Systemrelevant und schlecht entlohnt
Ein Viertel der Berliner Beschäftigten verdient einen Niedriglohn
Von Jörg Meyer
Obwohl die Reallöhne kürzlich gestiegen sind, verdienen die Berliner/innen im Bundesländervergleich weiterhin schlecht. Dienstleistungssektor, Gesundheitswesen und Handel haben den höchsten Anteil an Geringverdienenden. Und die Corona-Krise traf Beschäftigte mit Niedrigeinkommen und prekär Beschäftigte am härtesten.
Die guten Nachrichten zuerst: Nach einem bundesweiten Rückgang der Reallöhne zwischen 2000 und 2012 steigen diese seit Jahren wieder kontinuierlich an. Im 2. Quartal 2021 lag der Reallohnindex für ganz Deutschland bei 3%. Konkreter: Die Nominallöhne, also die tatsächlichen Einkommen, stiegen um 5,5% gegenüber dem 2. Quartal 2020. Bei einer Inflationsquote von 2,4 ergibt das einen um 3% höheren Reallohn.
Das war es aber auch schon mit den guten Nachrichten. Denn was sich nicht geändert hat, ist, dass Berlin im bundesweiten Vergleich nach wie vor einen Spitzenplatz bei der Anzahl der Niedriglohnbeschäftigten einnimmt. Der Branchenvergleich zeigt, dass besonders die in Dienstleistungsbereichen Beschäftigten unter der Krise gelitten haben. Kontinuierlich steigende Mieten und explodierende Energiepreise sorgen dafür, dass es nicht leichter wird, in der Stadt zu wohnen.
Im Bundesländervergleich der verfügbaren Einkommen pro Mitglied von privaten Haushalten liegt Berlin mit 21.327 Euro auf dem fünftletzten Platz. Spitzenreiter ist Bayern mit 26.526 Euro pro Haushaltsmitglied vor Hamburg mit 25.808 Euro, Schlusslicht ist Sachsen-Anhalt mit 20.504 Euro.
Die Auswirkungen der Niedriglöhne sind gravierend. Oft haben die Beschäftigten mehrere Jobs, weil der eine Job allein zum Leben nicht ausreicht. Die Diskussion um die steigenden Lebenshaltungskosten, besonders bei Mieten und Energiepreisen, ist allgegenwärtig, und die Inflation steigt ebenfalls auf immer neue Rekordwerte. Im Oktober lag sie zuletzt bei 4,5%. Und das dicke Ende dürfte noch nachkommen. Nach Angaben der Statistiker/innen sind die deutlich erhöhten Gaspreise auf den Weltmärkten noch nicht bei den Verbraucher/innen angekommen. Während die Importpreise für Erdgas im August 2021 um 177,5% höher als im Vorjahresmonat lagen, war der Verbraucherpreis im September 5,7% höher als im September 2020.
Geringqualifizierte verlieren als Erste den Job
Im Jahr 2020 erfasste die Bundesagentur für Arbeit insgesamt 1.539.290 Berufstätige in Berlin, 50,4% davon Männer, 49,6% Frauen. Rund eine Million Menschen arbeiteten in Vollzeit, rund 500.000 in Teilzeit. Blickt man auf das Anforderungsniveau der Tätigkeiten, waren dies 186.370 in Helfertätigkeiten, 793.960 Fachkräfte, 303.780 Expert/innen sowie 249.260 Spezialist/innen. Im ersten Corona-Jahr 2020 nahm besonders die Zahl der Helfer/innen ab. Sie sind es, die am wenigsten verdienen, oft prekäre Jobs haben und schlechte Arbeitsbedingungen und die von Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt besonders betroffen sind. Anders gesagt: Wenn es kriselt, verlieren sie als Erste den Job – auch weil Unternehmen in Zeiten des Fachkräftemangels vorrangig ihre gut qualifizierten Beschäftigten halten wollen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Berlin-Brandenburg hat Ende September einen aktuellen Niedriglohnbericht vorgelegt. Auf Basis der Zahlen des sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ist es laut DGB der erste detaillierte Einblick in die Zahlen am Ende der Berliner und Brandenburger Lohnskala. Danach arbeiteten in den Jahren 2017 bis 2019 rund 375.000 Berliner/innen im Niedriglohnsektor – fast jede und jeder vierte Beschäftigte.
Je besser die Ausbildung, desto niedriger das Risiko, in einem Niedriglohnjob zu landen. In Berlin hatten im Untersuchungszeitraum rund 50% der Niedriglöhner/innen keinen Abschluss, 27,5% einen Berufsabschluss und nur rund 13% einen Hochschulabschluss. Relevant ist auch die Staatsangehörigkeit beziehungsweise der Migrationshintergrund: 32,4% der Niedriglöhner/innen haben eine ausländische Staatsangehörigkeit, 29,7% einen direkten und 25,3% einen indirekten Migrationshintergrund.
Nimmt man nur die Vollzeitbeschäftigten, sind es 19,5%, die zu einem Monatslohn von unter 2.284 Euro und damit unterhalb der Niedriglohnschwelle gearbeitet haben. Die durchschnittliche Zahl der Beschäftigten im Berliner Niedriglohnsektor war von 10,7% zwischen 1997 und 1999 auf 29,3% zwischen den Jahren 2008 und 2010 gestiegen und sinkt seitdem auf einem hohen Niveau.
Vergleicht man Ost- und Westdeutschland, werden deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern auffällig. Im Westen sind 63,3% der Niedriglohnbeschäftigten weiblich; bei einem Anteil von 45,9% an der Erwerbsbeteiligung. Das Risiko in den Niedriglohnbereich zu rutschen ist für Frauen im Westen (25,5%) doppelt so hoch wie für Männer (13,8%). In Ostdeutschland liegen die Zahlen enger beieinander (Frauen 33,5%, Männer 27,8%), sind aber insgesamt höher, was daran liegt, dass im Osten mehr Männer zu äußerst niedrigen Einkommen arbeiten. In Berlin sieht das anders aus. Hier liegt das Niedriglohnrisiko von Frauen (21,7%) leicht unterhalb dem von Männern (26,8%). Das dürfte daran liegen, dass die Zahl der Beschäftigten im Produzierenden Gewerbe deutlich niedriger ist als im Bundesdurchschnitt.
Dienstleistungen weiter schlecht bezahlt
Blickt man nun auf die Branchen, in denen niedrigste Löhne am weitesten verbreitet sind, gerät wenig überraschend der Dienstleistungssektor in den Fokus. Wie die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) unlängst mitteilte, verdienen die Beschäftigten im Berliner Gastgewerbe rund 43% unterhalb des Durchschnittseinkommens. Der Lohn in der untersten Lohngruppe liegt noch bei 10,55 Euro. Die NGG hat Ende Oktober mit dem Arbeitgeberverband DEHOGA einen Tarifabschluss vereinbart. Danach steigen die Entgelte in der untersten Lohngruppe zum 1. Januar auf mindestens 12 Euro. Monatelange Schließungen seit Beginn der Pandemie bei 60% Kurzarbeitergeld haben dazu geführt, dass besonders Fachkräfte dem Gastgewerbe den Rücken gekehrt haben.
Doch im Gastgewerbe arbeiten nicht die meisten Beschäftigten zu miesen Löhnen. Den größten Anteil am Gesamtaufkommen haben – zusammengefasst in Berlin und Brandenburg – mit 19,5% „sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen“. Dabei geht es um Tätigkeiten wie beispielsweise Verwaltungstätigkeiten und Abrechnung, die Anmietung von Fahrzeugen und Maschinen, Wachdienste und die Überlassung von Arbeitskräften. Auf den Plätzen folgen der Handel (16,7%), das Gesundheits- und Sozialwesen (12,1%), das verarbeitende Gewerbe (11,1%) und eben das Gastgewerbe mit 9,9% an der Gesamtzahl der Niedriglöhner/innen. Im Gebäudereinigerhandwerk erhalten die meisten Beschäftigten den Branchenmindestlohn von 11,11 Euro, der bis 2023 auf 12 Euro steigen soll. 77% der Beschäftigten arbeiten nach Angaben der Industriegewerkschaft BAU in Teilzeit und rund 52% sind geringfügig beschäftigt.
Nach Angaben des Instituts für Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen hat sich die Rangfolge der Branchen mit den meisten Niedriglöhner/innen bundesweit zwischen 2014 und 2018 verschoben. Gastgewerbe und Handel sind nach hinten gerutscht, Gesundheitswesen und unternehmensnahe Dienstleistungen sind in der Rangliste gestiegen.
Fest steht: Keine Berufsausbildung, Migrationshintergrund, kein Tarifvertrag und ein Minijob sind die Faktoren, die in Berlin das höchste Risiko bergen, im Niedriglohnbereich zu landen. Und wer einmal drin ist, kommt nur schwer wieder raus. Die soziale Mobilität in Deutschland hat sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert. Wer reich ist, bleibt reich, wer arm ist, bleibt es auch. Die soziale Ungleichheit hat sich trotz des anhaltenden Aufschwungs in den vorpandemischen Jahren eher noch verschärft. Das liegt im Wesentlichen an der stark steigenden Zahl von prekären, tariflosen und mies entlohnten Jobs. Auffallend ist auch, dass besonders Beschäftigte in den sogenannten systemrelevanten Branchen oft viel zu wenig verdienen.
Jörg Meyer ist freier Journalist und Redakteur in Berlin und schreibt über Gewerkschaften, Arbeit und Soziales.
MieterEcho 421 / Dezember 2021