Druck im Kessel
Neukölln ist ein Hotspot der Gentrifizierung, aber auch der Mietenproteste
Von Carla Aßmann
Auf den ersten Blick sind es die Unterschiede, die Neukölln am stärksten prägen. Mit fast 330.000 Einwohner/innen ist der Berliner Bezirk selbst schon eine Großstadt. Beinahe die Hälfte der Neuköllner/innen hat einen Migrationshintergrund. Im dichtbebauten Norden Neuköllns herrscht jederzeit großstädtischer Trubel, die U-Bahnlinien 7 und 8 sind immer voll, auf den Hauptstraßen Hermannstraße, Karl-Marx-Straße und Sonnenallee staut sich der Verkehr, die arabischen und türkischen Geschäfte ziehen Kundschaft aus der ganzen Stadt an und abends ziehen junge Leute in Scharen durch die Straßen auf der Suche nach der neuesten angesagten Bar. Südlich des S-Bahn-Rings wird es ruhiger: überwiegend Wohngebiete, darunter die zum Weltkulturerbe ernannte Hufeisensiedlung und der Hochhaus-Ortsteil Gropiusstadt, auch viele Einfamilienhäuser.
Doch fast alle Menschen in Neukölln haben eines gemeinsam: Sie leiden unter den explodierenden Mietpreisen. Hier sind in den vergangenen zehn Jahren die Mieten berlinweit am stärksten gestiegen, die Angebotsmieten erhöhten sich um knapp 150%. Und sie steigen weiter. Dazu wurden in den vergangenen Jahren Tausende Wohnungen in Einzeleigentum umgewandelt, allein in den Jahre 2020 und 2021 jeweils mehr als 2.700. Durch eine neue Genehmigungspflicht seit August 2021 ist zwar die Umwandlungswelle zunächst gebrochen, das bringt die Wohnungen jedoch nicht zurück.
Wie sich diese Zahlen auf das Leben von Mieter/innen auswirken, weiß man in ganz Berlin, in Neukölln aber trifft die extreme Mietpreissteigerung auf eine Bevölkerung, die besonders stark von Armut und Unsicherheit betroffen ist: Im Jahr 2019 wies Neukölln im Vergleich aller Berliner Bezirke die schlechtesten Werte bei den Gesundheits- und Sozialdaten auf (vgl. S. 20). Das bedeutet, dass hier besonders viele Menschen erwerbslos und von Transferleistungen abhängig sind. Beinahe jedes zweite Kind wächst in Armut auf (42%), berlinweit sind es 27%. Dass zudem die mittlere Lebenserwartung besonders niedrig ist, weist auf die Belastungen hin, unter denen in Neukölln viele Menschen leiden: Stress durch unsichere Arbeitsverhältnisse, ständige Geldsorgen, Umweltbelastungen und rassistische Diskriminierung.
Spekulation nimmt seit 2000er Jahren zu
Bis in die späten 2000er-Jahre waren die Mieten in Neukölln noch relativ erschwinglich. Als Wohnimmobilien zum bevorzugten Anlageobjekt wurden, stiegen die Kaufpreise für die Häuser stark an, und damit auch die Mieten. Die Spekulation mit Wohnraum verursachte vor allem im Norden des Bezirks eine Welle der Verdrängung. Wer umziehen muss, findet keine bezahlbare Wohnung mehr in derselben Gegend, und durch Luxusmodernisierung können auch die Mieten im Bestand stark erhöht werden. Weil bei neuen Mietverträgen viel höhere Preise verlangt werden können, tun Vermieter/innen alles, um Altmieter/innen loszuwerden. Einige finden im Süden des Bezirks, vor allem in der Gropiusstadt, ein neues Zuhause. Doch auch dort steigen die Mieten (vgl. S. 12). Die Gewerbemieten in Neukölln gehen durch die Decke, sodass Kleingewerbe zur Nahversorgung durch Gastronomie und andere Angebote für ein zahlungskräftiges Publikum ersetzt wird. Ein besonders bekannter Fall war die Kiezkneipe Syndikat, die 2020 nach 35 Jahren zwangsgeräumt wurde. Dagegen gab es breiten Protest und die Räumung wurde mit einem mehrtägigen Einsatz von Hunderten Polizist/innen durchgesetzt.
Auch wenn die Politik auf Bundes- und Landesebene die Hauptverantwortung für die Verstärkung der Spekulation mit Wohnungen trägt – das seit 2001 von der SPD geführte Bezirksamt Neukölln tat nichts, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Im Gegenteil. Die Einführung von Milieuschutzgebieten (mit amtlichem Namen Soziale Erhaltungsgebiete), die immerhin einige mietpreistreibende Modernisierungen verhindern, Umwandlung in Eigentum erschweren und das bezirkliche Vorkaufsrecht ermöglichten, wurde bis 2016 verschleppt. Während der berüchtigte Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (2001-2015) aus seiner Verachtung für Arme und insbesondere muslimische Menschen mit Migrationshintergrund keinen Hehl machte, drücken seine Nachfolger/innen sich geschickter aus, verfolgen aber dieselbe Politik. Franziska Giffey, Neuköllner Bürgermeisterin von 2015 bis 2018, zeigte sich gern an der Seite des Besitzers des Hotelkomplexes Estrel, dessen Planungen für ein weiteres Hochhaus sie immer unterstützte. Im Wahlkampfjahr 2016 erhielt der Kreisverband Neukölln der SPD vom Immobilienunternehmer Klaus Groth eine Spende knapp unter 10.000 Euro, um so die Veröffentlichungspflicht zu umgehen. Angesichts der steigenden Mieten im Neuköllner Norden, die sich nur noch Besserverdienende leisten konnten, freute sich Giffey über mehr „soziale Durchmischung“. Auch Martin Hikel, der ihr 2018 im Amt folgte, mag an der „Aufwertung“ des Bezirks nichts Bedenkliches erkennen. Im Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße werden höchstpreisige Gewerbeflächen und Mikro-Apartments zu Mega-Preisen gebaut – Hikel ist beim Richtfest dabei und fantasiert sich ins „Mekka für Start-ups und Technologieunternehmen“, den „Hotspot für die die junge, kreative Szene aus dem In- und Ausland“ (Broschüre des Bezirksamts). Ungefragt macht er sich zum Advokaten für den hochumstrittenen Plan des Immobilienmoguls René Benko, das Karstadt-Gebäude am Hermannplatz abzureißen und durch eine Luxus-Shoppingmall mit historisierender Fassade zu ersetzen.
Starke Organisierung von Mieter/innen
Neben all den Problemen hat Neukölln aber auch große Stärken und das sind die Solidarität und die Widerständigkeit der Bewohner/innen des Bezirks. Sie organisieren sich in zahlreichen Initiativen, besonders viele sind im Bereich Mieten und verwandter Themen aktiv. Bereits der erfolgreiche Volksentscheid zum Erhalt des Tempelhofer Felds im Jahr 2014 wurde maßgeblich in Neukölln organisiert. Das Neuköllner Kiezteam der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ war das größte und aktivste der Stadt. Mit 62,4% gab es in Neukölln deutlich mehr Ja-Stimmen für die Enteignung und das trotz der Einfamilienhausgebiete im Süden des Bezirks. Im Norden und in den Gegenden mit vielen Wohnungen im Besitz von großen Immobilienunternehmen lag die Zustimmung eher bei 75 bis über 80%.
Gegen die größenwahnsinnigen Pläne des Karstadt-Eigentümers Benko, am Hermannplatz ein Luxus-Hochhaus zu bauen, gründete sich die Initiative „Hermannplatz – KarSTADT erhalten“. Seit 2019 schaffen die Aktivist/innen es, gegen die gewaltige Werbemaschine des Immobilienspekulanten anzukommen und seinen Durchmarsch aufzuhalten.
Bevor das kommunale Vorkaufsrecht gekippt wurde, fanden sich immer wieder Mieter/innen verkaufter Häuser blitzartig zusammen und forderten sichtbar – und häufig erfolgreich – dass der Bezirk sein Vorkaufsrecht ausüben sollte. Die Hausgemeinschaften, die in diesen Kämpfen entstanden, bieten weiterhin eine Grundlage für kollektive Gegenwehr gegen die Vermieter/innen.
Orte der Solidarisierung werden weit über die linke Szene hinaus getragen. Das war ersichtlich beim breiten Protest gegen die Räumung des Ladens Friedel 54 im Jahr 2017 und des Syndikats. Zum traditionsreichen Stadtteilladen Lunte (vgl. S. 10) sind in den letzten Jahren der Kiezladen Sonnenallee (vgl. S.16) und die Kiezversammlung 44, auf deren monatlichen Treffen sich Mieter/innen aus ganz Nordneukölln organisieren, hinzugekommen. Und selbst in der als verschlafen geltenden Gropiusstadt gibt es inzwischen einen Mietentisch, der regelmäßig stattfindet.
Dies sind längst nicht alle Initiativen, in denen Menschen in Neukölln gegen steigende Mieten und Verdrängung aktiv sind. Und sie haben auch nicht immer Erfolg. Der große Zuspruch für den Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co. enteignen zeigt aber, wie auf der Grundlage von Organisierung für konkrete, lokale Kämpfe dann auch viel weitreichendere Erfolge errungen werden können. Damit der Volksentscheid auch umgesetzt wird, wird womöglich noch einmal dieselbe Anstrengung notwendig wie bisher. Davon dürfen wir uns nicht abschrecken lassen.
Sicherlich kann das Problem der Mieten in Neukölln nicht hier im Bezirk gelöst werden. Notwendig sind neben der Enteignung Regelungen auf Bundesebene wie ein Mietendeckel und besserer Schutz vor Kündigungen. Aber in Neukölln scheint ein Hoffnungsschimmer über den Bezirk hinaus, dass man sich auch unter widrigsten Bedingungen der scheinbaren Übermacht neoliberaler Verwerfungen nicht fügen muss und gemeinsam letztendlich auch Großes erreichen kann.
Carla Aßmann ist Vorsitzende der Fraktion Die LINKE in der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln.
MieterEcho 425 / Juli 2022