Zwischen Housing First und Zwangsräumungen
Die Berliner Obdachlosenhilfe e.V. zieht eine gemischte Bilanz der rot-rot-grünen Wohnungslosenpolitik
VonVon Autor/innen der Berliner Obdachlosenhilfe e.V.
Der rot-rot-grüne Senat hat das Thema Wohnungslosigkeit deutlich stärker in den Fokus genommen als seine Vorgänger. Ursachenbekämpfung und nachhaltige Lösungen sind die richtigen Ansätze. Was die Umsetzung angeht, gibt es deutlichen Verbesserungsbedarf. Der Berliner Wohnungsmangel als Grundproblem wurde nicht konsequent genug angegangen.
Vieles stand auf der Agenda, als Rot-Rot-Grün 2016 für eine „neue Politik“ antrat. Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) hat immer wieder betont, Wohnungs- und Obdachlosigkeit bekämpfen und nicht nur verwalten zu wollen. Seit 2016 findet jährlich die „Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe“ mit Akteur/innen aus verschiedenen Bereichen der Wohnungslosenhilfe statt und 2019 wurden nach 20 Jahren Vorlauf neue „Leitlinien der Wohnungsnotfallhilfe und Wohnungslosenpolitik“ verabschiedet. Doch was ist letztendlich dabei herausgekommen?
Mittlerweile ist weitgehend unbestritten, dass Housing First eines der effektivsten Mittel zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit ist. Das Prinzip ist denkbar einfach: Zuerst braucht es eine Wohnung, und auf dieser Grundlage werden dann weitere, passgenaue Hilfsangebote entwickelt. In vielen Ländern hat sich dieses Konzept bewährt. So konnte beispielsweise in Finnland auf der Grundlage von Housing First die Obdachlosigkeit nahezu vollständig überwunden werden.
Housing First kaum umgesetzt
Auch der Berliner Senat setzt auf dieses Konzept, die Umsetzung läuft allerdings äußerst schleppend. Bislang gibt es erst Pilotprojekte für etwa 70 Personen. Für eine flächendeckende Durchführung bräuchte es viel mehr Wohnungen. Mittels Kooperationsvereinbarungen verpflichten sich die sechs städtischen Wohnungsbaugesellschaften mittlerweile, besonderen Bedarfsgruppen, zu denen auch wohnungslose Menschen zählen, Vorrang zu geben. Das Versprechen im Koalitionsvertrag, das geschützte Marktsegment auszubauen, wurde aber nicht eingehalten. Seit 2001 bewegen sich die Zahlen zwischen 1350 und 1.377 Wohnungen.
Angesichts eines Rückgangs des Sozialwohnungsbestands seit 2010 um 57.151 Wohnungen (IBB Wohnungsmarktbericht 2020) bräuchte es ein klares Zeichen gegen eine profitorientierte Verwertung von Wohnraum. Dass die Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ vor diesem Hintergrund nur von der Linkspartei unterstützt wird, ist aus unserer Sicht enttäuschend. Zudem muss Housing First entbürokratisiert und unabhängig vom Sozialleistungsanspruch zugänglich gemacht werden.
Auch die im Koalitionsvertrag versprochene Erarbeitung einer Wohnungslosenstatistik war ein Schritt in die richtige Richtung. Sie wurde von der Sozialverwaltung in Zusammenarbeit mit der Alice-Salomon-Hochschule nach Pariser Vorbild konzipiert. Doch die Zählung der „sichtbar auf der Straße lebenden Menschen“, die unter dem Namen „Nacht der Solidarität“ lief, bekam nicht nur viel Aufmerksamkeit, sondern auch Gegenwind. Ablauf und Vorgehensweise der Zählung wurden gerade von obdachlosen Menschen stark kritisiert: Sie sahen Stigmatisierung statt Solidarität. Außerdem erschütterte ein Polizeieinsatz, der zur Zeit der Zählung stattfand, das Vertrauen enorm. Im Vorfeld war zugesichert worden, dass keine Polizei anwesend sein würde.
Dazu kommt, dass bei geschätzt 6.000–10.000 obdachlosen Menschen das Ergebnis der Zählung, 1.976 Personen, nicht als repräsentativ gelten kann. Die nächste Zählung soll 2022 stattfinden. Um mehr Ressourcen für die Beteiligung obdachloser Menschen im Vorfeld zu garantieren, hat die Senatsverwaltung dafür nun den Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. (VskA) beauftragt. Auch wenn wir die Erfassung obdach- und wohnungsloser Menschen für grundsätzlich sinnvoll halten, stellt sich die Frage nach dem Rückhalt bei den Betroffenen. Es ist zu befürchten, dass eine noch geringere Zahl zustande kommt, weil die Menschen die Zählung boykottieren.
Die Unterbringung auf Grundlage des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) soll bald zentral durch den Senat gesteuert werden. Über eine Software, ähnlich einer Plattform für Hotelbuchungen, sollen bedarfsgerechte Unterkünfte ermittelt werden. Neben dem Ausbau von Beratungsstellen sollen Vermieter/innen vertraglich zur Einhaltung von Qualitätsstandards verpflichtet werden. Das war bei ASOG-Einrichtungen bisher nicht gegeben. Entsprechend menschenunwürdig sind aktuell die Zustände in vielen Unterkünften. Wir befürworten die geplanten Verbesserungen bei der ASOG-Unterbringung, langfristig sollte dieses Modell aber abgeschafft werden. Mit Tagessätzen von bis zu 70 Euro kostet diese Art der Unterbringung den Staat viel mehr Geld als die Monatsmiete einer Wohnung, wovon vor allem die Betreiber profitieren. Das Problem mit den ASOG-Unterkünften ist schon lange bekannt. Auch wenn es jetzt Ankündigungen zur Verbesserung gibt, konkret passiert ist bislang noch nichts.
Neben der Wohnungslosenstatistik hätte es laut Koalitionsvertrag auch eine Räumungsstatistik geben sollen. Diese kam nicht zustande. Eine durch die Landesarmutskonferenz Berlin (LAK Berlin) durchgeführte Befragung der Berliner Sozialämter ergab: 2019 sind die Räumungen im Vergleich zu 2014 um fast die Hälfte zurückgegangen und eine sukzessive Verbesserung in den Präventionsmaßnahmen ist zu verzeichnen. Auch wenn wir den positiven Trend gutheißen, sind knapp 5.000 Räumungen pro Jahr nach wie vor nicht akzeptabel. Zwangsräumungen sind oft der direkte Weg in die Wohnungslosigkeit und müssen daher mit allen Mitteln verhindert werden.
Räumungen informeller Lager wurden auch unter Rot-Rot-Grün betrieben und das nicht zu knapp. Zwar sollte der Eindruck entstehen, zum Wohle der Camp-Bewohner/innen zu handeln. Wäre das der Fall gewesen, wäre die Räumung des Camps an der Rummelsburger Bucht anders verlaufen: Die etwa 100 Bewohner/innen mussten um 3 Uhr nachts mit Polizeieinsatz ihr Camp verlassen, ob sie wollten oder nicht. Die weiterführende, langfristige Unterbringung in Wohnungen muss in solchen Fällen gewährleistet werden.
Neue Konzepte der Common/Safe Places sollen unter Regie von sozialen Trägern und Bezirken quasi Ordnung in die informellen Camps bringen. Ein Pilotprojekt wird derzeit in Lichtenberg mit acht (!) Personen geplant. Auch für Friedrichshain-Kreuzberg war das angedacht, aber im Szene-Bezirk fehlt bislang die nötige Freifläche dafür. Für uns sind das nur kostspielige Prestigeprojekte, die keine flächendeckenden Lösungen bieten.
Betroffene müssen beteiligt werden
Mit Beginn der Corona-Pandemie brachen große Teile der Hilfesysteme weg, was eine immense Herausforderung für die darauf angewiesenen Menschen bedeutete. Die Politik reagierte anfangs gar nicht und dann nur zögerlich. Die Hilfsorganisationen mussten eigenständig Hygienekonzepte entwickeln und standen dabei oft vor unüberwindbaren räumlichen Problemen. Immerhin: Die Ausstattung der Einrichtungen mit Tests sowie, niedrigschwellige Impfangebote waren hilfreiche Maßnahmen. Aber effektiven Schutz bietet letztendlich nur eine eigene Wohnung. Dass im Winter 2020/21 neben den Notübernachtungen der Kältehilfe auch rund um die Uhr geöffnete Einrichtungen geschaffen wurden, war daher dringend notwendig. Die durchweg positive Rückmeldung der Bewohner/innen zeigt wieder, dass Wohnraum die Grundvoraussetzung für eine Besserung der Lebenssituation ist. Leider wurden auch diese Einrichtungen mit dem Ende der Kältehilfe größtenteils aufgelöst. Die Schließung der Unterkünfte am Boxhagener Platz mit Polizeieinsatz lief unter katastrophalen Umständen ab, und es wurde sich nicht um Alternativen für die 500 Menschen gekümmert.
Uns ist bewusst, dass ein jahrelang gewachsenes und kaum beachtetes Problem nicht von heute auf morgen gelöst werden kann. Sollte es wieder zu einer rot-rot-grünen Regierung kommen, braucht es mehr Beteiligung von Betroffenen. Die Beschaffung von bezahlbarem Wohnraum sowie Wohnungserhalt als Prävention gegen Obdachlosigkeit müssen deutlich konsequenter angegangen werden. Dafür ist der politische Wille notwendig, die Wohnungsversorgung nicht dem Markt zu überlassen. Natürlich begrüßen wir die Ankündigung der Sozialsenatorin, Obdachlosigkeit bis 2030 abschaffen zu wollen. Wir sind gespannt, was davon nach dem Wahlkampf übrigbleibt.
Die Berliner Obdachlosenhilfe e.V. ist ein auf vorrangig ehrenamtlicher Arbeit basierender Verein, der niedrigschwellige Hilfsangebote in Form von Sozialberatung und Grundversorgung direkt auf der Straße bereitstellt.
MieterEcho 420 / September 2021