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MieterEcho 428 / November 2022

Zeugen zweier Gesellschaftsentwürfe

Senat strebt Aufnahme der Karl-Marx-Allee und des Hansaviertels in das Weltkulturerbe an

Von Karin Baumert

Das Land Berlin arbeitet nun zum zweiten Mal an einem Antrag, um das Hansaviertel und die Karl-Marx-Allee gemeinsam in das Weltkulturerbe aufnehmen zu lassen. Die erste Bewerbung 2014 wurde mit der Bemerkung abgelehnt, der Antrag solle weiter bearbeitet werden. Im Kern geht es darum, ob der Denkmalwert beider Gebiete unter dem Titel „Architektur und Städtebau der Berliner Nachkriegsmoderne“, also als „gebaute Zeitzeugen des kalten Krieges“, ausreichend denkmalwürdig sei.

Die beiden Gebiete Hansaviertel und Karl-Marx-Allee sind einzeln betrachtet natürlich von denkmalpflegerischem Wert. Aber kann man die Phase der Nachkriegszeit unter den Bedingungen der Abgrenzung zweier Gesellschaftssysteme voneinander, des Kampfes um die Anerkennung der DDR und damit auch des alternativen Gesellschaftsentwurfs des Sozialismus unter der Klammer „nach dem Krieg“ im Städtebau und in der Architektur zusammenfassen?

Federführend bei der Bearbeitung des Antrages sind die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und hier vor allem  die Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt und der Landeskonservator Christoph Rauhut sowie die Hermann-Henselmann-Stiftung, benannt nach dem führenden Architekten und Stadtplaner der DDR. Er gilt als Architekt der Karl-Marx-Allee, weil er den städtebaulichen Entwurf mit den Genossen im Politbüro diskutierte. In der Realität ist die Karl-Marx-Allee aber ein kollektives Werk. Hier also schon der erste Unterschied.

Das Hansaviertel und die Karl-Marx-Allee sind beide zur selben Zeit entstanden und Ausdruck einer Moderne, wie sie das Bauhaus begründete. Aber sie stehen eben auch für den Kampf der Systeme, der zu dieser Zeit – nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Berlin – tobte. In den Geschichtsbüchern wird gern vom „Kalten Krieg“ gesprochen. Es lohnt sich an Hand der Geschichte der beiden Gebiete etwas genauer hinzuschauen, denn der Antrag vermittelt den Eindruck, als ob die Teilung der Stadt Berlin hier nun endgültig ausgesöhnt wäre und als ob genau das wichtig sei. Ein Leben in der Eigentumswohnung an der Karl-Marx-Allee, genau davon haben doch sicher die Arbeiter geträumt, die am 17. Juni 1953 auf die Straße gingen, soweit die versteckte Botschaft des Antrages.

Fundamentale Unterschiede

Architektur und Stadtplanung sind immer auch in einen gesellschaftlichen Diskurs eingebettet. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot die Moderne eine zeitgemäße Antwort auf die Herausforderungen des Städtebaus. Licht, Luft und Sonne, das serielle Bauen und ein zeitgemäßer Wohnstandard sowie die städtebauliche Abgrenzung von der Gründerzeit machten die Ideen des Bauhauses und die bereits etablierte Moderne zur Grundlage jeder Planung. Bummeln Besucher/innen Berlins allerdings ganz unbefangen durch das Hansaviertel und danach entlang der Karl-Marx-Allee, so werden sie verwundert die Unterschiede wahrnehmen. Hier eine scheinbar wahllos zusammengewürfelte Ansammlung von in die Jahre gekommenen Neubauten aus den 50er Jahren, die sie so aber auch noch nie gesehen haben. Dort eine Prachtstraße, die sie aus dem Fernsehen kennen und die in ihrer aktuellen Nutzung eher enttäuschend wirkt. Stau auf der Autostraße, unmotivierte Grünflächen, Fahrradströme auf den breiten Fußwegen und Läden, die niemand braucht, Showrooms für das internetbasierte Shoppen. Was waren nochmal die Gemeinsamkeiten?

Das Hansaviertel war eine direkte Antwort Westberlins auf die ostdeutsche Karl-Marx-Allee. Hier durften sich Stararchitekten verwirklichen. Alles, was Rang und Namen hatte, wurde eingeladen, die Sternstunden der Architektur zu bauen. Max Taut, Walter Gropius, Alvar Alto, Egon Eiermann und Oscar Niemeyer, um nur einige Prominente zu nennen. Sie alle haben ein Haus entworfen. Noch heute lebt man gern hier, wäre da nicht dieser Unort in der Mitte.

Für viele Bewohner/innen ist das Leben der Obdachlosen rund um das Zentrum des Hansaviertels, mit kleinen Läden, dem Grips-Theater und dem Eingang zur U-Bahn-Station Hansaplatz, ein ewiger Anstoß des Widerwillens. Obdachlosigkeit passt nicht in die Idee der anderen Gesellschaft, die die Väter der Moderne sich erträumten und die über Architektur und Stadtplanung Wirklichkeit werden sollte. Aber die Rechnung war ohne die Einsichten in die gesellschaftlichen Hintergründe gemacht worden. Denn die Stadt ist immer auch ein Spiegelbild der Gesellschaft: Wer hat Zugang zu Wohnraum, wie wird das Leben für unterschiedliche soziale Gruppen geplant? Was wurde aus der Idee der Bauhäusler von der gerechten Stadt?

Diese Frage stellten sich die zwei Teile Berlins, die mehr waren als ein experimentierfreudiger Ausflug. Es herrschte Krieg um die Frage der Alternativen deutscher Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Schuld und Sühne, nach Reinwaschung in Wort und Tat und nach gesellschaftlichen Modellen. Die Karl-Marx-Allee ist eben nicht nur als „sowjetische Architektur“ zu sehen, wie es die Protagonist/innen in einem extra für diesen Antrag organisierten internationalem wissenschaftlichen Kolloquium im Oktober darstellten. Beide Stadtgebiete sind Antworten darauf, wie sich eine Gesellschaft nach den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges neu organisiert. Das Hansaviertel war von Stararchitekten als Vorzeigeviertel geplant und realisiert – schaut, so modern können wir bauen. Das Hansaviertel war nie mehr als ein Experimentierfeld für Architekten. 

Aber in der Karl-Marx-Allee haben die Väter des Sozialismus den Werktätigen eine Allee geschenkt, kollektiv geplant und als nationales Aufbauwerk ausgestellt. Die breiten Grünflächen neben der Straße, sie waren eben kein Tribut an die autogerechte Stadt, denn die öffentlichen Verkehrsmittel kosteten praktisch nur symbolisch ein paar Ostpfennige – niemand musste nachdenken, ob man die U-Bahn nimmt – das „9-Euro-Gefühl“ war selbstverständlich. Autos gab es kaum, Stau war ein Fremdwort. Die Läden auf der Karl-Marx-Alle waren auch für den täglichen Bedarf und im Umfeld gab es Kitas und Schulen. 

Werktätige Frauen konnten ihr eigenes Leben finden, abhängige ökonomische Eheverhältnisse gab es nicht mehr. Niemand musste trotz gewaltförmiger Beziehungen bleiben. Der Zugang zum Wohnungsmarkt war zwar beschränkt, aber mehr oder weniger für alle möglich. Immer noch leben Erstbewohner/innen an der Karl-Marx-Allee und können darüber berichten. Zwangsräumungen waren ohne Ersatzwohnung ausgeschlossen. Und die Ausstattung und Größe der Wohnungen waren so weitsichtig geplant, dass sie noch heute als Eigentumswohnungen begehrt sind – dafür waren sie aber niemals gebaut worden.

Weltkulturerbe als Aufwertungsturbo

Genau hier ist der größte Unterschied in der Geschichte der beiden Stadtgebiete. Die Wohnungen in der Karl-Marx-Allee waren nie als Ware konzipiert. Heute aber, wo die „Wohnung als Ware“ jedes Menschenrecht auf Wohnen unmöglich macht, sind beide Stadtteile in Aufwertung. Aber ihre Geschichte unterscheidet sich diametral. Sie stehen geradezu exemplarisch für zwei unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe nach dem Zweiten Weltkrieg und sie unterscheiden sich auch bis in die Gegenwart, z.B. in den jüngsten Kämpfen der Mieter/innen.

Hört man von den Mieter/innen des Hansaviertels eigentlich kaum etwas, außer dem Kampf gegen die Obdachlosen vor ihrer Tür, sind die Mieter/innen der Karl-Marx-Alle bei der drohenden Privatisierung ihrer Wohnungen vor einiger Zeit zur Hochform aufgelaufen und haben sie tatsächlich für ihre Wohnungen verhindert. Der Kampfgeist der 50er Jahre. Es setzt sich Geschichte fort und gilt auch, gewürdigt zu werden. Wie schön war es anzusehen, als die Mieter/innen, die sich im ehemaligen Kino Kosmos 2019 zu einer Versammlung trafen (ja, die Karl-Marx-Alle hatte sich in ihrer Entstehung zwei große Kinos gegönnt), am Ausgang mit roten Fahnen versorgt wurden. Anlässlich der Mietenwahnsinn-Demonstration im gleichen Jahr schritt man durch eine beflaggte Allee.

Nun kann die eine oder andere Kreuzberger Aktivist/in natürlich schmunzeln und sagen, die hätten wir aber selbst gemalt und nicht einfach vorproduziert. Ja, aber vielleicht sollte man einfach die Besonderheiten beider Teile Berlins in die Kämpfe, neugierig zuhörend, einfließen lassen. Denn das Land Berlin ist gerade auf einem ganz anderen Trip: Weltkulturerbe als PR-Strategie für die Touristifizierung der Stadt. Lasst sie verkaufen, anpreisen und Geschichte schleifen, denn dem Kapital gehört diese Stadt..., oder?

 

Karin Baumert ist Stadtsoziologin und politische Aktivistin.


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