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MieterEcho 421 / Dezember 2021

Schulterschluss mit privaten Investoren

Nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus bahnt sich eine Neuauflage der rot-rot-grünen Koalition an

Von Rainer Balcerowiak

Am 26. September wurde ein neues Abgeordnetenhaus gewählt. Auf den ersten Blick haben die Berliner/innen für ein „Weiter so“ votiert. Denn der rot-rot-grüne Block hat seinen Stimmenanteil sogar leicht erhöhen können, von 52,4 auf 54,3%. Während die SPD ihre Position halten konnte, legten die Grünen deutlich zu. Die Linke musste zwar Einbußen hinnehmen, aber bei weitem nicht so dramatisch wie im Bund. Der bürgerliche Block aus CDU und FDP hat dagegen nur um 0,9 auf 25,3% zugelegt. Gegen einen vermeintlichen Rechtsrutsch sprechen ferner die deutlichen Verluste der AfD, die 6,2% einbüßte und deren Stimmanteil sich damit fast halbierte. Auch der mit über 57% der abgegebenen Stimmen erfolgreiche Volksentscheid der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ deutet auf eine progressive, eher linke Grundstimmung in der Stadt hin.

Auf der anderen Seite hatte sich in allen Vorwahlumfragen eine mehr oder weniger deutliche Mehrheit der Wähler/innen unzufrieden mit dem amtierenden Senat geäußert. Dafür gibt es viele Gründe. Verwaltung und Bürgerdienste sind in einem erbarmungswürdigen Zustand, der Stand der Digitalisierung ist eine Lachnummer, das Schulwesen pfeift ebenso aus dem letzten Loch wie das öffentliche Gesundheitswesen und die Kliniken, der Stadtverkehr droht im Chaos zu versinken. Und dann wäre da noch der Wohnungsmarkt mit bis zu 100.000 fehlenden Wohnungen und 50 bis 60.000 Wohnungslosen, die nur zum geringen Teil auf der Straße leben, sondern irgendwie prekär untergebracht sind. Nicht zu vergessen die weiterhin explodierenden Mieten, die im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielten. Und an all diesen Missständen haben fünf Jahre Rot-Rot-Grün so gut wie nichts geändert. Aber wie passt das mit dem Wahlergebnis zusammen?

Schlüssel ist die Entwicklung der SPD, die sich unter ihrer neuen Frontfrau Franziska Giffey seit deren Berufung zur Landesvorsitzenden deutlich von einigen  Kernelementen rot-rot-grüner Politik abgesetzt hat. Und damit die in der Stadt weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Regierungskoalition aufnahm und bediente. Nimmt man nicht die Wahlergebnisse von 2016, sondern die Umfragen zum Zeitpunkt der Giffey-Nominierung vor fünf Monaten zum Maßstab, dann ist ihre erfolgreiche Aufholjagd die eigentliche Überraschung bei dieser Wahl. Denn im April 2021 lag die SPD bei 15% und jetzt erreichte sie 21,4%.

Giffey hat sich durchgesetzt

Viel interessanter als das Gesamtergebnis der Wahlen sind daher die Verschiebungen innerhalb der Stadt. Innerhalb des S-Bahn-Rings legten die Grünen deutlich zu und gewannen mehr als drei Viertel aller Direktmandate sowie Mehrheiten in allen Bezirksparlamenten (außer Neukölln). In fünf von zwölf Berliner Stadtbezirken wird sie künftig den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin stellen – bisher waren es nur zwei. Dagegen musste die SPD teilweise herbe Verluste hinnehmen – auf Landesebene blieb sie dagegen stabil. Längst erstreckt sich die grüne Hegemonie nicht mehr nur auf die klassischen „alternativen Kieze“, auch im bürgerlichen Charlottenburg konnten die Grünen deutlich punkten. 

In den meisten Außenbezirken sieht das anders aus. Zulegen konnte punktuell aber nicht nur die oppositionelle CDU, deren erstmaliger Sieg in Marzahn-Hellersdorf durchaus als Sensation gewertet werden kann. Doch wem der rot-rot-grüne Kurs nicht passte, der hatte diesmal auch eine weitere Möglichkeit, dem auf dem Stimmzettel Rechnung zu tragen. Er konnte die SPD wählen, da deren neue Landeschefin Giffey recht überzeugend versprochen hatte, als Regierende Bürgermeisterin zu den konservativen Wurzeln der schon immer recht speziellen Berliner Sozialdemokratie zurückzukehren.

Giffey verkörpert in erster Linie eine rückwärts gewandte Sehnsucht nach einer teilweise piefigen „Normalität“ und stellte Werte wie Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit ins Zentrum ihrer Wahlaussagen. Sie kühlte auch die Wunden der aufgebrachten Autofahrer/innen und sicherte ihnen „gleichberechtigte Teilnahme am Stadtverkehr“ zu. Sie kultivierte ihr Image als gleichermaßen zupackende wie empathische „Kümmerin“, das sie bereits in ihrer früheren Zeit als Bezirksbürgermeisterin von Neukölln erfolgreich gepflegt hatte. 

Rot-Rot-Grün nicht erste Wahl

Nach der Wahl hatte Giffey jede Menge Optionen für die Regierungsbildung. Ihr erklärter Favorit war eine „Ampel-Koalition“ mit Grünen und FDP. Doch darauf hatten die in Berlin im Vergleich zur Bundespartei etwas weiter links stehenden Grünen wenig Lust. Geliebäugelt hatte Giffey auch mit einer „Deutschland-Koalition“ mit CDU und FDP. Doch damit biss sie in ihrer ansonsten nahezu sklavisch folgsamen Partei auf Granit. Mit den Linken wollte sie eigentlich nicht, wohl wissend, dass ihr das viele der gewonnenen konservativen Wähler/innen auch ziemlich übel nehmen würden. Doch letztendlich hatte sie keine andere Wahl mehr. Und da die Linke flugs signalisierte, dass sie zum absoluten Schnäppchenpreis zu haben sei, blieben Giffey auch keine Ausflüchte mehr. Denn die Linke hat bereits in den Sondierungen ihren einzigen Wahlschlager, das im Volksentscheid erfolgreiche Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, zur Disposition gestellt. Und es ist inoffiziell auch klar, dass die Linke ihr „Premiumressort“ (Stadtentwicklung und Wohnen) im neuen Senat nicht mehr besetzen darf, denn das sei jetzt „Chefinnensache“, so Giffey, der vor allem der Schulterschluss mit privaten Immobilienkonzernen am Herzen liegt.

Aber wie geht es nun weiter? Die am 15. Oktober von SPD, Grünen und Linken beschlossenen „Leitlinien für Koalitionsverhandlungen“, die bis Ende November abgeschlossen sein sollen, enthalten außer Sprechblasen kaum linke und auch nur wenig grüne Duftmarken. Alles soll besser und schneller gehen, Wohnungsbau, Wirtschaft, Bildung, Tourismus und Kultur sollen aufblühen, Schulen, Krankenhäuser und Bürgerdienste wieder funktionieren und irgendwie soll es auch klimagerechter, sozialer und digitaler werden. In der Verkehrsplanung soll wieder auf den Ausbau des U-Bahn-Netzes gesetzt werden. Für die nicht-alternative Berliner Volksseele gibt es zudem eine Prise Law and Order und den Weiterbau eines bislang von Grünen und Linken abgelehnten Autobahnabschnitts. Wobei alles unter einem strengen Finanzierungsvorbehalt steht, denn nicht nur Giffey, sondern auch die beiden Spitzenkandidat/innen Bettina Jarasch (Grüne) und Klaus Lederer (Linke) betonten nach Abschluss der Sondierung, dass es angesichts der angespannten Haushaltslage nach der Corona-Krise „Priorisierungen“ geben müsse und man „nicht mehr aus dem Vollen schöpfen kann“ (Lederer).   

Das alles trägt deutlich die Handschrift der Giffey-SPD, besonders in der Wohnungspolitik. Erneut wird der Bau von 20.000 neuen Wohnungen pro Jahr angestrebt. Realisiert werden soll das durch eine Beschleunigung und Vereinfachung der Bau- und Planungsverfahren. Ferner soll  dabei „ein Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen gegründet (werden), das die städtischen Wohnungsbaugesellschaften, die Genossenschaften und die privaten Wohnungsunternehmen einbezieht, um Wohnungsbauvorhaben konsequent voranzutreiben“. Dabei setze man auf „das Prinzip Kooperation statt Konfrontation“. 

Volksentscheid soll versanden

Der erfolgreiche Volksentscheid für die Vergesellschaftung eben jener Wohnungsunternehmen, mit denen SPD, Grüne und Linke keine Konfrontation wollen, dürfte damit kaum vereinbar sein. Da man ihn nicht einfach für nichtig erklären kann, soll er in eine „Expertenkommission“ entsorgt werden, die nach einem Jahr eine unverbindliche „Empfehlung“ abgeben soll, wie der Senat weiter verfahren könnte. 

Für die Linke ist das ein Problem. Schließlich war die zügige Umsetzung eines erfolgreichen Volksentscheides, also die Erarbeitung eines Gesetzes zur Vergesellschaftung ihr wichtigstes Wahlkampfversprechen. Auf einem Sonderparteitag des Landesverbandes zu den anstehenden Koalitionsverhandlungen am 19. Oktober setzte sich die Parteispitze mit ihrem regierungsfixierten Kurs durch. Ein Antrag, mit dem die Festlegung auf eine zügige Umsetzung des Volksentscheids als Bedingung für einen Koalitionsvertrag festgelegt werden sollte, fand keine Mehrheit. Das letzte Wort sollen dann die Mitglieder haben, die voraussichtlich Anfang Dezember über den dann vorliegenden Koalitionsvertrag und somit eine Regierungsbeteiligung der Linken abstimmen sollen.  

 


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