Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 415 / März 2021

Wohnen braucht Politik

Gegen Wohnungsnot helfen keine Mietpreisbremsen, sondern nur massive Investitionen in den öffentlichen Wohnungsbau

Von Heiner Flassbeck

Bezahlbares Wohnen sollte in einer reichen Gesellschaft für alle Bürger/innen selbstverständlich sein. Doch genau das liefert der Markt nicht. Die Politik aber blockiert sich selbst durch Unkenntnis der ökonomischen Zusammenhänge.

Es mag den jüngeren Generationen nicht bewusst sein, aber das, was jetzt Wohnungsnot genannt wird, ist eine immer  wiederkehrende, fast zyklische Begleiterscheinung der wirtschaftlichen Entwicklung. Und die Ursachen sind fast immer die gleichen: Über viele Jahre wird das Wohnen von der Politik vernachlässigt, wird dem Markt überlassen und plötzlich, wie aus heiterem Himmel ist sie da, die Wohnungskrise, und die Politik fängt an, sich hektisch und planlos mit dem Thema zu befassen.

Besonders deutlich wird das in Berlin. Über zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung herrschte in Berlin und Umgebung ein Wohnungsüberschuss mit extrem geringen Mieten im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten. Offenbar war man in Berlin davon überzeugt, das werde noch einige Jahrzehnte so bleiben. Aber um das Jahr 2008 setzte ein massiver Zuzug in die Stadt ein, der bis jetzt die Bevölkerungszahl um etwa 300.000 erhöht hat. Spätestens 2014/2015 hätte man in der Stadtverwaltung erkennen müssen, dass in wenigen Jahren eine massive Wohnungsknappheit zu erwarten ist. 

Hätte man ab 2016/2017 öffentlichen Wohnungsbau in großem Stil betrieben, gäbe es heute das Problem, das alle umtreibt, nicht. Es war doch kein Geld da, werden vermutlich selbst die einwenden, die heute für sehr viel Geld private Wohnungsanbieter wie die Deutsche Wohnen enteignen wollen. Doch, es war fast beliebig viel Geld da, nur lähmten damals wie heute Vorurteile über staatliche Schulden die deutsche Politik auf all den Ebenen, wo der Staat dringend gebraucht wird.

Wohnen muss geplant werden

Warum kann der Markt nicht liefern, was der Bürger verlangt? Doch, der Markt liefert vielleicht irgendwann schon, aber nach dem Prinzip der Schweinezyklen, immer zu spät und immer mit viel zu großen Preisschwankungen. Erschwerend kommt hinzu, dass die privaten Investor/innen immer im oberen Preissegment beginnen zu bauen, auch wenn großer Bedarf nach einfachen Wohnungen herrscht, weil sie dort die höchsten Renditen und am wenigsten Schwierigkeiten mit dem Eintreiben der Miete erwarten. 

So ist das Mietproblem in erster Linie ein Zeitproblem. Weil die Verzögerungen des Marktprozesses sehr lang sein können, braucht man einen planenden und gewisse Risiken nicht scheuenden Staat, um die enormen zeitlichen Lücken und die damit verbundenen Härten in der Versorgung erst gar nicht entstehen zu lassen. Wie am Beispiel Berlin gezeigt: Hätte die Stadtverwaltung ab 2014 das Problem erkannt, sofort gehandelt und bis heute – ohne Rücksicht auf das, was der Markt zur gleichen Zeit tut – 100.000 oder gar 200.000 Wohnungen der mittleren und unteren Preisklasse gebaut, würde heute die Berliner Wohnungsnot nicht existieren. 

Alles andere, was die Politik sich unter dem Druck der Öffentlichkeit an Möglichkeiten ausdenkt, die Krise zu entschärfen, ist Kleinkram. Das gilt insbesondere für die beliebten Mietpreisbremsen. Letztlich kann man damit ein wenig Sand ins Getriebe werfen, aber wirklich aufhalten kann man in einem extrem engen Markt Mietsteigerungen nicht. 

Die öffentliche Hand tut sich natürlich leichter, wenigstens die Bestandsmieten zu kontrollieren und weniger stark steigen zu lassen, wenn sie selbst über öffentliche Träger Eigentümer eines großen Wohnungsbestandes ist. Doch die öffentliche Hand hat im Privatisierungswahn Wohnungen zu Schleuderpreisen veräußert, besonders in Berlin. 

Der Besitz des Altbestandes ist allerdings kein besonders effizientes Mittel, wenn es darum geht, eine akute Knappheit zu beseitigen. Viel besser sind die Mittel des Staates genutzt, wenn ein großes Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zu entstehen droht oder bereits eingetreten ist. Der Staat muss dann unmittelbar eingreifen und günstige Wohnungen selbst bauen bzw. von einer von ihm kontrollierten und finanzierten Zweckgesellschaft so rasch wie möglich bauen lassen. 

Ein eigenes Eingreifen der Stadt oder der Gemeinde mit neuen Wohnungen kann bei ausreichend großer Intervention den gesamten Markt unter Druck setzen und damit die Grundbedingungen für alle Mieter verbessern. Nur wenn die Schlangen der Wohnungssuchenden deutlich kürzer werden, ist es für  Vermieter/innen nicht mehr so leicht, bei jeder Neuvermietung eine höhere Miete durchzusetzen. Bleiben die Schlangen so lang wie zurzeit, wird es immer Mittel geben, Mieter/innen mehr Geld aus der Tasche zu ziehen. 

Doch Wohnungspolitik ist nur ein Teilaspekt einer größeren Aufgabe des Staates, die im neoliberalen Wahn der letzten drei Jahrzehnte vollkommen aus dem Blick geraten ist. Ein Staat, der einheitliche Lebensverhältnisse herstellen soll, muss auch für einen Ausgleich zwischen Stadt und Land sorgen. 

Das, was man heute Landflucht nennen könnte, ist Ergebnis der Vernachlässigung ländlicher Räume über viele Jahrzehnte. Wo es keine touristisch interessanten Ziele gibt, sind die Kommunen von vornherein in der Defensive. Aber man hat sogar Gemeinden mit eklatanten Strukturschwächen sich selbst überlassen, und man hat ihnen zudem noch auferlegt, sich an dem allgemeinen Sparwahn im öffentlichen Bereich zu beteiligen. Gemeinden am Rande des finanziellen Zusammenbruchs werden keine attraktiven Angebote für junge Leute machen oder interessante Gewerbe anziehen. Würde man von Seiten des Bundes solchen Gemeinden massiv unter die Arme greifen, könnte man auf Dauer mehr erreichen als mit der besten Wohnungspolitik in den Zentren.

Auch die Verkehrspolitik gehört zu den Bereichen, die beim Thema Landflucht nicht ausgespart werden dürfen. Eine schnelle, zuverlässige und günstige Anbindung der ländlichen Räume an die großen Zentren hielte viele davon ab, ihr Heil  bei der Wohnungssuche in Großstädten zu suchen. 

Am Gelde hängt es

Letztlich scheitert jede vernünftige Idee in Deutschland am Geld. Das Land hatte sich vor dem Corona-Schock in eine Geiz-ist-geil-Mentalität hineingefressen, die vor allem den öffentlichen Raum zu einem Refugium von Bedenkenträgern und Pfennigfuchsern macht. Auch nach Corona wird es exakt so sein. Weil die staatlichen Schulden in der Krise stark gestiegen sind, so wird man argumentieren, kann sich der Staat für viele Jahre nicht mehr in anderen Bereichen finanziell engagieren.
Hinzu kommt, dass die mit Abstand wichtigste Lobbygruppe, die deutschen Unternehmensverbände, diese Mentalität unterstützen, weil sie glauben, sie dürften in dem immerwährenden Kampf Staat gegen Markt nichts unversucht lassen, um den Staat auf eine Nachtwächterrolle zu schrumpfen. Dass sie dabei gegen ihre Interessen verstoßen und dem Land insgesamt jede Perspektive nehmen, betrachten sie wohl als unvermeidbaren Kollateralschaden des großen ideologischen Krieges.

Das aber ist extrem gefährlich. Wir leben in einer Welt, wo nicht nur die privaten Haushalte, sondern auch die Unternehmen per Saldo sparen. In einer solchen Welt versündigt sich der Staat unmittelbar an den zukünftigen Generationen, wenn er keine Schulden macht und nicht massiv investiert. In Deutschland liegt die Nachfragelücke, die durch das Sparen der privaten Haushalte und der Unternehmen Jahr für Jahr entsteht, in der Größenordnung von 200 Milliarden Euro. Wie die Corona-Krise gezeigt hat, kann der Staat – ohne irgendeinen Grundsatz vernünftigen Umgangs mit öffentlichem Geld aufzugeben – diese Lücke schließen, weil man diese Aufgabe nicht auf Dauer auf das Ausland übertragen kann, wie Deutschland das seit Jahren tut. 

Würde mit dieser Perspektive heute mit dem Aufbau der Verwaltungskapazitäten zur Umsetzung dieser Summen in öffentliche Investitionen begonnen, könnte schon in zehn Jahren die deutsche Verkehrs- und Wohninfrastruktur ein völlig neues Gesicht haben. Doch so weit voraus will keiner denken, und Corona hat die politischen Horizonte noch einmal drastisch verkürzt. Man wird sich folglich auch in den kommenden Jahrzehnten in allen übrigen Bereichen, das Klima eingeschlossen, auf die große Flickschusterei beschränken. Weil dieser Staat vollkommen ahnungslos ist, was seine eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten betrifft, schadet er den zukünftigen Generationen in massiver Weise. Die können sich das allerdings nicht vorstellen, weil sie durch politische und mediale Desinformation auf einem ökonomischen Klippschulniveau gehalten werden.  

 

Heiner Flassbeck ist Wirtschaftswissenschaftler und Publizist. 1999 war er unter Oskar Lafontaine Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und von 2003 bis 2012 Chef-Volkswirt bei der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung in Genf.


MieterEcho 415 / März 2021

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