Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 424 / Mai 2022

Ein Leben lang für eine sozialistische Stadtpolitik

Nachruf auf Peter Marcuse

Von Andrej Holm

Peter Marcuse ist am 4. März 2022 in seinem Haus in Santa Barbara im Beisein seiner Familie im Alter von 93 Jahren gestorben. Der 1928 in Berlin geborene Sohn einer Mathematikerin und eines Buchverkäufers kann auf ein erfülltes Leben zurückblicken und wir betrauern den Abschied von einer der bekanntesten und eindringlichsten Stimmen für eine soziale Stadt- und Wohnungspolitik.

Sein Vater Herbert studierte in den 1920er und 1930er Jahren in Berlin und Freiburg Germanistik und Philosophie und entwickelte sich nach der Emigration aus Nazi-Deutschland zu einem der wichtigsten Denker der Kritischen Theorie. Peter Marcuse wuchs in einer revolutionär geprägten Familie auf. Sein Vater beteiligte sich schon 1918 an den Arbeiter- und Soldatenräten und trat nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg aus der SPD aus, weil er der Überzeugung war, dass eine sozialistische Politik nur gegen die reaktionäre SPD durchgesetzt werden kann. Peter Marcuse übernahm in vielen Punkten die kompromisslose Einstellung seiner Eltern. Nach seinem erfolgreichen Jurastudium und Promotion an der Yale Law School im Jahr 1952 arbeitete er über 20 Jahre als Anwalt und setzte sich insbesondere für die Bürgerrechte der African Americans in den USA ein. So beteiligte er sich 1964 am „Summer of Freedom“ in Mississippi, einer Kampagne, um die Registrierung von schwarzen Wähler/innen durchzusetzen. In seinen Jahren als Stadtrat (1959 bis 1963) und Mitglied der Stadtplanungskommission (1964 bis 1968) in Waterbury in Connecticut erkannte er die Bedeutung von Lokalpolitik und Stadtentwicklung für die gesellschaftlichen Ungleichheiten. 1963 erwarb er an der Colombia University in New York einen zusätzlichen Masterabschluss im Studienfach Public Law and Government („Öffentliches Recht und Regierung“) und 1968 schloss er auch noch ein Studium der Urban Studies in Yale ab. 1968, nach den Protesten der Studierenden in Berkeley, zog es Peter Marcuse und seine Familie nach Berkeley, wo er 1972 im Bereich der Stadtplanung ein zweites Mal promovierte. 

Was klingt wie eine Musterkarriere des Typus lebenslanges Lernen war in der Praxis immer auch eine Zeit des sozialen Engagements und der politischen Einmischung. Sowohl als Mitglied und Präsident der städtischen Planungskommission in Los Angeles (1972 bis 1975) als auch als Vorsitzender eines Gemeinderats in Manhattan sowie als Mitglied des Vorstands der American Civil Liberties Union in New York ab 1975 versuchte Marcuse das akademische Wissen und seine sozialistischen Überzeugungen aktiv in die Praxis der Lokalpolitik zu übersetzen. 

Studien zur Verdrängung

In den internationalen Debatten ist Peter Marcuse vor allem für seine Studien und Arbeiten zur Wohnungspolitik bekannt. So prägte er mit seinen Studien zur Gentrification in New York das Verständnis von Verdrängungsprozessen. Seine Unterscheidung von ökonomischen, physischen, kulturellen und indirekten Verdrängungsmechanismen wurde auch in Studien zu Berlin vielfach aufgegriffen (Marcuse 1986). Das schöne Bonmot, dass die „Verdrängung das Wesen und nicht ein Nebeneffekt der Gentrification“ sei, steht für seine klare Analyse der Prinzipien eines kapitalistisch organisierten Wohnungsmarktes. Auch seine Überlegungen zu den sozialräumlichen Polarisierungen in den Städten, die er 1989 als quartered city („viergeteilte Stadt“) beschrieb, verknüpft die Fragen der Stadtentwicklung konsequent mit den sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft. In seiner Unterscheidung von Luxusstadt, Vorstadt, Mieterstadt und Ghetto analysiert er die räumlichen Effekte einer gespaltenen Ökonomie und Klassenstruktur in den Städten. Dass Peter Marcuse ein Freund der eingängigen Metaphern war, bewies er auch in seiner letzten großen Publikation „In Defense of Housing“, die er zusammen mit David Madden 2016 veröffentlichte. Als Ergebnis der Untersuchung von 150 Jahren Wohnungspolitik in den USA und Westeuropa formulierten die Autoren treffend, dass sich fast alle Konflikte rund um das Wohnen letztendlich auf die Spannung „zwischen dem Wohnen als zu Hause und dem Wohnen als Immobilie“ zurückführen lassen. Viel schöner kann der Widerspruch zwischen Gebrauchs- und Tauschwerten kaum formuliert werden. Wenn leistbares Wohnen für alle möglich werden soll, dann setzt das in der Konsequenz die eine umfassende Dekommodifizierung – also Überwindung von Marktlogiken voraus.

Marcuse und Berlin

Peter Marcuse blieb seiner Geburtsstadt trotz der Exilgeschichte seiner Familie ein Leben lang eng verbunden. So nutzte er als einer der wenigen Wissenschaftler/innen in den USA und Westeuropa 1989 noch vor dem Fall der Mauer die Möglichkeit einer Gastprofessur an der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar und hatte so das Privileg, die gesellschaftlichen Umbrüche in der DDR unmittelbar zu erleben. Seine Erfahrungen in den Monaten der Veränderungen hat er in einem immer noch lesenswerten Tagebuch „A German way of revolution: DDR-Tagebuch eines Amerikaners“ (1990) festgehalten. Gerade der Blick von außen hilft dabei, so manche Verklärung der Zeit vor und nach dem Mauerfall zu überwinden. Einmal vom Sog der gesellschaftlichen Veränderungen erfasst, verlängerte Peter Marcuse seinen Aufenthalt in Ostdeutschland und nahm 1990 noch eine Gastprofessur an der Berliner Humboldt-Universität an. Zusammen mit Fred Staufenbiel ist daraus eine scharfsinnige Analyse der Stadtentwicklungsbedingungen im Umbruch entstanden, die bereits 1991 die wesentlichen Elemente der Entstaatlichung, Privatisierung und Vermarktwirtschaftlichung der ostdeutschen Städte hervorhob, die bis heute die Stadtentwicklung in Ostdeutschland prägen. 

Nach dieser intensiven Erfahrung in der Wendezeit ist Peter Marcuse regelmäßig nach Berlin gekommen, um seine alten und neuen Freunde hier zu treffen. 2003 wurde sein 1979 verstorbener Vater Herbert Marcuse postum auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin Mitte beigesetzt. Zu seinen 80. Geburtstag im Jahr 2008 lud Peter Marcuse das who is who der kritischen Stadtforschung zu einem Kongress mit dem Titel „Cities for people, not for profit“ nach Berlin ein.

Peter Marcuse wird nicht nur wegen seiner prägnanten Formulierungen und klaren Analysen fehlen, sondern auch als diskussionsfreudiger Gesprächspartner von Mieterorganisationen, Basisinitiativen und linken Parteien, die sich für eine andere Stadtpolitik einsetzen und dabei wissen, dass ein Recht auf Stadt und ein Wohnen als Zuhause nur in einem umfassenden Prozess der Vergesellschaftung und Demokratisierung erreicht werden können. 

 

Zum Weiterlesen: 
Marcuse, Peter 1986: Abandonment, gentrification, and displacement: the linkages in New York City. In: Smith, Neil, Williams, Peter (eds.): Gentrification of the City. Routledge, 169-193.
Marcuse, Peter 1989: ‘Dual city’: a muddy metaphor for a quartered city. In: International journal of urban and regional research 13.4 (1989): 697-708.
Marcuse, Peter 1990: A German way of revolution: DDR-Tagebuch eines Amerikaners. Dietz Verlag Berlin.
Marcuse, Peter; Staufenbiel, Fred 1991: Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch: Perspektiven der Stadterneuerung nach 40 Jahren DDR. Akademie-Verlag, Berlin.
Marcuse, Peter; Madden, David 2016: In defense of housing: The politics of crisis. Verso Books.


MieterEcho 424 / Mai 2022

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