Hauptstadt der Wohnungsnotlagen
Es fehlt angemessener Wohnraum für etwa 85.000 Menschen
Von Andrej Holm
Berlin hat einen Masterplan gegen die Wohnungslosigkeit. Im September 2021 veröffentlichten Sozialsenatorin Elke Breitenbach und ihr Staatssekretär Alexander Fischer einen „Berliner Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030“ . Berlin kommt damit den internationalen Verpflichtungen nach, denn bereits 2015 beschloss die UNO in ihren Nachhaltigkeitszielen, Armut und Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden. Auch eine Resolution des Europäischen Parlaments im Jahr 2020 rief das Ziel der Beendigung der Obdachlosigkeit bis 2030 aus und forderte die Mitgliedstaaten zu abgestimmten Strategien auf, dieses Ziel zu erreichen. Die im Masterplan vorgeschlagenen Instrumente werden jedoch bei weitem nicht ausreichen, die etwa 85.000 Menschen in akuten Wohnungsnotlagen mit leistbaren, angemessen und sicheren Wohnungen zu versorgen.
Wie fast immer, wenn Politik konkrete Ziele formuliert, ist die Problemdefinition von zentraler Bedeutung. Im vorgelegten Masterplan werden neben den Menschen, die auf der Straße leben, auch all jene dazu gezählt, die in Gemeinschaftsunterkünften und betreuten Wohnformen untergebracht sind. In einer sogenannten „Nacht der Solidarität“ erfolgte im Januar 2020 eine Zählung der Straßenobdachlosigkeit in Berlin und kam auf eine Zahl von 2.000 Menschen, die auf der Straße angetroffen wurden. Die Berichte der Zählung räumen dabei ein, dass es zu einer deutlichen Unterschätzung der tatsächlichen Obdachlosenzahlen kam, weil vielfältige Möglichkeiten bestanden, sich der Zählung zu entziehen. Die Schätzungen von Caritas und dem Diakonischen Werk – die viele Notunterkünfte und auch die Kältehilfe in Berlin betreiben – liegen deutlich über den Ergebnissen der Zählung, bei über 10.000 Obdachlosen in Berlin.
Unterbringung im Rahmen der Ordnungspolitik
Hinzu kamen im Juni dieses Jahres über 31.000 Menschen, die im Rahmen von „ordnungsrechtlichen Maßnahmen“ in Not- und Gemeinschaftsunterkünften untergebracht wurden. In einer anachronistischen Kontinuität aus den Zeiten als „obdachlose Personen als Störer für Rechtsgüter der Allgemeinheit angesehen wurden“, wird die Unterbringung von Wohnungslosen in der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht als eine sozialpolitische Angelegenheit betrachtet, sondern in landesrechtlichen Polizei-, Ordnungs-, Sicherheits- oder Verwaltungsgesetzen geregelt, wie bei den Autorinnen Engelmann, Mahler und Follmar-Otto zu lesen ist. In Berlin erfolgt die Unterbringung von wohnungslosen Menschen im Rahmen des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG). Die Zahlen aus den Wintermonaten der Vorjahre legen nahe, dass die Zahl solcher ASOG-Unterbringungen in der kalten Jahreszeit bei über 35.000 liegen dürfte. Die zuständige Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (SenIAS) geht darüber hinaus von fast 20.000 Menschen aus, die im Rahmen des Sozialrechts und des Asylbewerberleistungsgesetzes in betreuten Wohnformen oder Unterkünften mit Wohnraum versorgt werden.
Allein diese offiziell anerkannten Formen der Obdach- und Wohnungslosigkeit haben in Berlin einen Umfang von über 50.000 Personen. Hinzu kommen – so der Masterplan – „noch jene Wohnungslosen, die keinen eigenen Mietvertrag haben und vorübergehend bei Verwandten, Freundinnen und Freunden oder bei mehr oder weniger Bekannten unterkommen“.
Wohnungsnot in der Grauzone
Das europäische Netzwerk der Wohnungslosenorganisation FEANTSA (European Federation of National Organisations Working with the Homeless) definiert in einer Europäischen Typologie für Wohnungslosigkeit insgesamt 13 Kategorien, von der Straßenobdachlosigkeit bis zu Menschen in ungeeigneten und überbelegten Räumen, um den verschiedenen Erscheinungsformen der Wohnungsnot gerecht zu werden. Neben den klassischen Unterscheidungen der Obdachlosigkeit und der Wohnungslosigkeit zählt FEANTSA auch ungesicherte und unzureichende Wohnverhältnisse zu den Wohnungsnotlagen.
Als obdachlos zählen dabei alle Menschen, die auf der Straße oder in Notunterkünften übernachten müssen. In die Kategorie der Wohnungslosigkeit werden Unterbringungen in Wohnungsloseneinrichtungen, Frauenhäusern, Unterkünften für Geflüchtete und in medizinischen Einrichtungen und Heimen gezählt. Als ungesicherte Wohnverhältnisse definiert die Typologie das temporäre Wohnen bei Freunden und Verwandten, das Wohnen ohne mietrechtliche Absicherung sowie eine drohende Zwangsräumung und Menschen, die in ihrer Wohnung von Gewalt bedroht sind. Zu den unzureichenden Wohnverhältnissen zählen improvisierte Wohnsituationen in Garagen, Kellern und Gartenlauben sowie das Wohnen in ungeeigneten Räumen mit erheblichen baulichen Mängeln und in überbelegten Wohnungen.
Von den vier zentralen Kategorien der Wohnungsnotlagen liegen nur für den Bereich der staatlich und institutionell organisierten Unterbringungen von wohnungslosen Menschen konkrete Zahlen vor. Die Zahl der Obdachlosen ebenso wie die Anzahl von ungesicherten und unzureichenden Wohnverhältnissen entzieht sich bisher einer amtlichen Zählung und ist auf Schätzungen angewiesen.
Obdach- und Wohnungslosigkeit lassen sich für Berlin nicht nach der Europäischen Typologie der Wohnungsnotlagen unterscheiden, da die veröffentlichten Statistiken nicht zwischen Not- und Gemeinschaftsunterkünften differenzieren. Nach Daten der zuständigen Verwaltung und Schätzungen von Hilfsorganisationen gibt es in Berlin bis zu 10.000 Obdachlose und 50.000 Wohnungslose, die in akuten Wohnungsnotlagen leben.
Ungesicherte Wohnverhältnisse sind statistisch schwer zu erfassen, weil sie per Definition außerhalb der formalen Mietvertragsverhältnisse bestehen. Die Geografin Hanna Hilbrandt – inzwischen Professorin an der ETH in Zürich – untersuchte in Berlin die informellen Wohnverhältnisse in den fast 1.000 Kleingartenkolonien und konnte mit ihrer ethnografisch angelegten Studie eine Vielzahl von zeitweiligen und dauerhaften Wohnarrangements zeigen, obwohl das Wohnen in den Gartenlauben offiziell nicht erlaubt ist. In der Grauzone von alten Pachtverträgen, Lücken in den Vereinssatzungen und über Jahre etablierten Gewohnheitsrechten wohnt eine schwer zu schätzende Zahl an Menschen in solch improvisierten Verhältnissen ohne jede melderechtliche Erfassung. Auch zu provisorischen Unterkünften in leerstehenden Fabriken oder Abbruchhäusern gibt es naheliegenderweise keine offiziellen Zahlen. Oft werden die informellen Wohnbedingungen erst im Räumungsfall bekannt, wie im Fall der alten Eisfabrik in der Köpenicker Straße, in der bis zur Räumung 2013 mehr als 30 Menschen aus Bulgarien und Rumänien ohne Wasser, ohne Strom und ohne Heizung lebten, wie unter anderem Berliner Zeitung und Tagesspiegel berichteten.
Auch für das temporäre Unterkommen bei Freund/innen, Verwandten und Bekannten gibt es keine Zahlen. Die Daten des Mikrozensus weisen aber für über 10.000 Haushalte in Berlin atypische Vertragsverhältnisse wie Überlassungen und Nebenabsprachen aus, die weder von den Kategorien Wohnen im selbstgenutzten Wohneigentum noch einem regulären Mietvertrag oder einem Untermietverhältnis entsprechen. Die Zahl der informellen Wohnverhältnisse dürfte jedoch deutlich über dieser Zahl liegen.
Einzig für Zwangsräumungen liegen offizielle Zahlen vor. Deren Anzahl hat sich in den letzten Jahren zwar deutlich reduziert, liegt aber immer noch bei jährlich über 3.000 Räumungen. Woche für Woche werden demnach die Bewohner/innen aus 60 Wohnungen durch einen amtlich bestellten Gerichtsvollzieher geräumt. Da sowohl bei den erfassten Zwangsräumungen als auch bei den atypischen Wohnverhältnissen Haushalte und nicht Personen erfasst werden, dürfte die Anzahl der Menschen in ungesicherten Wohnverhältnissen bei über 15.000 liegen, die nach der internationalen Typologie der Wohnungslosigkeit in akuten Wohnungsnotlagen leben.
Unzureichende Wohnverhältnisse bezeichnen vor allem Wohnsituationen in Wohnungen und Gebäuden, die die Mindestanforderungen an Bauzustand und Ausstattung nicht gewährleisten. Auch hierzu gibt es keine verlässlichen Zahlen. Eine Annäherung bieten die Mikrozensusdaten von 2018, nach denen über 8.500 Haushalte in Berlin Substandardwohnungen ohne Bad, WC oder moderne Heizungsanlage bewohnen. Hinzu kommen über 65.000 Haushalte in überbelegten Wohnungen. Viele Mieter/innen sehen sich gezwungen, die steigenden Mietbelastungen durch eine kleinere Wohnfläche zu kompensieren. Vor allem Familien mit Kindern haben wegen der hohen Neuvermietungsmieten wenig Aussicht eine größere Wohnung zu leistbaren Mieten zu finden und arrangieren sich immer häufiger in den eigentlich zu kleinen Wohnungen. Insgesamt dürfte auch im Bereich der unzureichenden Wohnverhältnisse die Zahl der betroffenen Personen deutlich über den haushaltsbezogenen Daten liegen, sodass bis zu 10.000 Menschen in unzumutbaren Wohnungen und bis zu 150.000 Menschen in zu kleinen Wohnungen leben.
Für den Masterplan fehlen Wohnungen
Das Fazit der Betrachtung von prekären und unsicheren Wohnverhältnissen ist ernüchternd, denn unter Einbeziehung aller Merkmale von Wohnungsnotlagen leben etwa 85.000 Menschen in Berlin in prekären Wohnverhältnissen. Weitere 150.000 Menschen leben zudem in zu kleinen Wohnungen. Berlin ist die Hauptstadt der Wohnungsnotlagen.
Der Masterplan zur Überwindung der Wohnungslosigkeit bis zum Jahr 2030 steht vor der riesigen Herausforderung, mindestens 85.000 Menschen mit angemessenen, leistbaren und sicheren Wohnungen zu versorgen. Mit den vorgeschlagenen Instrumenten zur Verhinderung von Wohnungsverlusten und zur Beendigung der Wohnungslosigkeit wird das kaum gelingen. Der sehr zu begrüßende Ansatz, Housing First zur Regel in der Wohnungslosenhilfe zu entwickeln und auch die festen Quoten für wohnungslose Menschen bei der Wiedervermietung von öffentlichen und sozialen Wohnungen, werden nicht ausreichen, um den hohen Bedarf zu decken.
Der Masterplan selbst geht davon aus, dass bis zu 10% der Wiedervermietungen durch die landeseigenen Wohnungsunternehmen (LWU) explizit an Menschen in Wohnungsnotlagen vergeben werden sollte. Bei den aktuellen Umzugszahlen der LWU entspricht das etwa 1.650 Wohnungen pro Jahr. Dieselbe Quote bei den Neubauten der städtischen Wohnungsunternehmen durchgesetzt würde etwa 400 weitere Wohnungen bringen. Das wären in der Summe nur knapp über 2.000 Wohnungen pro Jahr – bis 2030 also etwa 20.000 Wohnungen für etwa 85.000 Menschen in Wohnungsnotlagen.
Zumindest mit seiner konsequenten Ausrichtung auf die kommunalen Wohnungsunternehmen ist der Masterplan realistisch, denn mit den von der künftigen Regierungskoalition umworbenen privaten Wohnungsunternehmen ist bei der Beendigung der Wohnungslosigkeit nicht zu rechnen. Schon jetzt haben sich fast alle privaten Unternehmen aus dem Geschützten Marktsegment zurückgezogen – und da ging es nur um ein paar hundert Wohnungen. Wie bei allen Fragen der sozialen Wohnversorgung wird auch bei den Strategien gegen die Wohnungslosigkeit schnell klar: Ohne eine deutliche Ausweitung der öffentlichen Bestände und vor allem ohne eine Beschleunigung der kommunalen Neubauleistungen wird es kein Ende der Wohnungslosigkeit in Berlin geben.
Zum Weiterlesen:
Breitenbach, Elke; Fischer, Alexander (2021): Berliner Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030
Engelmann, Claudia; Mahler, Claudia; Follmar-Otto, Petra (2020): Von der Notlösung zum Dauerzustand. Recht und Praxis der kommunalen Unterbringung Wohnungsloser in Deutschland. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/von-der-notloesung-zum-dauerzustand
FEANTSA 2017: European Typology of Homelessness and Housing Exclusion https://www.feantsa.org/download/ethos2484215748748239888.pdf
MieterEcho 421 / Dezember 2021