonflikt um das Gewerbegebiet Herzbergstraße gelingen kann.  

 

Huyen My Khuat (li.) ist Masterstudentin der Historischen Urbanistik an der Technischen Universität Berlin.
Antonie Schmiz (re.) ist Professorin für Humangeographie an der Freien Universität Berlin.


MieterEcho 435 / August 2023

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