Neue Gesichter und alte Probleme
Das Personaltableau des neuen Berliner Senats ist zum Teil überraschend
Von Rainer Balcerowiak
Am 21. Dezember wählte das Berliner Abgeordnetenhaus die SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey zur neuen Regierenden Bürgermeisterin der Hauptstadt. Giffey erhielt im ersten Wahlgang 84 der 139 abgegebenen Stimmen, mindestens zwei der anwesenden Abgeordneten aus dem Lager der rot-grün-roten Koalition verweigerten Giffey die Stimme. Anschließend wurden die zehn Mitglieder ihres Senats ernannt, sechs Frauen und vier Männer. Nur zwei davon, Andreas Geisel (SPD) und Klaus Lederer (Die Linke), gehörten bereits dem vorherigen Senat an. Der Wahl vorangegangen waren Entscheidungen der Parteigremien über den Koalitionsvertrag.
Bei Landesparteitagen der SPD und der Grünen stimmten 91,5 bzw. 96,4% der Delegierten für die Vereinbarung. Deutlich schwerer taten sich die Linken, bei denen ein Mitgliederentscheid entscheiden sollte. Einige Parteigliederungen und auch einzelne Abgeordnete riefen zur Ablehnung auf, vor allem wegen der Mieten- und Wohnungspolitik. Doch letztendlich gab es eine Mehrheit von 74,9%. Die Linke hatte bereits in den Verhandlungen die Weichen für eine Neuauflage der rot-rot-grünen Koalition gestellt, indem sie signalisierte, dass sie sehr billig zu haben sein würde. Das betraf den Verzicht auf das bisher geleitete Ressort für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen und vor allem auf die Umsetzung des erfolgreichen Volksentscheids zur Enteignung großer Immobilienkonzerne, was immerhin der wichtigste Wahlkampfschlager der Partei war. Das Thema wird jetzt in eine Kommission zwecks „Prüfung“ ausgelagert, während die neue Senatschefin Nägel mit Köpfen macht und auf ein „Bündnis für bezahlbares Wohnen“ setzt – mit jenen Konzernen, deren Enteignung man angeblich „prüft“.
SPD: Giffeys erstaunliches Comeback
Für Giffey ist diese von ihr geführte Landesregierung auf alle Fälle eine weiche Landung nach schweren Turbulenzen. Ihre Traumkarriere von der Neuköllner Kommunalpolitik bis zur Berufung zur Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im März 2018 – nebst dem Status als „SPD-Hoffnungsträgerin“ für die nächsten Bundestagswahlen – schien abrupt zu enden, als aufgrund erheblicher Plagiate in ihrer Dissertation ein Verfahren zur Überprüfung ihres 2009 erworbenen Doktortitels eingeleitet wurde, das im Juni 2021 mit der Aberkennung abgeschlossen wurde. Kurz vor der Entscheidung trat sie von ihrem Ministeramt zurück und startete umgehend eine neue Karriere als Frontfrau der Berliner SPD, die sie mit fast 100%iger Zustimmung erst zur Landesvorsitzenden und später zur Spitzenkandidatin kürte. Weder die Plagiatsaffäre noch die Betrugsvorwürfe gegen ihren Ehemann, der seiner bevorstehenden Entlassung aus dem Beamtenverhältnis durch seine „freiwillige“ Entpflichtung zuvorkam, spielten im Wahlkampf eine Rolle. Und so gelang es Giffey, die in Umfragen lange bei 15% dümpelnde SPD zu stabilisieren und schließlich sogar noch die zeitweise scheinbar uneinholbar führenden Grünen zu überflügeln.
Auch die Besetzung der SPD-Senatsposten trägt Giffeys Handschrift. Das wichtige Stadtentwicklungsressort übernimmt der bisherige Innensenator Andreas Geisel. Fachlich ist das durchaus nachvollziehbar, denn Geisel hatte dieses Amt bereits von 2014 bis 2016 in der rot-schwarzen Koalition inne und war zuvor viele Jahre als Bezirksstadtrat in Lichtenberg für diesen Bereich verantwortlich. In seine Senatorenzeit fallen unter anderem die Ausweisung von 12 neuen Stadtentwicklungsgebieten und das erste „Mietenbündnis“ mit den städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Geisel hatte auch stets auf den Schulterschluss mit der privaten Immobilienwirtschaft gesetzt und kann daran jetzt nahtlos anknüpfen. Wie Giffey gilt auch Geisel als vehementer Gegner der Enteignung großer Immobilienkonzerne und setzt vor allem auf eine Neubauoffensive.
Für diesen Senatsposten gehandelt wurde im Vorfeld auch die bisherige baupolitische Sprecherin der SPD im Abgeordnetenhaus, Iris Spranger. Doch in der Partei gab es erheblichen Widerstand gegen diese Personalie. Spranger gilt als wenig kompetent und durchsetzungsstark. Aber für die Genderarithmetik und den Regionalproporz bei der Senatsbildung war Spranger als „Frau aus dem Osten“ dennoch unverzichtbar, zumal sie in der Partei als stellvertretende Landes- und langjährige Kreisvorsitzende von Marzahn-Hellerdorf sehr gut vernetzt ist. Sie darf jetzt als Nachfolgerin von Geisel das Innenressort leiten.
Bei den beiden verbleibenden SPD-Senatsposten setzt Giffey auf politische Quereinsteiger/innen mit fachlichem Background. Bildungssenatorin wird Astrid-Sabine Busse, Leiterin einer Neuköllner Grundschule und Vorsitzende des Interessenverbands Berliner Schulleitungen. Ein Verein, der sich ausdrücklich nicht als gewerkschaftliche Interessenvertretung begreift und bildungspolitisch eher konservative Positionen vertritt.
Als Wirtschaftssenator wurde der parteilose Stephan Schwarz berufen. Schwarz war von 2003 bis 2019 Präsident der Berliner Handwerkskammer und leitet in dritter Generation ein großes Familienunternehmen für Gebäudereinigung. Verbandspolitisch trat er vor allem als vehementer Gegner von Rekommunalisierungen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge in Erscheinung. Entsprechend zufrieden zeigten sich die Oppositionsparteien CDU und FDP mit seiner Ernennung.
Grüne: Wahlziel verfehlt
Die Grünen haben bei der Wahl am 26. September zwar zugelegt und die Linke überflügelt, aber ihr eigentliches Wahlziel – eine Landesregierung unter ihrer Führung – deutlich verfehlt. Die bisherige Fraktionsvorsitzende und gescheiterte Spitzenkandidatin Bettina Jarasch übernimmt das für die Partei wichtigste Ressort und wird Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Was sie für das Amt fachlich prädestiniert, erschließt sich nicht so richtig. In der Vita stehen ein Magisterstudium in Philosophie, Politik- und Literaturwissenschaften und eine zielstrebige Parteikarriere vom Referentenjob über den Landes- bis zum Fraktionsvorsitz zu Buche. Fachpolitisch trat sie vor allem in Familien- und Religionsfragen in Erscheinung, untermauert durch ihr Engagement in Gremien der katholischen Kirche.
Erstmals übernehmen die Grünen in einer Landesregierung auch das Finanzressort. Es wird künftig von Daniel Wesener geführt, der in der vergangenen Legislaturperiode als Fraktionsgeschäftsführer und haushaltspolitischer Sprecher agierte. An seiner fachlichen Qualifikation für dieses Amt bestehen parteiübergreifend wenig Zweifel. Ein in Berlin bisher komplett unbeschriebenes Blatt ist dagegen Ulrike Gote, die für die Grünen lange im bayerischen Landtag saß und seit 2019 in Kassel als Dezernentin für Jugend, Frauen, Gesundheit und Bildung tätig war. Sie wurde zur Senatorin für Gesundheit und Wissenschaft ernannt.
Die Linke: Glamourfaktor Katja Kipping
Für Die Linke behält Klaus Lederer die Ämter als stellvertretender Bürgermeister und als Kultursenator. Der seit Jahren beliebteste linke Landespolitiker steht für einen „realpolitischen“ Kurs seiner Partei und beschwor die erneute Regierungsbeteiligung in der innerparteilichen Debatte als „alternativlos“.
Die Juristin und Hochschulprofessorin Lena Kreck wird Senatorin für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung. Für die bürgerliche Opposition ist Kreck ein rotes Tuch, vor zwei Jahren verhinderten CDU und FDP mit ihrer Sperrminorität die Berufung Krecks in das Landesverfassungsgericht. Sie repräsentiert vor allem den „postmodernen“ Flügel der Partei und war lange Zeit in der LGBTI-Community aktiv.
Die spektakulärste Personalie der Linken ist zweifellos deren ehemalige Bundesvorsitzende Katja Kipping, die als Nachfolgerin der wenig erfolgreichen und amtsmüden Elke Breitenbach das Amt der Sozialsenatorin übernimmt. Auch hier sei die Frage erlaubt, was die über keinerlei Berufserfahrung außerhalb der politischen Blase verfügende Kipping für diese äußerst komplexe und anspruchsvolle Aufgabe prädestiniert. Kipping soll schon länger im Gespräch gewesen sein, doch sie wollte laut Parteiinsidern erst ihre mögliche künftige Rolle in der neuen Bundestagsfraktion ausloten, wo sie aber wohl kaum über den Status einer Hinterbänklerin hinausgekommen wäre.
Der neue Senat steht vor gewaltigen Problemen, vor allem in der Wohnungspolitik, der Infrastruktur und der Sozialpolitik. Bislang hat Franziska Giffey alle Fäden in der Hand, obwohl sich erste Konflikte abzeichnen. Ob und in welcher Form jemand aus der Riege der neuen Senator/innen eigene Akzente setzen kann, bleibt abzuwarten.
MieterEcho 422 / Februar 2022