Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 407 / Januar 2020

Zweiklassengesellschaft in der Markthalle Neun

Exklusive und touristische Veranstaltungen anstelle wohnortnaher Lebensmittelversorgung

Von Elisabeth Voß                                   

Schon seit Monaten gibt es Streit um die Markthalle in der Kreuzberger Eisenbahnstraße. Diese war 2011 von der städtischen Berliner Großmarkt GmbH privatisiert worden. Statt die Immobilie zum Höchstpreis zu verkaufen, vergab der Liegenschaftsfonds sie im Rahmen eines Konzeptverfahrens zum Festpreis von 1,15 Millionen Euro an Florian Niedermeier, Bernd Maier und Nikolaus Driessen. Zu dritt betreiben diese seither die Markthalle Neun . Seitdem hat sich der Bodenrichtwert dort verzehnfacht, von 400 auf 4.000 Euro pro Quadratmeter.        


Als die drei die Markthalle übernahmen, war sie heruntergekommen und weitgehend ungenutzt. Im Konzept der Erwerber, das dem Kaufvertrag zugrunde liegt, war vereinbart worden, dass ein „kleinteiliger, dauerhafter Wochenmarkt“ auf 1.550 Quadratmetern angeboten wird. Das Konzept wurde auch aus der Nachbarschaft unterstützt. Umso größer ist nun die Enttäuschung, denn die Hoffnungen auf einen Wochenmarkt haben sich nicht erfüllt. Der findet nur freitags und samstags statt, an den anderen Tagen sind die meisten Stände leer. Statt einer Markthalle für alle, wie es sich die Nachbarschaft gewünscht hatte, entstand eine touristische Event-Location, „einer der ambitioniertesten Kulinarik-Treffpunkte der Stadt“ wie der Tourismusführer Lonely Planet schreibt. Die von den Betreibern propagierte „Ernährungswende“ bedeutet hochpreisige Veranstaltungen, einen Naschmarkt, und donnerstags den „Street Food Thursday“ mit Delikatessen aus aller Welt.    


                        
Aldi soll bleiben?            
Seit die Betreiber dem in der Markthalle ansässigen Aldi-Supermarkt gekündigt haben, gibt es regelmäßig Proteste von Nachbarschaftsinitiativen. Anstelle von Aldi soll ein dm-Drogeriemarkt des Anthroposophen und Milliardärs Götz Werner einziehen – „eine konzeptionelle Entscheidung“, wie die Betreiber betonen. Anwohner/innen setzen sich für den Verbleib von Aldi ein oder für ein anderes, ebenso preiswertes Geschäft für den täglichen Bedarf. Die Sprecherin der Initiative „Kiezmarkthalle“, Susanne Schneider, hält es für Subventionsbetrug, dass sich die Betreiber nicht an die ursprünglichen Zusagen halten. Ihre Attraktivität für den Tourismus gewinnt die Markthalle nicht zuletzt durch den Charme des Kreuzberger Kiezes, zu Lasten derjenigen, die dort leben. Sie dienen nur noch als Kulisse, vergnügen können sich andere.        


Bei den Protesten geht es nicht vorrangig um Aldi, sondern darum, dass eine wohnortnahe, bezahlbare Einkaufsmöglichkeit erhalten bleiben soll. Denn den „kuratierten Käse“ oder das Fleisch von „glücklichen Tieren“ an den Markthallen-Ständen können sich die meisten nicht leisten. Außerdem richten sich die Proteste gegen exklusive und kommerzielle Events in der Halle, die für den Kiez nur Belastungen mit sich bringen.                                            

LOHAS – besser als andere?        
Die Markthalle Neun ist ein Ort der LOHAS geworden – so werden diejenigen genannt, die sich einen „Lifestyle of Health and Sustainability“ (Lebensstil von Gesundheit und Nachhaltigkeit) leisten können, dies zur Schau stellen und sich damit von anderen abheben, oft auch für etwas Besseres halten. Andere aus der Nachbarschaft haben das Gefühl, in der Markthalle Neun nicht erwünscht zu sein.         
Besonders deutlich wurde dieser soziale Unterschied, als Anfang Dezember eine zweitägige Weinmesse zelebriert wurde. Für einen Tagespreis ab 40 Euro konnten die Besucher/innen „in die faszinierende Welt der Naturweine“ eintauchen. Die Markthallenbetreiber versprachen „Aufrichtigkeit, Authentizität und offene Weingespräche“. Schon am ersten Adventssonntag protestierten Anwohner/innen gegen die „Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb dieser Markthalle Neun“. Wer am darauffolgenden Montag bei Aldi einkaufen wollte, musste durch einen mit metallenen Absperrgittern abgetrennten Gang direkt neben den Besucher/innen der Weinmesse zum Supermarkt gehen, überwacht von Mitarbeitern einer Sicherheitsfirma.            

 

Wer mit den herrschenden Verhältnissen seinen Frieden gemacht hat, mag dies legitim finden. Als privatwirtschaftliches Unternehmen darf die Markthalle Neun formaljuristisch wohl so handeln. Wer sich jedoch den Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit und ein Gespür für soziale Ungleichheit bewahrt hat, kann sich vielleicht in diejenigen einfühlen, die gezwungen sind, ihren Einkauf unter solch unwürdigen Bedingungen vorzunehmen. Was passiert in einer Gesellschaft, wenn sie sich an solche Bilder sozialer Spaltung gewöhnt?                


Auch in den folgenden Tagen gingen die Proteste weiter. Am Abend des 5. Dezember führte ein Demonstrationszug von mehr als 100 Menschen rings um den Markthallen-Block, und bei einer Aktion am 7. Dezember verkündeten „Weihnachtsmann, Weihnachtsengel und Gentrifzierungs-Hai“ vor der Markthalle Neun, dass sie draußen bleiben müssen, weil sie nicht genug Geld haben.            

                    
Rettung vor Überschuldung?        
Im Netzwerk „Die Gemeinschaft“ haben sich die Markthallen-Betreiber mit Herstellern und Edelrestaurants zusammengetan. Mitglied dieser Gemeinschaft ist auch Patrick Wodny. Er ist Projektleiter der „Kantine Zukunft Berlin“, mit deren Aufbau der Berliner Senat den Ernährungsexperten Philipp Stierand aus Dortmund beauftragte.           

 
Stierand wiederum hatte bereits eine Studie zur Umsetzung des bisher als „House of Food“ diskutierten Projekts für den Berliner Senat verfasst. In dem Projekt sollen die Beschäftigten von Gemeinschaftsverpflegungseinrichtungen lernen, wie der Anteil biologischer und regionaler Lebensmittel erhöht werden kann, ohne dass es teurer wird. Dass diese Aufgabe einem Privaten überlassen wird, statt sie in öffentlicher Hand durchzuführen, wurde kritisiert, unter anderem vom Berliner Ernährungsrat.        Vorerst soll das Projekt als Pioniernutzer im Haus der Statistik unterkommen, anschließend möchte die Markthalle Neun es beherbergen. Das Architekturbüro Stark und Stilb hat bereits einen Vorschlag erarbeitet, wonach die Räume des Aldi in der Markthalle abgerissen werden sollen, um dort ein neues zweigeschossiges Gebäude zu errichten, in dessen Obergeschoss das dort noch als „House of Food“ bezeichnete Projekt einziehen könnte. Schon auf einer Kundgebung im September wurde die Vermutung geäußert, die Markthalle solle mit dem House of Food aus der drohenden Insolvenz gerettet werden. Die Bilanz der Eigentümerin der Immobilie, der „Markthalle Neun Verwaltungs UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG“, weist für Ende 2018 eine Überschuldung um mehr als eine halbe Million Euro aus.                            


Zweckentfremdung von Wohnraum    
Über die grundsätzliche Kritik an den Angeboten in der Markthalle hinaus leiden Anwohner/innen auch unter Müll und Verkehr durch den Markthallenbetrieb. Die Markthalle Neun ist Teil der Gentrifizierung und Touristifizierung des Kiezes. Auch innerhalb der Markthallen-Immobilie werden Wohnungen zweckentfremdet und als Gewerbe genutzt. Der Anordnung des Bezirksamts zur sofortigen „Wiederzuführung der Wohnungen zu Wohnzwecken“ kamen die Markthallen-Betreiber nicht nach, nun muss das Verwaltungsgericht entscheiden. „Das Bezirksamt geht davon aus, dass die Wohnungen wieder dem Wohnungsmarkt zugeführt werden“, antwortete Bezirksstadtrat Knut Mildner-Spindler (Die Linke) auf eine mündliche Anfrage der Bezirksverordneten Sevim Aydin (SPD) in der BVV am 27. November 2019.  
           

     
Nachbarschaftsinitiative: kiezmarkthalle.noblogs.org

Berlins historische Markthallen
Die Markthalle IX ist eine von ursprünglich 14 zwischen 1883 und 1892 in Berlin errichteten Markthallen, die unter der Verantwortung des Baustadtrats Hermann Blankenstein entstanden. Damit sollten die Märkte unter freiem Himmel aufgelöst und die Nahrungsmittelversorgung hygienischer werden. Allerdings wurden die Händler/innen auch gezwungen, die neuen Strukturen zu nutzen und dafür höhere Standgebühren zu entrichten. Nur noch die Markthallen VI, IX, X, XI sind heute als Markthallen in Betrieb, wobei die Halle VI in der Ackerstraße auf der gesamten Fläche von einem Supermarkt genutzt wird. Die beiden anderen verbleibenden historischen Markthallen am Marheinekeplatz in Kreuzberg und an der Arminiusstraße in Moabit verfügen zwar weiterhin über eine kleinteilige Struktur, verzeichnen aber mit zunehmend hochpreisigen Angeboten ähnliche Gentrifizierungstendenzen wie die Markthalle IX oder haben diese bereits durchlaufen.


MieterEcho 407 / Januar 2020

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