Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 431 / April 2023

Der 30%-Irrtum

Eine starre Obergrenze für „leistbare Mieten“ geht an der sozialen Realität vieler Haushalte vorbei

Von Sigmar Gude

Die kontinuierlich starken Steigerungen der Mieten, insbesondere der Angebotsmieten, hat die politischen Forderungen nach der Begrenzung des Mietanstiegs auf leistbare Mieten verstärkt. Die Frage, was eine leistbare, sozialverträgliche Miete sei, ist aber keineswegs leicht zu beantworten. 

In Berlin hat sich dafür in den letzten Jahren in der politischen Öffentlichkeit 30% weitgehend als die Obergrenze durchgesetzt, die bei der Mietbelastung nicht überschritten werden sollte. Die Übereinstimmung hinsichtlich der 30% ist dabei erstaunlich breit und weitgehend einhellig. Senat und politische Parteien beziehen sich dabei genauso darauf wie Mietervertreter/innen und -initiativen, die Immobilienwirtschaft und die Presse. So ist in Vereinbarungen zwischen dem Berliner Senat und Wohnungsbaugesellschaften 30% als Obergrenze festgelegt worden.

Dabei wurden allerdings zwei unterschiedliche Berechnungsmethoden für die Bestimmung der 30% verwendet. Für Bestandsmieter/innen der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften gilt eine Obergrenze von 30% bezogen auf die Nettokaltmiete. Für alle Mieter/innen im Sozialen Wohnungsbau, das heißt im öffentlich geförderten Wohnungsbestand mit Mieten- und Belegungsbindungen sowohl der privaten wie auch der kommunalen Wohnungsunternehmen, gilt eine Obergrenze von 30% bezogen auf die Bruttowarmmiete. Dass dies einen deutlichen Unterschied macht, war schon vor den enormen Steigerungen der Heizkosten klar. Dieser Unterschied betrug ca. 5 Prozentpunkte. Eine Kaltmietbelastung von 30% entsprach einer Bruttowarmmietbelastung von ca. 35%. 

Angesichts der weitreichenden Einigkeit sollte man annehmen, dass die 30% auf genauen wissenschaftlichen Studien basieren würden, und die Grundlagen und die sozialen Auswirkungen einer solchen eindeutigen Festlegung untersucht worden wären. Erstaunlicherweise ist das Gegenteil der Fall. Es existiert keine Untersuchung, die die 30%-Grenze genauer hinsichtlich ihrer sozialen Auswirkungen und die Tragbarkeit durch die Haushalte analysiert hätte. Schon gar nicht eine, die belegen würde, dass 30% eine sozialverträgliche Miethöhe definieren würde.

Große Haushalte profitieren kaum

Die fehlende Überprüfung ist bereits erstaunlich, noch viel erstaunlicher ist das Ergebnis einer solchen Überprüfung, denn sie zeigt, dass die Festlegung auf die 30%-Grenze von einem prinzipiell falschen Ansatz ausgeht und dass ihre Auswirkungen im höchsten Maße unsozial sind. Eine Aussage zur Leistbarkeit der Miete ist davon nicht abzuleiten. 

Die Analyse der Mietbelastungsquoten unterschiedlicher Haushaltstypen zeigt, dass es keinen einheitlichen Mietbelastungswert geben kann, da deren unterschiedliche Lebensbedingungen ganz unterschiedliche Grenzen setzen. Die Grafik zeigt dies anhand der zwei wichtigsten Unterschiede: Haushaltsgröße und Einkommensniveau.

In der Grafik, basierend auf der Befragung von knapp 3.000 Haushalten in der Berliner Innenstadt 2021, sind die Mietbelastungsquoten erstens getrennt nach Haushaltsgrößen (1 bis 5 und mehr Personen) dargestellt. Zweitens sind die Mietbelastungsquoten der einzelnen Haushaltsgrößen nach dem Einkommensniveau in vier Gruppen vom unterdurchschnittlichen bis zum deutlich überdurchschnittlichen Einkommen unterteilt. Es zeigt sich, dass die Mietbelastung mit wachsender Haushaltsgröße kontinuierlich abnimmt und zwar gleichmäßig in allen Einkommensgruppen. Offensichtlich sind die kleineren Haushalte eher in der Lage, einen höheren Anteil ihres Einkommens für die Miete aufzuwenden.

Das zweite Ergebnis, das aus dieser Grafik abzulesen ist, erstaunt weniger. Mit steigendem Einkommen sinkt die Mietbelastungsquote. Insgesamt zeigt sich aber, dass ein einzelner Mietbelastungswert den unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten der Haushalte nach Personenzahl nicht gerecht wird. Während kleine Haushalte mit geringem Einkommen – sicherlich nicht freiwillig – immerhin in der Lage sind, Mietbelastungsquoten von über 30% zu akzeptieren, ist das für große Haushalte offensichtlich nur in Ausnahmefällen möglich und dann verbunden mit einer enormen Einschränkung der Lebensmöglichkeiten. 

Eine einfache Rechnung zeigt die deutlich unterschiedlichen Auswirkungen einer Mietbelastungsquote von 30% für einen Ein- und einen Fünfpersonenhaushalt mit gleichem Einkommensniveau. Bei einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze von 1.000 Euro verbleiben dem Einpersonenhaushalt bei einer Mietbelastung von 30% 700 Euro zum Leben. Der Fünfpersonenhaushalt verfügt bei einem gleichen Einkommensniveau über 2.400 Euro. Bei einer Miete von 720 Euro, also 30%, verbleiben 1.680 Euro. Aufgeteilt auf jede Person ergeben sich nur noch knapp 340 Euro, weniger als die Hälfte, die der einen Person im kleinen Haushalt bleibt – und auch weit weniger als der Bürgergeldsatz für die große Familie ergeben würde. Ein gleichartiger Mietbelastungsprozentsatz für unterschiedlich große Haushalte führt zu derartig unterschiedlichen sozialen Auswirkungen, dass er nur als unsinnig zu beurteilen ist.

Das Beispiel zeigt bereits, dass die 30%-Grenze sozial unakzeptable Auswirkungen hat. Während kleine Haushalte von der Anwendung der 30%-Grenze deutlich profitieren würden, weil dies für sehr viele mit geringen Einkommen eine Reduzierung ihrer Miete bedeuten würde, hätten große Haushalte, in der Regel mit mehreren Kindern, nur in Ausnahmefällen etwas davon. Dabei sind es die großen Haushalte, bei denen sich die Wohnungsnot am gravierendsten zeigt. Sie können sich bei den aktuellen Mietpreisen nur noch selten eine adäquate Wohnung leisten. Fast die Hälfte der größeren Haushalte ab vier Personen lebt überbelegt. Von den Familien mit unterdurchschnittlichem Einkommen sind es bereits ca. drei Viertel. Sie wenden dabei weit überwiegend weniger als 30% ihres Einkommens für die Wohnung auf, weil sie sonst nicht mehr genug zur Finanzierung des tagtäglichen Lebens zur Verfügung hätten. 

Die abstrusen Auswirkungen der 30%-Regelung zeigen sich auch exemplarisch an der Berliner Regelung zum Mietzuschuss in Sozialwohnungen. Ein Einpersonenhaushalt mit einem Einkommen an der Obergrenze des ersten Förderwegs ist bei einer normgerechten Wohnungsgröße von 50 qm ab einer Quadratmetermiete von 8,40 Euro zuschussberechtigt. Ein Fünfpersonenhaushalt dagegen bei normgerechten 102 qm erst ab 10,90 Euro, der Vierpersonenhaushalt (90 qm) ab 10,58 Euro. Entsprechend gab es nur wenige große Haushalte mit sehr geringen Einkommen, die überhaupt anspruchsberechtigt waren.

Verbleibendes Einkommen ist relevant

Auch bei den Modellrechnungen zur Mietzahlungsfähigkeit für Berliner Bezirke und viele deutsche Großstädte wird anhand der 30%-Grenze berechnet, dass vor allem Einpersonenhaushalte eine zu hohe Mietbelastung hätten. Zwar gibt es angesichts des gewachsenen Anteils kleiner Haushalte und des geringen Angebots kleiner Wohnungen tatsächlich viele Einpersonenhaushalte mit enorm hohen Mietbelastungen von 50% und mehr, die dringend unterstützt werden müssen. Aber das Schwergewicht der vorgeschlagenen Maßnahmen so stark auf diesen Haushaltstyp zu legen, ist weder sozial noch aus Sicht einer adäquaten Wohnungsversorgung angemessen.

Es zeigt sich eindeutig, dass ein fester Prozentsatz – welcher auch immer – ungeeignet ist, als Maßstab für die leistbare Miete zu dienen. Stattdessen müssen differenziertere Bestimmungsmethoden zur Anwendung kommen, die die unterschiedlichen Voraussetzungen der Haushalte sozial adäquat einbeziehen. Das ist dann zwar nicht so schön einfach wie eine starre Prozentzahl, lässt sich aber anhand der sozialen Auswirkungen besser bestimmen und begründen. 

Solche alternativen Bestimmungsmethoden können abgestufte Prozentwerte, die Festlegung eines Mindestresteinkommens nach Abzug der Warmmiete oder die empirische Erfassung von Mietschwellen sein, die von unteren Einkommen nicht mehr getragen werden. 

Als Anforderung an eine solche Belastungsgrenze kann definiert werden, dass Wohnen dann leistbar ist, wenn nach Abzug der Wohnkosten für eine quantitativ und qualitativ ausreichende Wohnungsversorgung den Haushaltsmitgliedern ausreichende Geldmittel für eine normale Beteiligung am gesellschaftlichen Leben bleiben. 

Eine relativ einfache Veränderung der jetzigen Regelung wäre es, einen mit wachsender Haushaltsgröße sinkenden Anteil am Haushaltseinkommen als Kriterium für leistbares Wohnen anzusetzen, da dies der tatsächlichen Mietzahlungsfähigkeit näher kommt. So etwas sehen auch die Bestimmungen für den Bezug des Wohngelds vor. So könnte für die Einpersonenhaushalte die 30%-Grenze beibehalten werden, für jede zusätzliche Person im Haushalt der Satz um 2 Prozentpunkte reduziert werden.

Zwar existiert bei dieser Regelung weiterhin kein empirischer Bezug zur tatsächlichen Leistbarkeit. Aber die unterschiedliche Mietzahlungsfähigkeit der Haushalte würde zumindest berücksichtigt. Bei dem oben genannten Beispiel zum Mietzuschuss in Sozialwohnungen wären die Haushalte mit 5 und mehr Personen bereits bei einer Quadratmetermiete ab 8 Euro statt erst ab 10,91 Euro antragsberechtigt. Von dieser Regelung für leistbares Wohnen würden vor allem mehr Haushalte mit Kindern profitieren. 

Die Leistbarkeit der Mietzahlungen an bestimmte Anteile oder Mietobergrenzen zu binden, beinhaltet das grundsätzliche Problem, dass die so definierte Grenze für Haushalte mit geringen Einkommen zu hoch ist, weil das Einkommen nach Abzug der Mietaufwendungen nicht zur „normalen Teilhabe am öffentlichen Leben“ reicht. Neben den Versuchen der Definition eines festen Anteils als Grenze gibt es daher einen grundsätzlich anderen Ansatz, die Leistbarkeit sicherzustellen. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Wohnkosten dann leistbar sind, wenn das restliche Einkommen für einen Mindestlebensstandard ausreicht, der als Lebensgrundlage notwendig ist. Das Resteinkommen soll aber mehr als das Lebensminimum abdecken.

Allerdings wäre für eine exakte Festlegung eine genaue empirische Erfassung des finanziellen Bedarfs für die „Teilnahme am gesellschaftlichen Leben“ Voraussetzung. Dass eine solche Vorgehensweise wiederum abhängig von politischen Grundeinstellungen und der Einschätzung des finanziell Machbaren ist, zeigt sich ja gleichermaßen bei der Festlegung der ALG-II-Sätze und der Berechnung der Sätze für die Kosten der Unterkunft (KdU). Es besteht daher wenig Hoffnung, dass dabei etwas substanziell Besseres als die derzeitigen Bürgergeldsätze herauskommen würde. 

Die Untersuchung der Wirkungen von Mietbelastungsquoten hat jedenfalls ergeben, dass sie nur eingeschränkt flexibel an die unterschiedliche Finanzkraft der Haushalte angepasst werden können. Zudem fehlt es bei ihnen an der Rückkopplung zum tatsächlichen Geschehen auf dem Wohnungsmarkt und zu den betroffenen Haushalten. Daher soll im Folgenden eine Bestimmungsmethode leistbaren Wohnens dargestellt werden, die vom tatsächlichen, empirisch feststellbaren Mietzahlungsverhalten der Haushalte ausgeht. Kriterium für leistbares Wohnen soll dabei der Umschlagpunkt sein, ab welcher Miethöhe die Sozialstruktur der Bewohner/innen, die diese Miete zahlen, signifikant von der normalen Bewohnerstruktur abweicht. Dieses Kriterium orientiert sich allerdings an den Bestimmungen des Milieuschutzes (§ 172 BauGB) und kann nicht ohne weitere Veränderungen auf das gesamte Mietgeschehen einer Stadt übertragen werden.

Differenzierte Berechnung erforderlich

Für die Berechnung der Mietbelastungsgrenzen wird die gesamte Bruttowarmmiete anstelle der Nettokaltmiete als Ausgangswert herangezogen. Grund ist, dass sich Mieterhaushalte bei der Prüfung, ob für sie eine Miethöhe tragbar ist, an der gesamten Miete einschließlich aller Betriebs- und Nebenkosten orientieren. Nettomieten und Quadratmetermieten sind für wohnungswirtschaftliche und mietrechtliche Betrachtungen relevant, für die Entscheidungsfindung der Haushalte, ob sie eine Miete tragen können, dagegen zweitrangig. Um eine planerische Verwertung der ermittelten Mietschwellen zu erleichtern, wird am Ende der Berechnung die Mietbelastungsgrenze ebenfalls als Nettokaltmiete pro Quadratmeter angegeben. Bei der Bestimmung dieser Grenze wird zudem nach Haushaltsgröße differenziert.

Der große Vorteil der Belastungsgrenze ist, dass die Ergebnisse auf den realen Entscheidungen der Haushalte auf dem Wohnungsmarkt beruhen. Sie basiert auf einem engen empirischen Zusammenhang zwischen Mietbelastung und Mietzahlungsfähigkeit. Damit berücksichtigt sie auch die unterschiedliche Mietzahlungsfähigkeit nach Haushaltsgröße.

Die starke Bindung an und die Abhängigkeit von den Verhältnissen auf dem Wohnungsmarkt stellen gleichzeitig aber auch den Nachteil der Belastungsgrenze als Definition leistbaren Wohnens dar. Die Belastungsgrenze reagiert stark auf den angespannten Wohnungsmarkt. Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommen müssen Miethöhen akzeptieren, die für sie eigentlich die Schwelle der Leistbarkeit überschreiten, in dem Sinne der Definition, dass die Beteiligungsmöglichkeiten des Haushalts am gesellschaftlichen Leben nicht mehr voll gewährleistet sind. Damit wird die Verdrängungsschwelle auf Kosten der „normalen Teilhabe am öffentlichen Leben“ nach oben gedrückt.

Allerdings könnte eine solche, empirisch abgeleitete Mietschwelle eine große Überzeugungskraft auch bei Verfahren vor Gericht entfalten, weil sie auf keiner – stets anzweifelbaren – Wertsetzung beruht, sondern auf dem tatsächlichen Verhalten der Mieter/innen mit geringen Einkommen. Voraussetzung wäre allerdings noch, genauere Untersuchungen mit größeren Fallzahlen durchzuführen, etwa mit den Daten des Mikrozensus, um durchgängig statistische belastbare Ergebnisse vorweisen zu können.

 

Sigmar Gude ist Stadtforscher und war bis Ende 2022 Geschäftsführer der asum GmbH für angewandte Stadtforschung und Mieterberatung.


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