Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 420 / September 2021

Wahlprogramme in der Krise

Adäquate und nachhaltige Reaktionen auf soziale und ökologische Krisen sind selten, die Berliner Parteien versprechen sie nicht einmal

Von Hermann Werle

Eineinhalb Jahre der Pandemie haben vielfältige Krisenerscheinungen verstärkt, hervorgebracht und augenfällig werden lassen. Dienstleistungen und Infrastrukturen standen auf dem Prüfstand und offenbarten auf für viele Menschen sehr schmerzliche Weise, wie verwundbar die globalen Gesellschaften und auch eine vergleichsweise reiche Stadt wie Berlin ist. Es folgen einige Versatzstücke aus den Wahlprogrammen der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien, die illustrieren, ob und in welcher Weise sich die multiplen Krisen darin widerspiegeln. 

Dass Wahlversprechen in Vergessenheit geraten oder ihrer Umsetzung harren, belegen die in dieser Ausgabe dargelegten Bilanzen der Mieten- und Wohnungspolitik. An dieser Stelle soll es darum nicht gehen, sondern um die Frage, ob die Parteien die offenkundigen Missstände unter anderem in den Verwaltungen und im Gesundheits-, Bildungs- oder Wohnungswesen ernsthaft zur Kenntnis nehmen und so etwas wie Handlungsdruck verspüren, um für künftige Krisen oder auch nur den Normalbetrieb gewappnet zu sein.

Opposition setzt auf Wohneigentum 

Wenig überraschend präsentiert sich die AfD als Partei der wirtschaftlichen Freiheit und des Wettbewerbs „ohne unnötige staatliche Hindernisse und Bürokratie.“ Die aktuellen Krisen spielen in dem Wahlprogramm nur insofern eine Rolle, als dass die Rechtsaußen-Partei ein „gesellschaftliches Klima“ anprangert, welches unter anderem beim Umwelt- und Klimaschutz „dogmatische Sichtweisen leider gerade auch im Politikunterricht an Berliner Schulen“ verfestigen würde. 

Bei der Wohnraumversorgung setzt die AfD auf ihre rechtsliberal-völkischen Positionen, die die Beendigung der unterstellten „Bevorzugung von Asylbewerbern durch öffentliche Wohnungsbaugesellschaften“ postulieren, sowie auf die Stärkung der Subjektförderung an Stelle einer Objektförderung im sozialen Wohnungsbau. Darüber hinaus setzt sich die AfD für die Stärkung des selbstgenutzten Wohneigentums ein, womit sie nicht allein steht.

Auch FDP und CDU möchten die Wohneigentumsquote erhöhen und entsprechende Förderinstrumente stärken. Wenn es nach der FDP ginge, sollten die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften „ein Konzept zur Mieterprivatisierung in ihrem Bestand vorlegen, sodass möglichst viele Mieterinnen und Mieter ihre Wohnung erwerben können.“ Dass aus dem Traum der Eigentumswohnung in Krisenzeiten sehr schnell der Albtraum von Verschuldung und Zwangsverkäufen wird, ist den Wirtschaftsliberalen entgangen, bzw. lässt sie das kalt. Auch sonst sieht die FDP die aktuellen Problemlagen aus rein haushälterisch-marktradikaler Perspektive. So heißt es in ihrem Wahlprogramm, dass es wegen der Mehrausgaben und Mindereinnahmen aufgrund der Pandemie notwendig sei, „so schnell wie möglich wieder zu einem Haushalt ohne Neuverschuldung zurückzukehren, um künftige Generationen nicht noch stärker zu belasten.“ Vorgeschlagen wird zudem, auf den Pfad der Privatisierungen zurückzukehren. So sollen landeseigene Grundstücke „zügig an private Akteurinnen und Akteure übertragen“ werden und unter dem Primat „Privat vor Staat“ diverse andere Bereiche der privatkapitalistischen Verwertung überlassen werden, womit sich das FDP-Programm endgültig als Griff in die neoliberale Mottenkiste entpuppt.

Im Einklang mit AfD und FDP setzt auch die CDU auf die Subjektförderung in der Wohnungs- und Mietenpolitik und möchte mit einem „neuen Berliner Mietergeld“ „gezielt Mieterinnen und Mieter unterstützen, die sich trotz mittlerer Einkommen die Miete nicht mehr leisten können.“ Die Begriffe Krise und Corona tauchen in erster Linie im Rahmen der wirtschaftspolitischen Vorstellungen der CDU auf. Unter dem Titel „Neustart nach der Krise“ möchten die Christdemokraten prüfen, „den Gewerbesteuersatz vorübergehend abzusenken.“ Für Steuererleichterungen für die Hotellerie und Gastronomie in Form eines reduzierten Umsatzsteuersatzes möchte sich die Berliner CDU auf Bundesebene einsetzen. Nach entsprechenden Erleichterungen für Menschen mit geringen Einkünften kann man in dem Programm lange suchen, stößt dabei aber z.B. auf ein „Versorgungswerk für Steuerberater“, welches das Land Berlin einrichten soll. 

Summa summarum lasten die Oppositionsparteien die negativen Folgen der Pandemie dem amtierenden Senat an, um Stimmung für einen wirtschaftsliberalen Neustart zu machen.

Realitätsverweigerung bei der SPD

Weit entfernt von einer kritischen Betrachtung des Regierungshandelns befindet sich das SPD-Programm. Hier reicht der Blick in die Präambel. Verfasst von den Vorsitzenden Raed Saleh und Franziska Giffey gleichen die Ausführungen einer kompletten Realitätsverweigerung. Kein Wort zum Personalmangel in Gesundheitsämtern, Krankenhäusern oder Schulen und auch nicht zu den am stärksten von der Krise betroffenen Menschen. An Stelle dessen, Vorgaukeln einer heilen Welt, die nur etwas Verbesserung bedürfe. So gehöre Berlin „zu den attraktivsten Städten Europas und der Welt“ und an diesem Erfolg solle angeknüpft werden: „Für eine Stadt, in der alle mobil sind, und zwar so, wie sie es wollen und brauchen. Wir arbeiten für eine Stadt der Gesundheit und der guten Jobs, die für alle bezahlbar bleibt. Eine Stadt, in der sich die Menschen einen Guten Tag wünschen, zusammen feiern, sich begegnen und ihren Müll dahin tun, wo er hingehört. Wir arbeiten für eine Stadt mit noch besseren Schulen, noch mehr Bildung und noch mehr Kultur.“

Den Realitäten näher kommt das Programm der Grünen. Deren Spitzenkandidatin Bettina Jarasch stellt im Vorwort fest, dass uns die Pandemie noch länger begleiten wird, „wirtschaftlich und sozial, aber auch jede und jeden von uns ganz persönlich.“ Wie bei der Spitzenkandidatin auf Bundesebene folgt der Appell an ein „Wir“, welches losgelöst aller gesellschaftlichen Widersprüche „Berlin zu einer lebenswerten, grünen Stadt“ machen soll. „Wir ringen miteinander um die besten Lösungen und setzen sie dann zusammen um“, so Jarasch. Dabei zähle zuerst, „wohin wir zusammen wollen. Wir brauchen einen Mentalitätswandel.“ Wie sich dieser Mentalitätswandel z.B. in den Geschäftsführungen und Vorständen der Wohnungswirtschaft vollziehen soll, bleibt das Geheimnis der Grünen. Angestrebt wird ein „Wohnungsmarkt nach Wiener Vorbild“, wofür ein „breites Bündnis“ geschlossen werden soll – „von den landeseigenen Wohnungsunternehmen über gemeinwohlorientierte Genossenschaften (…) bis zu Privatvermietenden, die sich wie die öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften auf das Gemeinwohl und somit dauerhaft auf leistbare Mieten für alle Schichten verpflichten.“ Dass sich die Wurzeln des Vorbilds im „Roten Wien“ finden und dieses gegen massive Widerstände der besitzenden Klasse durchgesetzt werden musste, schert die Grünen wenig. Eine positive historische Bezugnahme auf die austromarxistische Ära könnte Koalitionsmöglichkeiten einschränken.

Wie bei den Grünen finden die Krisenerscheinungen sehr deutlichen Niederschlag in der Programmatik der Linken. So wird in der Präambel ganz richtig festgestellt, „dass nicht vorrangig Banken systemrelevant sind, sondern vor allem Menschen in Krankenhäusern, Verwaltungen, Supermärkten, bei der BSR, der BVG oder in Arztpraxen.“ Und auch die Zielstellung klingt ambitioniert: „Wir wollen das Prinzip der Krisenfestigkeit, der Resilienz in die Politik für unsere Stadt einflechten. Ob es eine erneute Pandemie, der Klimawandel, ökonomische Krisen oder globale Fluchtbewegungen sind: Unser Gemeinwesen, die öffentliche Infrastruktur braucht Puffer, statt sie auf Kante zu nähen.“ Die Priorität solle auf starken öffentlichen Leistungen liegen, „die allen zugutekommen und dafür sorgen, dass niemand zurückgelassen wird.“ Dabei stehe fest, so das Wahlprogramm: „Auf DIE LINKE ist auch in dieser Krisensituation Verlass.“ Das Programm der Linken enthält die weitgehendsten sozialen Komponenten, die Regierungsbeteiligungen der Vergangenheit lassen indes an der Verlässlichkeit zweifeln.

Angesichts der sozialen und ökologischen Herausforderungen kann Berlin nach den Wahlen auf die Beteiligung der bisherigen Oppositionsparteien getrost verzichten. Ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel ist aber auch unter Fortführung der jetzigen Koalition nicht zu erwarten. Arbeitskämpfe, Proteste und Volksbegehren werden auch in den kommenden Jahren die Politik vor sich her treiben müssen, um kleine Fortschritte zu erreichen.

 

 


MieterEcho 420 / September 2021

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