Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 435 / August 2023

Arbeiter und Professor in einem Kiez

Das Hans-Loch-Viertel in Friedrichsfelde ist ein Musterbeispiel für die Wohnungsbaugeschichte der DDR

Von Karin Baumert

Was man an Berlin mögen kann, ist die unendliche Weite der Stadt. Ein Freund von mir setzt sich regelmäßig mit seiner kleinen Tochter in die städtische Bahn und spontan entscheiden sie dann, wann sie aussteigen. Dann erkunden sie die Stadt. Käme man mit der U5 zufällig in Friedrichsfelde an, dann könnte man alles über modernes Wohnen in Zeiten von Wohnungsnot, ja sogar über die Geschichte des modernen Städtebaus erkunden.   

Die Geschichte des Hans-Loch-Viertels fängt mit einer bitteren Wahrheit an. Für das damals modernste Neubaugebiet der DDR mussten Kleingartensiedlungen weichen. Vielleicht war die Akzeptanz der Räumung einer Kleingartensiedlung damals größer. Nach dem Krieg wohnten viele Familien in ihren Lauben ohne Wasser und ohne Strom. Die Hoffnung auf eine Neubauwohnung war vielleicht so groß, dass die Räumung geliebter Gärten für eine neue Wohnung leichter fiel. Der Garten war nicht romantisch. Die Freude auf eine eigene Wohnung groß.

Der Architekt und Stadtbaurat Martin Wagner ließ bereits in den Jahren 1926/27 die ersten Häuser in Plattenbauweise in Friedrichsfelde errichten. Vorläufer des modernen Bauens gab es also auch in diesem Kiez. Bekannter ist die Bruno-Taut-Siedlung im Schillerkiez im Wedding neben dem ersten Volkspark Berlins, dem Schillerpark. Zu der Zeit lebten die vom Land eingewanderten Industriearbeiter/innen Berlins unter katastrophalen Wohnbedingungen. Das Bauhaus und die sich daraus entwickelnde Moderne eröffnete mit dem industriellen Bauen die Möglichkeiten für einen Wohnungsbau für alle.

Es war der Stadtbezirk Lichtenberg, der 1956 einen gesamtdeutschen städtebaulichen Wettbewerb auslobte. Der Gewinner war ein Hamburger Architekt, Hans May, der jedoch von der DDR-Regierung abgelehnt wurde. Nach der Fertigstellung der Stalinallee richtete sich das Interesse der DDR auf die Errichtung ganzer Großsiedlungen. Ende der 1950er Jahre konnte das VEB Berlin-Projekt unter Leitung von Werner Dutschke, Gerd-Heinz Brüning und Leopold Weil mit seinem Entwurf für eine Großsiedlung überzeugen. VEB steht für Volkseigener Betrieb. 

Erste Großsiedlung in Ostberlin

Anders als im Westen war der Wohnungs- und Städtebau in der DDR nicht an namhafte Architekten gebunden, sondern ein kollektiver Prozess, in dem Schöpferkraft des Einzelnen in den Hintergrund trat. So, wie der gesamte Aufbau des Sozialismus als Kollektivarbeit verstanden wurde. 1961 wurde der Grundstein für die erste Großsiedlung der DDR gelegt. In den Jahren 1961 bis 1966 wurden auf einer Fläche von ca. 80 Hektar 5.000 Wohneinheiten für ca. 15.000 Einwohner/innen gebaut. 

Das Hans-Loch-Viertel ist die erste Großwohnsiedlung Ostberlins mit den ältesten seriellen Bauweisen, die als Q3A und QX bezeichnet wurden. Q3A steht für Querwandtyp Nummer 3, Variante A. Statt Platten wurden noch Betonblöcke genutzt. Diese Serie basierte auch noch auf Ofenheizungen, wie es damals üblich war. Für das Hans-Loch-Viertel ging auch die erste Taktstraße für industrielle Wohnungsbauelemente in Betrieb. Wohnungsbaufirmen schlossen sich zu Wohnungsbaukombinaten zusammen. So konnte das serielle Bauen in Folge optimiert werden. Wohnungstypen wurden durch industrielle Bezeichnungen bekannt, wie z.B. WBS70. 

Benannt wurde das Hans-Loch-Viertel nach dem ersten DDR-Finanzminister Hans Loch, ein Jahr nach seinem Tod. Genau genommen wurde die zentrale Straße des Quartiers nach ihm benannt und das Gebiet dann nach der Straße. Hans Loch war Mitbegründer und Vorsitzender der LDPD, der Partei des Mittelstandes. 1955 wurde er seines Amtes als Finanzminister entbunden und war weiterhin für die „Bearbeitung der Fragen Gesamtdeutschlands“ verantwortlich. Er starb ein Jahr vor dem Mauerbau. Im Jahr des Mauerbaus wurde die erste Großsiedlung begonnen und bekam dann seinen Namen. Der Widerspruch zwischen dem Aufbau eines antifaschistischen sozialistischen Staates und der Teilung Deutschlands fand hier seine Würdigung.

Hier wurden nicht nur Wohnungen gebaut, sondern eine ganze Stadt. Das Viertel besteht überwiegend aus viergeschossigen Wohnzeilen. Drei elfgeschossige Punkthochhäuser stehen im Zentrum. 1963 entstand ein zehngeschossiges Mittelganghaus. In südlicher Richtung wurde das Viertel ab 1965 durch acht- bis zehngeschossige Wohnscheiben erweitert. Das gesellschaftliche Zentrum des Gebietes war die „Passage“. Sie entstand zwischen 1964 und 1966 an der Kreuzung der Volkradstraße mit dem Grünzug entlang des Tränkegrabens.

Städtebaulich stand die Passage ganz in der Tradition eines Marktplatzes. Hier wurde bereits alles angelegt, was den späteren modernen Städtebau der DDR ausmachte. An einer Fußgängerzone konnten alle Dinge des täglichen Bedarfs erledigt und gekauft werden: Vom Frisör über die Kaufhalle bis zur Apotheke. Aber auch Gastronomie und Bildungseinrichtungen waren dort angesiedelt. Nicht nur der Handel, sondern auch die soziale Infrastruktur wurde gleichberechtigt geplant und realisiert. 

Das Besondere und auch Einmalige ist die Verbindung der Passage mit der Natur. Die großzügige Begrünung des Gebietes am Graatz- und Tränkegraben wurde noch ganz in der Tradition des „Nationalen Aufbauwerkes“ vorwiegend in freiwilliger Arbeit der Bewohner/innen angelegt. Heute würde man das als Selbsthilfeprojekt beschreiben. In der DDR hat die Gestaltung der eigenen Umgebung einen hohen Stellenwert gehabt und war darum gelebte Praxis. Es gab große Kampagnen, mit Leitmotiven wie „Die goldene Hausnummer“ oder „Schöner unsere Städte und Gemeinden – Mach mit!“. 

1985/86 folgten 2.500 weitere Wohnungen. Zu dieser Zeit hatte das Bauwesen sich weiter effektiviert. Die Nasszelle, sprich das Bad, wurde bereits im Kombinat komplett vorgefertigt und als Ganzes angeliefert. Hier wurden Wohnungen für alle gebaut. Man darf nicht vergessen, dass die Arbeitsteilung in der Gesellschaft nicht zur Herausbildung neuer sozialer Klassen entlang der Einkommensverhältnisse führte. Aufgrund der Eigentumsverhältnisse und der staatlichen Politik verdiente der Intellektuelle nicht mehr als der Arbeiter. Darum lebte im Hans-Loch-Viertel auch der Busfahrer neben dem Professor. Das war ein zum Sprichwort gewordenes Zitat von Professor Fred Staufenbiel, der selbst dort wohnte und in Weimar an der Bauhausuniversität den Lehrstuhl Stadtsoziologie leitete. In der DDR lernten Studierende an dieser Universität nicht nur die Ästhetik von Architektur und Städtebau, sondern auch ihre sozialen Funktionen. Ach ja, es gab auch eine bevorzugte Gruppe, die kinderreichen Familien.

Sozialistische Politik in Stein gehauen

Wäre Professor Hartmut Häußermann, ein bekannter westdeutscher Stadtsoziologe, der nach der Wende an der Humboldt-Universität lehrte, je in Friedrichsfelde ausgestiegen, er hätte sein Konzept von der modernen Stadt überdacht. Wie der französische Soziologe Henri Lefebvre träumte auch Häußermann von menschlichen Maßstäben der mittelalterlichen Kleinstadt, die sich zur Bürgerstadt entwickelte. Häußermann sprach von nachholender Entwicklung im Osten. Er kannte das Hans-Loch-Viertel nicht. Hier war die Wohnungspolitik eines sozialistischen Staates in Stein gehauen und in die Natur gesetzt. Im Osten gab es keine Eigentumswohnungen und keine Zwangsräumungen. Es gab eine Stadt für alle, ohne die bürgerliche Freiheit der Wohnungslosigkeit.

Agnes Kraus, die schnoddrige Berliner Schauspielerin mit nörgelnder Stimme, wohnte dort mit ihrer Schwester, und man sah sie schlendern in der Passage und geduldig in der Schlange stehen. Man sprach sie nicht an, man gönnte ihr die Freizeit, denn alle kannten sie aus dem Fernsehen und man wollte ihr das Gefühl geben, „sie ist eine von uns, kein Star“.

Auch Heiner Müller, der vielleicht sperrigste Künstler der DDR, wohnte im Hans-Loch-Viertel. Seine Stücke ließen Arbeiter/innen im Theater oft ratlos zurück. Seine Philosophie in epischer Lyrik ist für die Ewigkeit. Die Schriftstellerin Brigitte Reimann lässt ihre Romanfigur Franziska Linkerhand fragen, ob man in Neubaugebieten küssen kann. Heiner Müller konnte dort nicht nur küssen, sondern auch denken.

Also einfach mal aussteigen in Friedrichsfelde Ost, schlendern gehen und zum Abschluss vielleicht in den Tierpark. Viel Platz ist dort in einem Park für Tier und Mensch. Kindergartengruppen dürfen in der Woche immer noch kostenlos zu Besuch kommen. Viel Spaß beim Entdecken. 

 

Karin Baumert ist Stadtsoziologin.


MieterEcho 435 / August 2023

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