Die langen Schatten der Deregulierung
Die Zerschlagung der BVG als Eigenbetrieb des Landes 1994 wirkt bis heute nach
Von Rainer Balcerowiak
Vergleichsweise geräuschlos verliefen in diesem Jahr die Tarifverhandlungen bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG). Ende Oktober einigten sich der Kommunale Arbeitgeberverband und die Gewerkschaft ver.di für die knapp 16.000 Beschäftigten auf eine Einmalzahlung von 450 Euro für das laufende Jahr und auf nach Einkommensgruppen gestaffelte Lohnerhöhungen bis zu 2,1% in den beiden kommenden Jahren. Außerdem wurde ein mehrjähriger Stufenplan für die Angleichung der Arbeitszeiten innerhalb des Konzerns vereinbart.
Für ver.di ging es vor allem darum, die letzten Reste des Scherbenhaufens zusammenzukehren, den verschiedene Landesregierungen im Zuge der neoliberalen Spar- und Deregulierungswellen angerichtet haben. Bereits 1994 wurde die BVG von einem Eigenbetrieb des Landes in eine Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) umgewandelt. Bis dahin wurden die Verluste des Unternehmens regelmäßig aus dem Landeshaushalt ausgeglichen. Als AöR musste die BVG aber nach handelsrechtlichen Vorschriften bilanzieren und die Ausgleichszahlungen des Landes wurden deutlich abgesenkt.
Im Zuge eines „Sanierungskonzepts“ für das Unternehmen wurde 1999 mit der Berlin Transport GmbH ein 100%iges Tochterunternehmen gegründet, das nicht dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes unterlag. Die rot-rote Landesregierung legte 2005 noch einen drauf. In einem neuen Tarifvertrag Nahverkehr (TV-N) mussten neu eingestellte Mitarbeiter/innen erhebliche Einbußen gegenüber den Alt-Beschäftigten hinnehmen, vor allem die Entlohnung und die Arbeitszeit betreffend. Die Differenz betrug 2 ½ Wochenarbeitsstunden und etliche tausend Euro pro Jahr – trotz identischer Arbeitsbereiche.
Seinerzeit hatte ver.di dieser Deregulierungsstrategie wenig entgegenzusetzen, zumal die Landesregierung stets mit der Drohkulisse einer Privatisierung der Verkehrsbetriebe operierte. Als Gegenleistung für einen Verzicht darauf forderte sie die Zustimmung zu den tariflichen Verschlechterungen ein. In den kommenden Jahren fielen die Vergütungen der BVG-Beschäftigten immer weiter hinter die allgemeine Lohnentwicklung zurück, da das Land Berlin zeitweilig die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber verlassen hatte und somit nicht mehr der Tarifbindung des öffentlichen Dienstes unterlag.
Ver.di braucht langen Atem
2008 versuchte ver.di diese Entwicklung teilweise umzukehren. Unter anderem für die Forderung nach 12% mehr Lohn traten die Beschäftigten verteilt über mehrere Wochen in mehrtägige Streiks – doch der Senat und allen voran Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) hatte sich darauf festgelegt, den Streik trotz der großen Belastungen für die Berliner Bevölkerung einfach auszusitzen.
In den späteren Tarifauseinandersetzungen kam Bewegung in die Sache. Nicht zuletzt, weil der BVG und ihrer Tochter BT allmählich das Fahrpersonal ausging. So war beispielsweise die Berliner S-Bahn, bei der die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) in mehreren Streikbewegungen ein anständiges Lohnniveau für das Fahrpersonal erkämpft hatte, für viele Kolleg/innen und Berufseinsteiger/innen eine Alternative: Triebwagenfahrer/innen bei der S-Bahn verdienten bis zu 35% mehr als bei U-Bahn, Tram und Bus.
Die BT-Beschäftigten wurden schrittweise in das Tarifsystem des TV-N integriert und 2019 gab es einen recht erfolgreichen Abschluss. Untere Lohngruppen machten einen großen Lohnsprung von bis zu 400 Euro pro Monat. Die Mindesterhöhung betrug 350 Euro, die nach Einkommensgruppen gestaffelten Erhöhungen bewegten sich in einer Spanne zwischen 8 und 21%.
Im Gegenzug hatte ver.di auf die Angleichung der Arbeitszeiten zunächst verzichtet. Das sollte in der nächsten Tarifrunde 2020 geregelt werden, die aber einvernehmlich wegen der Corona-Pandemie auf 2021 verschoben wurde. Dennoch ist diese Kuh auch jetzt noch nicht vollständig vom Eis. Eine Hälfte der Belegschaft hat zur Zeit eine Wochenarbeitszeit von 36,5 Stunden, die andere von 39 Stunden. Letztere soll nun in drei Schritten bis zum Juli 2024 auf 37,5 Stunden sinken.
MieterEcho 421 / Dezember 2021