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MieterEcho 430 / Februar 2023

Der Wedding driftet auseinander

Hochpreisige Immobilien und erschreckende Sozialdaten prägen die aktuelle Entwicklung des alten Arbeiterbezirks

Von Rainer Balcerowiak

„Der Wedding: Vom Kleine-Leute-Viertel zum Szenekiez“ So und so ähnlich preisen Immobilienunternehmen seit Jahren ihre Projekte in den 1861 eingemeindeten Vorstädten Wedding und Gesundbrunnen an. Längst droht dem Bezirk besonders in den begehrten Altbauquartieren eine ähnliche Entwicklung, wie sie in Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Nord-Neukölln schon weit fortgeschritten ist.

Die Geschichte dieses Stadtteils wurde von vielen Sprüngen und Brüchen geprägt. Schnell entwickelte sich das zuvor hauptsächlich landwirtschaftlich genutzte Dorf Wedding zu einem industriellen Kern der boomenden Stadt. Die kleinteilig und unzusammenhängend bebaute Vorstadt wurde wie aus dem Nichts zur Großstadt mit 330.000 Einwohner entwickelt. Viele große Industriebetriebe haben sich dort in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt, darunter AEG, die Berliner Maschinenbau AG, Schering, Rotaprint, Osram und die erste industrielle Brotfabrik Wittler. In extrem verdichteter Bauweise wurden Quartiere für die Arbeiter errichtet, in denen die Arbeiter und ihre Familien unter kaum noch vorstellbaren hygienischen und räumlichen Bedingungen leben mussten. Oftmals wurden die einzelnen Parzellen mit einem Vorderhaus und 4-5 Hinterhöfen bebaut. 1920 wurde der Wedding im Rahmen der Bildung von Groß-Berlin als eigener Stadtbezirk konstituiert. 

In den 1920er Jahren wurde der Bezirk zu einer Hochburg der Arbeiterbewegung, der „Rote Wedding“ entwickelte sich zu einem Mythos, der – nicht zuletzt aufgrund des gleichnamigen Liedes – auch heute noch in linken Kreisen gepflegt wird. Zunächst die USPD und nach deren Auflösung die KPD und die SPD dominierten die Bezirkspolitik. Auch für die Terrorbanden der SA war der Wedding ein Hotspot. Ab Anfang der 1930er Jahre gab es regelmäßige, oftmals blutige Überfälle und Straßenschlachten, nach der Machtergreifung der NSDAP landeten viele Kommunisten und Sozialdemokraten aus dem Wedding im Gefängnis und später im KZ.

Der „abgehängte“ Bezirk

Nach dem Sieg der Alliierten über den Faschismus gehörte Wedding zum französischen Sektor und in der Phase des Wiederaufbaus änderte sich zunächst nur wenig an der räumlichen und sozialen Struktur des Bezirks. Eine regelrechte Blütezeit erlebte allerdings die Badstraße. Sie wurde nach der Währungsreform 1948 zur beliebten Einkaufs- und Amüsiermeile für Ostberliner mit vielen Märkten, Kinos und auch kleinen Varieté-Theatern.

Doch nach dem Bau der Mauer im August 1961 rückte der zuvor eng an die Berliner Innenstadt und die Bezirke Pankow und Prenzlauer Berg angebundene Wedding plötzlich an den Rand. Wer konnte, verließ die alten, heruntergekommenen Arbeiterquartiere und zog in die neueren Siedlungen Berlins. Die Lücke füllten ab Anfang der 1970er Jahre vor allem türkische Gastarbeiter/innen, die das Bild vieler Quartiere bald nachhaltig prägten – was den Exodus vieler Alt-Weddinger weiter beschleunigte. Seitdem gehört der Wedding zu den Stadtteilen mit den höchsten Anteilen an Bewohner/innen mit Migrationshintergrund. In dieser Zeit begann auch die Deindustrialisierung des Bezirks, bis auf Schering (gehört heute zur Bayer AG) sind die oben genannten Großbetriebe schon längst Geschichte. In den Gebäuden entstanden später teilweise kleinteilige Gewerbehöfe, Technologie-Parks oder auch selbstverwaltete, alternative Projekte wie das ExRotaprint. 

Der Wedding galt nunmehr – ähnlich wie Moabit – als abgehängter, wenig attraktiver Bezirk. Anders als in Kreuzberg, das sich in den 1970ern zum Hotspot und Sehnsuchtsort der linken und alternativen Szene entwickelte, blieb der Wedding recht unbeachtet, obwohl auch hier einige Häuser besetzt wurden und linke Projekte und Treffpunkte entstanden. 

Das änderte sich ab 1990. Nach dem Fall der Mauer rückte Wedding räumlich plötzlich wieder ins Zentrum der Stadt, doch es sollte noch einige Zeit dauern, bis die Immobilienbranche das große Aufwertungspotenzial in diesem „Mauerblümchen“ erkannte. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch die Bezirksreform im Jahr 2001. Wedding verlor seine Eigenständigkeit und wurde zusammen mit (Alt-)Mitte und Tiergarten in den neuen Ost-West-Bezirk Berlin-Mitte eingegliedert. 

Der Immobilienboom nahm allmählich Fahrt auf. Die Preise stiegen sowohl bei Eigentumswohnungen im Bestand und im Neubau, als auch bei den Angebotsmieten prozentual deutlich stärker als in den meisten anderen „Trendbezirken“. Ein Prozess, der unweigerlich zu Verdrängung und stärkerer sozialer Spaltung führt. In der Sprache der Immobilienbranche liest sich das so: „Für Zukunftsorte ist es typisch, dass man es oft gar nicht wahrnimmt, wenn sie in der Gegenwart angekommen sind. So verlief auch im traditionsreichen Industrie- und Arbeiterviertel Wedding der Strukturwandel vom industriell geprägten Bezirk zum Spot für Wissenschaft und Forschung stetig aber für Außenstehende oft eher unbemerkt. Über Jahre wurde die fließend übergehende Nachbarschaft zu den teuren Lagen in Mitte als wichtigste Lagequalität betrachtet, während sich im Hintergrund die eigentlich interessanten Spots entwickelten. Tolle Kieze entlang der Panke, das hyperaktive Leben entlang der Müllerstraße, die bei jungen Internationals besonders gefragten Quartiere Soldiner, Gesundbrunnen und Schillerpark. Das alles ist Wedding.“

Doch gerade in den genannten Kiezen, aber auch in anderen Weddinger Quartieren zeigt sich die Diskrepanz zwischen der schönen, neuen Lebenswelt der Betuchteren und der sozialen Realität der meisten Bewohner/innen besonders deutlich. Im „Gesundheits- und Sozialstrukturatlas 2022“ der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung werden die einzelnen Planungsräume kleinteilig untersucht, wobei Indikatoren wie Erwerbslosigkeit, Transferleistungsbezug, Kinder- und Altersarmut, Bildungsstatus, Gesundheitsstatus, Wohnsituation u.a.m. verwendet werden. Auch das aktuelle „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ operiert teilweise mit diesen Indikatoren, mit einem besonderen Fokus auf die soziale Ungleichheit und die jeweilige positive oder negative Entwicklungsdynamik in den einzelnen Planungsräumen.

Erschreckende Sozialdaten

Während der Bezirk Mitte in Gänze eine positive Entwicklung verzeichnet, weist der Wedding eine Häufung von „Problemkiezen“ auf, die stadtweit zur Spitzengruppe bei den besonders negativen Gesamtwerten beim „Gesundheits- und Sozialindex“ (GESIx) gehört. Im Einzelnen sind das die Planungsräume Soldiner Straße, Drontheimer Straße, Koloniestraße, Gesundbrunnen, Brunnentraße, Humboldthain Nordwest, Reinickendorfer Straße, Antonstraße, Uferstraße, Schwedenstraße und Leopoldplatz. Einige Indikatoren, wie etwa die Facharztdichte und Häufung bestimmter Krankheitsbilder, weisen dabei schier unglaubliche Ausreißer nach unten auf.

Das alles sind offiziell Kieze mit besonderem „Beobachtungs- und Handlungsbedarf“. In einigen wurden Quartiersmanagement-Büros eingerichtet. Das betrifft die Areale Reinickendorfer-/Pankstraße, Brunnenviertel, Badstraße und Soldiner Straße/Wollankstraße. In anderen wurden – nach langem Zögern – auch insgesamt 9 Milieuschutzsatzungen erlassen. Doch weder konnte durch diese arg limitierten Instrumente die soziale Infrastruktur nachhaltig verbessert werden, noch hat sich an der Verdrängungsdynamik grundlegend etwas geändert.  

Der Wedding gehört zweifellos zu jenen Stadtteilen, in denen die sozialen Gegensätze besonders krass aufeinanderprallen. Verlässt man die zur Ramschmeile verkommene Badstraße und das als „stark kriminalitätsbelastet“ eingestufte Areal um den Bahnhof Gesundbrunnen einige hundert Meter in Richtung Prenzlauer Berg, wird schnell offensichtlich, dass hier vollkommen neue Lebenswelten entstanden sind. Und an Markttagen begegnen sich auf dem Leopoldplatz Obdachlose und die gesetzte grüne Klientel quasi Auge in Auge. Der „Mythos Wedding“ ist längst verblasst, selbst der für den Bezirk quasi identitätsstiftende Fußballverein Hertha BSC hat dort seine Zelte schon vor vielen Jahren abgebrochen und ist in den nobleren Teil von Charlottenburg umgezogen. Was übrig bleibt, ist die kapitalistische Aufwertungslogik mit dem Bild des „typisch berlinerischen Stadtteils“ als Kulisse. Noch ist der seit vielen Jahren prophezeite ganz große Wedding-Hype nicht ausgebrochen. Aber er wird kommen. Noch sind die meisten Areale des Bezirks als „überwiegend einfache Wohnlage“ eingestuft, mit vergleichsweise niedrigen Bestandsmieten. Aber auch das wird sich ändern.


MieterEcho 430 / Februar 2023