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MieterEcho 423 / April 2022

Nur punktuelle Verbesserungen

Die Stadt hat das Ziel von null Verkehrstoten nicht im Blick

Von Ragnhild Sørensen

Als die Berliner Polizei Ende Februar ihren Unfallbericht veröffentlichte, waren die Medien begeistert: 2021 sei seit 30 Jahren das sicherste Jahr mit den wenigsten im Straßenverkehr Verunglückten. Wer 40 Verkehrstote und Hunderte Schwerverletzte als Erfolg betrachtet, hat die Vision Zero, das Ziel von null Verkehrstoten und Schwerverletzten, nicht verstanden, kritisiert Changing Cities.

Der Vergleich der Jahreswerte zeigt tatsächlich leicht nach unten, was ja wirklich erfreulich ist. Was aber Radfahrende und zu Fuß Gehende wirklich erschüttern muss, ist der Post-Corona-Effekt. Trotz einer relativen Zunahme des Radverkehrs während der Corona-Pandemie ist das Auto der eindeutige Corona-Gewinner, und das lässt sich an den Unfallzahlen ablesen: Im zweiten Quartal 2021 sehen wir (im Vergleich zum ersten Quartal) eine Zunahme der Zahl aller Verletzten um 38% und bei den Getöteten und Schwerverletzten um 44%. Es gibt zwar fast immer eine Zunahme im zweiten Quartal eines Jahres, aber nicht in diesem hohen Maße. 

Von den 40 im Jahr 2021 im Verkehr Getöteten waren 14 Personen zu Fuß unterwegs und 10 mit dem Rad. Die ungeschützten Verkehrsteilnehmenden machten also 60% aller Verkehrstoten aus. 

Schaut man sich die Entwicklung der Unfallzahlen über einen längeren Zeitraum an, stellt man fest, dass es seit 2005 keine signifikante Veränderung gegeben hat. Es gibt zwar weniger Verkehrstote, dafür ist die Zahl der Schwerverletzten gestiegen. Letzteres ist umso erstaunlicher, weil sich die Fahrzeugtechnik in diesem Zeitraum erheblich verbessert hat und eine Reduktion der Schwerverletztenzahl nach sich ziehen müsste.

Etwas Ähnliches kann man über die Infrastruktur für die ungeschützten Verkehrsteilnehmenden nicht sagen. Durch das 2018 verabschiedete Mobilitätsgesetz gibt es punktuelle Verbesserungen an einzelnen Stellen in der Stadt. Eine wirkliche Verkehrswende hat allerdings nicht stattgefunden. Die gefährlichsten Unfallstellen sind nach wie vor die Kreuzungen der Stadt: Wir haben nachgezählt. Von 2016 bis 2021 haben wir 59 Mahnwachen für getötete Radfahrende abgehalten. Davon wurden 27 Radfahrer/innen von rechtsabbiegenden LKW-Fahrer/innen getötet. Es ist ja nicht so, dass das Problem neu wäre… Es ist nicht mal so, dass die Lösung nicht bekannt wäre.

Fehlerverzeihende Kreuzungen

Vorgeschriebene LKW-Abbiegeassistenten wären eine solche Lösung. Grund für die erhöhte Gefährdung an Kreuzungen sind aber vor allem die Geschwindigkeiten, die durch eine autogerechte Infrastruktur ermöglicht werden. Nur eine kurze Grünphase wird Fußgänger/innen bis zur Mittelinsel gewährt, oft sind Ecken zugeparkt, was die Sichtbeziehungen behindert oder geradeaus Radfahrende und abbiegende Kraftfahrzeuge müssen sich auf engstem Platz einfach „arrangieren“. Dabei zeigen die Niederlande, wie es geht. Das sogenannte fehlerverzeihende Kreuzungsmodell macht mit wenigen Tricks das Leben aller Verkehrsteilnehmenden viel sicherer.

Die entscheidende Maßnahme besteht aus vier Schutzinseln, die Rad- und Kfz-Verkehr an den Ecken einer Kreuzung trennen. Der rechtsabbiegende PKW-Verkehr muss diese kleinen, linsenförmigen Inseln umfahren und hat anschließend einen frontalen Blick auf zu Fuß Gehende und Radfahrende, bevor er ihre Wege kreuzt. Zudem erlaubt das Kreuzungsdesign, dass ein rechtsabbiegendes Auto vor dem Radweg und dem Zebrastreifen Platz zum Warten hat, ohne dabei den restlichen Verkehr zu behindern. 

In Berlin gibt es solche Kreuzungen nicht, keine einzige. Berlin hat kein Verkehrssicherheitsprogramm (das letzte lief Ende 2020 aus). Es gibt keine Vision-Zero-Strategie. Bei der Unfallkommission, die die Unfallorte prüft, fehlt entweder Einsicht oder Sensibilität für die Bedeutung von Infrastruktur, denn kaum ein Knotenpunkt wird nach einem Unfall umgebaut. Oslo und Helsinki dagegen haben ihren Städten gezielt Tempo 30 verordnet und die Infrastruktur konsequent umgebaut. Das Ergebnis 2021 waren null Verkehrstote. Es geht also doch.

 

Ragnhild Sørensen ist beim Verein Changing Cities für die Pressearbeit verantwortlich. Der Verein setzt sich für eine Verkehrswende von unten ein.
Mehr unter: changing-cities.org


MieterEcho 423 / April 2022