Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 425 / Juli 2022

Vor der Verdrängung kam die Bevormundung

Bilanz von zwei Jahrzehnten Quartiersmanagement in Nordneukölln

Von Tom Küstner

In diesem Jahr ist es 25 Jahre her, dass im Spiegel der Artikel „Endstation Neukölln“ erschien. Er markiert den Beginn der Karriere Neuköllns als bundesweit bekannter Problembezirk. Thema des Textes waren: Armut, Drogenabhängigkeit, Clankriminalität, Jugendkriminalität und sehr viel Gewalt.

Ob diese einseitige Perspektive auf Probleme dem Bezirk guttun würde, konnte schon damals bezweifelt werden. Viele Bewohner/innen, Arbeiter/innen, Rentner/innen und Studierende schätzten es eher als etwas Positives ein, in einer Nachbarschaft zu leben, in der man sich untereinander kennt, sich unterstützt und nicht so hohe Mieten bezahlen musste. West-Berliner Arbeiterbezirk. Bodenständig. Lehrkräfte und Pädagog/innen fühlten sich und ihre alltägliche Arbeit völlig falsch dargestellt. Es wurden Stimmen lauter, dass in der Vielfalt und dem Multikulturellen doch gerade die Vorteile großstädtischen Zusammenlebens liegen. 

Doch es half alles nichts. Der Grundstein für den unaufhaltsamen Aufstieg des Heinz Buschkowsky war gelegt. Im Jahr 2001 wurde der Sozialdemokrat zum zweiten Mal Bezirkschef und sollte bis zu seinem Rückzug 2015 zum wohl bekanntesten Bezirksbürgermeister in Deutschland werden. Sein Erfolgsrezept: Probleme mit übertrieben zugespitzten und zum Teil offen rassistischen Parolen ansprechen, ohne sie zu lösen. Solange er mit markigen Sprüchen bei der kleinbürgerlichen Bevölkerung im Süden des Bezirks punkten konnte und so in Wahlen vor der CDU lag, konnte er weiter regieren. 

Buschkowsky verkündete: Multikulti ist gescheitert!

Buschkowsky kam in das Amt als Bezirksbürgermeister genau zu der Zeit, in der die erste rot-grüne Bundesregierung unter Schröder und Fischer die Axt an das bundesrepublikanische Sozialstaatsmodell legte. Infolge des Schröder-Blair-Papiers wurde auch in Deutschland der Sozialstaat nach dem Vorbild der neoliberalen Arbeitsmarktreformen von Margaret Thatcher zerstört. Bis dahin erkämpfte und als grundlegend erachtete Schutzrechte und Sozialstandards wurden abgeschafft.

Infolge der Produktivitätsfortschritte seit den 1970er Jahren hatte der Staat das Versprechen der Vollbeschäftigung nicht mehr einlösen können. Die Arbeitslosigkeit galoppierte davon. Doch anstatt Arbeitnehmerrechte auszubauen, Lebens- und Wochenarbeitszeit zu verkürzen und den Lebensstandard der Arbeiter/innen zu erhöhen, bestand die von den Neoliberalen verordnete Therapie in einem schlankeren Staat, Zurückdrängen von Gewerkschaften, Privatisierung öffentlicher Aufgaben und einer Abschaffung von sozialstaatlichen Garantien und Arbeitnehmerrechten. Wenn man diese Ereignisse berücksichtigt, kann man den Paradigmenwechsel, der in den folgenden zwei Jahrzehnten auch die Vorgehensweise der Stadtentwicklungspolitik bis in die Bezirke und unsere Kieze hinein veränderte, besser verstehen.

Mit der Erosion kollektiver Arbeitnehmerrechte und der Individualisierung von Risiken durch Begriffe wie Eigenverantwortung, Selbstmanagement, Flexibilität und Risikobereitschaft entstand zugleich ein neues politisches Erfordernis auf der Ebene der Stadtentwicklungspolitik. Wenn der Staat keine soziale Sicherheit mehr garantieren will, wie soll dann in Stadtvierteln, in denen sich die Folgen dieser Politik in Form von Armut und Arbeitslosigkeit konzentrieren, weiter die Kontrolle und Ordnung aufrechterhalten werden? Die technokratische Antwort der rot-grünen Bundesregierung auf diese Frage war das 1999 geschaffene Programm „Soziale Stadt“, mit dem Quartiersmanagementgebiete geschaffen wurden. Vorort-Büros des Quartiersmanagement (QM) sind bizarr. Irgendwie staatlich, aber nicht richtig. Andererseits privat-unternehmerisch, aber auch nicht ganz. Nach eigener Aussage des Bundesministeriums für Bauen sollte dieses Städtebauprogramm „die Stabilisierung und Aufwertung städtebaulich, wirtschaftlich und sozial benachteiligter und strukturschwacher Stadt- und Ortsteile“ unterstützen. 

Tatsächlich wurden mit den Reformen der Agenda 2010 (Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, Einführung von Hartz IV, Senkung der Renten, Aufweichen des Kündigungsschutzes, Schaffung eines verfestigten Niedriglohnsektors) Realeinkommensverluste für einen Großteil der Bevölkerung überhaupt erst verursacht. Arbeitgeber sparten Lohnkosten in Milliardenhöhe, der Staat sparte in den Sozialversicherungssystemen. Als Trostpflaster wurde Stadtvierteln, in denen sich die sozialen Spannungen so zuspitzten, dass sie umzukippen drohten, nun ein Quartiersmanagement vor die Nase gesetzt, das bei viel geringeren Kosten die negativen Folgen der entstandenen sozialen Spaltung und Verarmung oberflächlich verdecken und gleichzeitig die Bevölkerung subtil und in neuer Weise disziplinieren sollte. Es wurde eine parastaatliche Struktur geschaffen, mit der im urbanen Raum fortan nicht mehr gut regiert, sondern schlecht gemanagt wurde. 

Governance wird zur neuen Regierungspraktik

Der Unterschicht aus ihrer prekären sozialen Lage herauszuhelfen, war nie das politische Ziel des Instruments Quartiersmanagement. Die Politik hatte die Ärmeren selbst gerade erst in diese verzweifelte Lage gestoßen.

Politisches Ziel war die Etablierung neuer informeller Regierungstechniken, mit denen es den Regierenden gelingen sollte, sich vom Modell der Vollbeschäftigung, das sie nicht mehr garantieren konnten, zu verabschieden. Stattdessen wurden die Arbeitnehmer/innen in unterschiedliche Segmente aufgespalten: wenige hochqualifizierte Gutverdienende, diejenigen, die

noch eine etablierte Stelle, jedoch Angst vor sozialem Abstieg haben, diejenigen, die keinen sicheren Arbeitsplatz mehr haben, aber noch hoffen, durch individuelle Anstrengung wieder Anschluss zu finden, und diejenigen, deren prekäre Lage so verfestigt ist, dass sie jede Hoffnung aufgeben müssen. Das alles mit dem Ziel, sie so gut und kostengünstig wie möglich gegeneinander auszuspielen. In Neukölln wurde diese transformative Regierungstechnik besonders umfangreich eingesetzt. Im Jahr 1999 wurden im Schillerkiez, der Rollbergsiedlung und der High-Deck-Siedlung die ersten Quartiersmanagementgebiete in Neukölln installiert. 2001 kam das QM Reuterplatz dazu. In den Folgejahren sollten viele weitere folgen. Zeitweise war der Ortsteil Neukölln im Norden des Bezirks zwischen Hermannplatz und Berliner Ringbahn fast vollständig mit Quartiersmanagementgebieten bedeckt. Insgesamt sind es bis heute 12. Wobei die Gebiete Reuterplatz und Schillerpromenade beendet sind, Richardplatz-Süd und Ganghoferstraße 2020/21 zu einem Gebiet Rixdorf zusammengelegt wurden und die Gebiete Glasower Straße, Harzer Straße und Gropiusstadt Nord 2021 neu geschaffen wurden und sich noch im Aufbau befinden.

Berlin befand sich in der Lage, dass viele Mieter/innen, die nach 1990 durch eine Welle der Verwüstung, die die kapitalistische Inwertsetzung der früheren Ost-Berliner Wohnungsbestände zum Ziel hatte und im Uhrzeigersinn von Mitte, Prenzlauer Berg bis Friedrichshain getrieben wurde, aus ihrer Nachbarschaft verdrängt wurden, in Neukölln – zunächst noch – Wohnungen zu leistbaren Preisen finden konnten. Vor allem in den ärmeren Innenstadtvierteln, in denen infolge großer Lücken zwischen vormals niedrigen Bestandsmieten und den potenziell hohen Angebotsmieten, die sich bei besserer Einstufung der Wohnlage erzielen ließen, treffen so Prozesse der Gentrifizierung auf die vom QM bereitgestellten Mechanismen der Disziplinierung und Selektion. Sie verstärken sich dort in ihren unterschichtsfeindlichen Auswirkungen gegenseitig. 

In QM-Gebieten mit vielen Gründerzeitaltbauten wie Schillerpromenade, Reuterplatz und Rixdorf besteht diese Gefahr bereits heute massiv. In den QM Gebieten High-Deck-Siedlung, Dammweg, Rollbergsiedlung und Gropiusstadt mit ihren Plattenbaubeständen aus West-Berliner Zeit besteht sie eher nicht. Womit auch deutlicher wird, wo am Ende diejenigen wohnen dürfen, die sich im individuellen Konkurrenzkampf vermeintlich genügend Mühe gegeben haben und wohin diejenigen weggeschoben werden, die abgehängt wurden.

Im Jahr 2020 wurde das Städtebauprogramm „Soziale Stadt“ umbenannt. Es heißt jetzt Programm „Sozialer Zusammenhalt“. Das ist schon eine dreiste Verdrehung von Tatsachen. Denn der soziale Zusammenhalt der Bevölkerung untereinander wird durch diese Regierungstechnik in Wahrheit sogar beschädigt.

 

Tom Küstner studierte Philosophie, Soziologie und Neuere Geschichte in Berlin. Er war Mitinitiator eines Einwohnerantrags zur Einführung von Milieuschutz im Norden Neuköllns und ist seit vielen Jahren in wohnungs- und mietenpolitischen Initiativen in Berlin aktiv.


MieterEcho 425 / Juli 2022

Teaserspalte

Berliner MieterGemeinschaft e.V.
Möckernstraße 92
10963 Berlin

Tel.: 030 - 21 00 25 84
Fax: 030 - 216 85 15

Email: me(at)bmgev.de

Ferienwohnungen

Unsere Umfrage

Falls sich eine oder mehrere Ferienwohnung(en) in Ihrem Haus befinden, berichten Sie uns davon und schildern Sie Ihre Erfahrungen in unserer Online-Umfrage.