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MieterEcho 412 / Oktober 2020

Wohnungsbau vor 100 Jahren

Berlins Umgang mit der Wohnungskrise in den 1920er Jahren

Von Andreas Ludwig

Die aktuelle Wohnungskrise, bedingt durch Bevölkerungszuwachs, Wohnraummangel und private Profitinteressen, ist ein politisches und soziales Problem ersten Ranges. Und sie ist keineswegs nur aktuell, davon zeugt ein Blick in die Zeit vor 100 Jahren.

Das heutige Berlin entstand aus dem Zusammenschluss der Hauptstadt mit sieben weiteren Großstädten, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken. Mit der Bildung von Groß-Berlin zum 1. Oktober 1920 wurde auch das Versprechen einer sozialen Stadt verbunden, die allen zugutekommen sollte. Die „neue Stadtgemeinde Berlin“, so eine damalig übliche Bezeichnung, begriff sich notwendigerweise als Experimentierfeld – man war mit einem Schlag zur bevölkerungsmäßig drittgrößten Stadt der Welt geworden – und wollte zeigen, was kommunale Selbstverwaltung unter den Bedingungen der Demokratie leisten kann. Das Wohnen war einer der Kerne dieser Politik.

Mietskasernenstadt Berlin

Schlechte Wohnverhältnisse und Wohnungsmangel waren ein historisches Erbe. Bereits zur Zeit der Reichsgründung gab es vor den Toren Berlins Barackenstädte und unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg einen dezidierten Mangel an kleineren Wohnungen. Der Wohnungsbau war überwiegend privat organisiert und orientierte sich, bis auf die seit Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden gemeinnützigen Wohnungsbaugenossenschaften, nicht an sozialen Zielen. Das Ergebnis war die „größte Mietskasernenstadt der Welt“ (Werner Hegemann). Der Erste Weltkrieg verschärfte die seit langem gewachsenen Probleme zusätzlich, denn seit 1914 wurde kaum noch gebaut und zahlreiche Soldatenfamilien gerieten in existenzielle Not. Noch fünf Jahre nach Kriegsende, 1923, im Jahr der Hochinflation, konstatierte Berlins Oberbürgermeister Gustav Böß (1921-1929) unter der Bevölkerung „Hunger und Elend, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot“ sowie einen „Rückfall auf den Kartoffelstandard“.

Die damalige Wohnungsmisere wird durch die statistische Wohnungsaufnahme von 1925 deutlich: 70.000 Berliner/innen wohnten in Kellerwohnungen, über 44.000 in Dachwohnungen, 20.000 in Lauben, und 45.000 hatten gar keine Wohnung, sie mieteten als sogenannte Schlafburschen für einige Stunden Bettstellen.

Vor diesem Hintergrund ergriffen das Reich und die Stadt Berlin Maßnahmen, die sowohl einen Eingriff in den Wohnungsmarkt bedeuteten als auch eine Neuausrichtung staatlicher und städtischer Wohnungsbaupolitik.

Noch während des Ersten Weltkrieges wurde eine Reihe von Verordnungen zum Schutz der Familien vor Wohnungslosigkeit und zur Wohnraumbewirtschaftung erlassen. Diese zunächst als „Kriegswohlfahrtspflege“ verstandene Maßnahme wurde später verstetigt und auf Grundlage des § 155 der Weimarer Verfassung, die jeder/m Deutschen das Recht auf Wohnung garantierte und den Staat zur Enteignung von Grund und Boden für Wohnungszwecke ermächtigte, in Gesetze gefasst: das Wohnungsmangelgesetz von 1920 ermächtigte die Gemeinden zur Verteilung freiwerdender Altbauwohnungen, das Mieterschutzgesetz erbrachte einen erweiterten Kündigungsschutz, das Reichsmietengesetz von 1923 regelte die Höhe der gesetzlichen Miete.

Auf kommunaler Ebene wirkten sich diese staatlichen Regulierungen zunächst so aus, dass sich etwa 100 Gemeinden im Großraum Berlin zum Wohnungsverband Groß-Berlin zusammenschlossen, um freien Wohnraum an Bedürftige zu vergeben. Dies war dringend notwendig, denn es gab über 200.000 Wohnungssuchende, eine Zahl, die sich auch nicht verringerte, denn nach 1918 wuchs die Bevölkerung Berlins um jährlich etwa 80.000 Personen – das ist das Doppelte des Höhepunkts des Bevölkerungswachstums in den vergangenen Jahren. Dem hatte die Stadt Berlin zunächst nichts entgegenzusetzen. Zwar wurde das dauerhafte Wohnen in Lauben erlaubt, aber der Wohnungsbau war bis zum Ende der Inflation 1923 praktisch nicht existent.

Erst 1924 änderten sich die Dinge grundlegend. Mit dem Ende der Inflation und auf der Finanzierungsgrundlage des sogenannten Hauszinssteuergesetzes begann eine Phase des massiven Wohnungsneubaus auf gemeinnütziger Grundlage, die sieben Jahre anhielt. Während der sogenannten „Hauszinssteuerperiode“ 1924 bis 1931 entstanden in Berlin 166.000 Wohnungen im sozialen Wohnungsbau. Es wurden die berühmten Großsiedlungen, von denen einige heute Teil des Unesco-Weltkulturerbes sind, errichtet und daneben zahllose kleinere Wohnungsbauprojekte. Die meisten von ihnen entstanden außerhalb der Innenstadt an den Rändern des Mietskasernengürtels und zwischen den einzelnen bestehenden Siedlungskernen. Hier hatten die Gemeinden schon vor 1914 große Flächen aufgekauft, eine Politik, die Berlin nach 1924 intensiv weiter vorantrieb. Diese Bodenbewirtschaftungspolitik markierte die Standorte der späteren Großsiedlungen, sie erlaubte aber auch die Vergabe von günstigem kommunalem Baugrund. Heute stellt dessen Fehlen eines der Hindernisse für einen am Gemeinwohl orientierten Wohnungsbau dar.

Schwerpunkte des Wohnungsbaus in den 1920er Jahren waren die Außenbezirke. An der Spitze standen Zehlendorf, Tempelhof und Reinickendorf, wo 1931 jeweils mehr als 40% aller Wohnungen Neubauten der Jahre ab 1924 waren. Die meisten Wohnungen entstanden in dieser Zeit in Reinickendorf (17.000), Steglitz (15.000) und Neukölln (14.000), dicht gefolgt von Wilmersdorf und Tempelhof.

Die Träger des Baubooms

Neben dem verfügbaren kommunalen Baugrund war die Hauszinssteuer die finanzielle Grundlage, um vergünstigte Hypotheken, Kredite und teilweise auch Mietzuschüsse zu vergeben. Sie wurde auf bebauten Grundbesitz erhoben, um einen Ausgleich zwischen den durch die Inflation verarmten Inhaber/innen von Wertpapieren und den nicht betroffenen Haubesitzer/innen zu schaffen (die Kosten mussten allerdings die Mieter/innen zahlen). Die Mittel aus dieser Steuer wurden zur Hälfte für die Förderung des Wohnungsbaus verwendet. In Berlin wurde mit der Wohnungsfürsorgegesellschaft (später Wohnungsbau-Kreditanstalt, heute Investitionsbank Berlin) eine eigene Verwaltungsstelle für deren Verteilung und Bewirtschaftung geschaffen. Unter Leitung des Berliner Baustadtrats Emil Wutzky wurden die Mittel in einem Verhältnis von 3:2 an gemeinnützige und private Bauträger vergeben. Unter den gemeinnützigen Akteuren des sozialen Wohnungsbaus dominierten die Stadt Berlin, die Gewerkschaften sowie die Wohnungsbaugenossenschaften, aber auch öffentliche Betriebe wie die BVG.

In Berlin gab es in den 1920er Jahren sieben städtische Wohnungsbaugesellschaften, meist regional aktiv und oft bereits von den Vorgängergemeinden gegründet, die in den 1920er Jahren etwa ein Viertel der Neubauwohnungen realisierten. Unter ihrer Regie wurden beispielsweise die Weiße Stadt in Reinickendorf und die Ringsiedlung in Siemensstadt erbaut.

Ein mindestens ebenso wichtiger Bauträger waren die verschiedenen Gewerkschaftsorganisationen. An erster Stelle standen der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB), der unter Leitung des Architekten und Stadtplaners Martin Wagner (von 1926 bis 1931 Berliner Stadtrat für Stadtplanung) bereits nach Ende des Ersten Weltkriegs die Bauhütten als gewerkschaftliche Selbstorganisation der Bauarbeiter gegründet hatte. Die 1924 gegründete gewerkschaftliche Gehag baute unter anderem die Zehlendorfer Onkel-Tom-Siedlung, den AfA-Hof in Treptow, die Wohnstadt Carl Legien am Prenzlauer Berg und Teile der Hufeisensiedlung in Britz. Ihr Architekt Bruno Taut war für die ausgefeilte Farbgebung der heute teils zum Weltkulturerbe gehörenden Siedlungen verantwortlich.

Ebenso bauten die Angestelltenverbände große Wohnsiedlungen in Berlin. Die Gagfah, maßgeblich vom Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband getragen, errichtete die Siemens-Siedlung am Rohrdamm, die Siedlung am Fischtalgrund in Zehlendorf, und die Wohnsiedlung der Reichsforschungsgesellschaft in Haselhorst. Ebenfalls von Angestellten-, aber auch von Beamtenverbänden getragen war die 1924 gegründete Degewo, die unter anderem Teile der Hufeisensiedlung erbaute.

Die Periode des sozialen Wohnungsbaus endete 1931, als die Kreditrichtlinien der Reichsbank und mehrere Notverordnungen der Regierung dessen Finanzierungsgrundlage in der Weltwirtschaftskrise rigide beendeten. Es wurden nun nur noch Kleinstwohnungen und Siedlerstellen am Stadtrand als sinnvoll angesehen. Dennoch ist das Maßnahmenbündel der Weimarer Jahre, obwohl es die Wohnungsnot nur mildern, aber nicht beseitigen konnte, als „Verräumlichung und Vergegenständlichung der sozialen Politik ihrer Zeit“ (Wolfgang Hofmann) richtungsweisend für eine soziale Wohnungspolitik – und in Zielen und Mitteln auch aufschlussreich für heute.

 

Andreas Ludwig ist Historiker und Assoziierter Wissenschaftler am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Seine Veröffentlichung (zusammen mit Gernot Schaulinski) „Metropole Berlin. Traum und Realität 1920-2020“ behandelt unter anderem die Wohnungspolitik der 1920er Jahre und ist kostenfrei bei der Berliner Landeszentrale für politische Bildung erhältlich.


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