Logo Berliner Mietergemeinschaft e.V.
MieterEcho 422 / Februar 2022

Auf dem Weg ins Wettbewerbsdesaster?

Die Ausschreibung des Berliner S-Bahnbetriebs hat begonnen

Von Jorinde Schulz und Carl Waßmuth

Berlin hat zwei Drittel des Betriebs der S-Bahn ausgeschrieben. Außerdem sollen 1.300 neue Wagen – so viele wie es heute schon gibt – im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft an die neuen Betreiber abgegeben werden. Das acht bis elf Milliarden Euro schwere Vorhaben läuft auf eine Mischung aus Privatisierung und Zerschlagung hinaus, bei der das Berliner S-Bahn-Netz unter mehreren, miteinander konkurrierenden Unternehmen aufgeteilt wird. Im Rahmen der Ausschreibung müssen von Berlin zusätzlich teure Doppelstrukturen geschaffen werden, neue Brücken und Ausfahrten, weitere Werkstätten und Abstellgleise. Privaten Firmen soll so in einem „echten Wettbewerb“ , wie es die federführende Verkehrssenatorin formuliert hat, der Einstieg ermöglicht werden.

Auf Bundesebene deutet sich die Aufspaltung der Deutschen Bahn in Netz und Betrieb an. Dabei ist es der FDP gelungen, folgenden Satz im Koalitionsvertrag zu verankern: „Die Eisenbahnverkehrsunternehmen werden markt- und gewinnorientiert im Wettbewerb weitergeführt.“ Kein Wunder, dass das Vertragswerk wegen der dominanten Handschrift der FDP schon als „Gelbe Seiten“ verspottet wird. Tatsächlich gibt es aber eine Art neuen Zeitgeist für derartige Projekte, bei dem die Grünen gerade so gelb sind wie die FDP selbst. Waren in den Nuller Jahren Privatisierungen an sich en vogue, so ist es jetzt der sogenannte Wettbewerb, dem positive Gemeinwohleffekte zugeschrieben werden. Dabei werden die Heilsversprechen allerdings selten im Detail durchdekliniert. „Mehr Wettbewerb“ soll den Menschen als Begründung ausreichen, oft sogar nur „Wettbewerbsfähigkeit“. 

Wettbewerb versus Daseinsvorsorge

Dabei ist eine genaue Auseinandersetzung mit dem Wettbewerb auf der Schiene dringend geboten. Schon in der Theorie stößt man schnell auf Widersprüche. Suggeriert wird eine mittelstandsfreundliche Aufteilung auf mehrere Bieter, die das angeblich preistreibende Monopol der Deutschen Bahn brechen sollen. Die Volumina von mehreren Milliarden Euro kann aber der Mittelstand gar nicht aufbringen, es bewerben sich daher nur internationale Großfirmen. Auch die Auswahlmöglichkeit, die oft mit Wettbewerb verbunden wird, kommt bei der S-Bahn nicht zum Tragen: Ob man in eine Ost-West-Linie, eine Nord-Süd-Verbindung oder in die Ringbahn einsteigt, bestimmt das Fahrziel, nicht der Anbieter. Was vom Wettbewerb bleibt, ist die gegenseitige Unterbietung der Anbieter im Preis. Auch dabei ist schon von vornherein klar, dass Kosten im Wesentlichen nur beim Personal gespart werden können – Lohn-Dumping und schlechte Arbeitsbedingungen wären die Folge.

Dazu kommen absehbare Konflikte aus dem Daseinsvorsorgeauftrag im Nahverkehr und den Implikationen von Wettbewerb. Um den Verkehrsbedürfnissen gerecht zu werden, muss der Staat ausreichend Bahnen fahren lassen. Private Anbieter fahren aber nur, solange sie Gewinne machen. Akkumulieren sich eine Zeitlang Verluste – zum Beispiel weil sie in der Ausschreibung zu niedrig geboten haben – so droht die Pleite. Großbritannien ist traurig bekannt für die weitreichende Privatisierung im Bahnverkehr und deren chaotische Folgen. Um Insolvenzen während der Pandemie vorzubeugen, wurde dort der Schienenverkehr umfangreich und kostspielig wieder verstaatlicht. Auch aus Deutschland kennt man Beispiele von Bahn-Insolvenzen, die für Unruhe im Schienenverkehr sorgen. So haben aktuell drei Bundesländer mit den Konsequenzen der Pleite von Abellio zu kämpfen. Das Bahnunternehmen hatte über Ausschreibungen 52 regionale Zugverbindungen in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt ergattert. Aber im Juni 2021 beantragte der Konzern nach einer längeren Phase finanzieller Schwierigkeiten ein Schutzschirmverfahren. „Schutzschirme“ – bekannt aus den Finanz- und Bankenkrisen der letzten Jahrzehnte – sind eine Sonderform der Insolvenz, bei der die Geschäftsführung an Bord bleibt, um einen Sanierungsversuch zu unternehmen. Die Beschäftigten blicken in eine ungewisse Zukunft, ihre Gehälter werden mit dem Eintritt ins Schutzschirmverfahren von der Arbeitsagentur gezahlt.

Durch die sich abzeichnende Pleite des Bahnunternehmens drohte auch die Einstellung des Betriebs. Der Mutterkonzern, die niederländischen Staatsbahnen, verweigerte die finanzielle Unterstützung der maroden Tochter. Zwar lag der Verdacht nahe, dass sich Abellio die Verkehrsverträge mit Dumpingangeboten geangelt hatte. Trotzdem mussten die Bundesländer dem Unternehmen wohl oder übel unter die Arme greifen, um massive Ausfälle zu vermeiden, und retteten den Betrieb durch Liquiditätszuschüsse.

Im weiteren Verlauf reagierten die einzelnen Bundesländer unterschiedlich auf die Misere: In Baden-Württemberg übernahm die landeseigene SWEG das insolvente Unternehmen mitsamt seiner Mitarbeiter/innen. Noch 2016 hatte Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) geschwärmt, dass das Land durch eine Vergabe an Abellio in Stuttgart nun weniger als die Hälfte pro Zugkilometer zahlte – und diesen Effekt euphorisch „Wettbewerbsrendite“ getauft. Nun managt derselbe Minister den Rückkauf der Reste. Die verantwortlichen Politiker/innen in Nordrhein-Westfalen wählten einen anderen Weg. Sie entschieden sich dafür, Abellio aufzugeben und die betroffenen Bahnstrecken in einer eiligen Notvergabe neu auszuschreiben – genau das, was die Abellio-Beschäftigten befürchtet hatten. Sachsen-Anhalt sicherte durch jährliche Zuzahlungen den Weiterbetrieb einiger Strecken durch Abellio bis 2030, während andere ab 2023 neu ausgeschrieben werden. 

Fazit in allen Bundesländern blieb, dass das Abenteuer Wettbewerb in Chaos, Betriebsausfällen und massiven Mehrkosten für die öffentliche Hand endete. Die Beschäftigten und die Länder wurden zum Spielball eines Unternehmens, das sich verkalkuliert hatte und über Nacht aus dem deutschen Schienenverkehr zurückzog. Ähnliche Erfahrungen mussten auch mit andern Firmen wie Keolis und GoAhead gemacht werden. Die Legitimation für den Wettbewerb auf der Schiene ist deutlich angeschlagen. Und doch scheint es für die Ampelregierung das Modell für die Zukunft der DB zu sein.

Koalition uneins über Abbruch

Tatsächlich war die S-Bahn-Ausschreibung auch in Berlin bereits von Beginn an von wettbewerbstypischen Pannen, Verspätungen und Klageandrohungen geprägt. Noch während der laufenden Koalitionsverhandlungen wurde bekannt, dass die rot-grün-rote Koalition in Berlin beim Bund dafür werben will, Berlin die S-Bahn zu verkaufen, um auf Ausschreibungsprozesse zu verzichten, die „viel Stress und Ärger“ machten. Diese scheinbare Abkehr von der Wettbewerbspolitik wird allerdings durch den Koalitionsvertrag konterkariert, nach dem die Ausschreibungen abgeschlossen werden sollen. Die Koalitionsparteien kommentierten das widersprüchlich: Während die SPD davon ausging, dass die laufenden Verfahren weitergehen sollen, äußerte Die Linke, dass auch ein Abbruch der aktuellen Vergabeverfahren eine Option wäre. Die Grünen haben sich bisher nicht weiter dazu geäußert, ob ein Abbruch der aktuellen Ausschreibung für sie in Frage kommt. Dabei ist die vormalige grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch die neue Verkehrssenatorin von Berlin. Die S-Bahn-Ausschreibung fällt in ihr Ressort und bildet dort mit ihrem Milliardenvolumen das absehbar größte Projekt der nächsten fünf Jahre. Grüne Zustimmung ist nur zur Gründung eines landeseigenen Eisenbahnunternehmens bekannt, das sich an künftigen Vergaben beteiligen könnte. Einer Zerschlagung würde das allerdings nicht vorbeugen, und auch für die aktuelle Ausschreibung käme das zu spät. Denn nächstes Mal wird erst wieder in 15 respektive 30 Jahren vergeben. Der Widerstand wächst, Forderungen zum Abbruch der Ausschreibung werden lauter. Zuletzt hat die Gewerkschaft GEW Berlin die Privatisierung der Berliner S-Bahn abgelehnt und die Rücknahme der Ausschreibung gefordert. Eine einheitliche, integrierte S-Bahn solle Betrieb und Wartung unter einem Dach vereinigen, dem Gemeinwohl verpflichtet werden und auf jede Gewinnorientierung verzichten.   

 

Jorinde Schulz arbeitet mit Kultur, Politik und Texten, ist mit Kilian Jörg Autorin des Buchs »Die Clubmaschine« und Aktivistin gegen Privatisierung bei Eine »S-Bahn« für alle.
Carl Waßmuth ist Bauingenieur und Vorstandsmitglied des Vereins Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB). Der Verein tritt für die Bewahrung und umfassende Demokratisierung aller öffentlichen Institutionen ein, insbesondere der Daseinsvorsorge.

Siehe auch: eine-s-bahn-fuer-alle.de
Kurzfilm zur S-Bahn Berlin auf klimabahn-film.de,  bundesweite Beispiele auf bahn-fuer-alle.de


MieterEcho 422 / Februar 2022