Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 410 / Juni 2020

Warnung vor Fehlschlüssen

Gesundheitsvorsorge und Krankenversorgung im Coronafokus

Von Cornelia Heintze

Der gemessen an den Todeszahlen in Deutschland bislang günstige Verlauf der COVID-19-Pandemie wird gerne als Beleg dafür genommen, wie gut unser Gesundheitssystem doch aufgestellt sei. Dieses Selbstlob ist ignorant. Virologen haben immer wieder davor gewarnt, dass der Ausbruch einer Pandemie keine Frage des Ob, sondern nur des Wann sei. Trotzdem hat man es auch in Deutschland versäumt, durch die Bevorratung von Schutzmaterialien Pandemievorsorge zu betreiben. Von der Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), zu dessen Kerngeschäft die rechtzeitige Erkennung wie Eindämmung lokaler Virusausbrüche gehört, ganz zu schweigen.    

                        
Das Unglück von Norditalien, wo in der ersten Märzhälfte die Zahl der schweren Fälle von COVID-19-Kranken so in die Höhe ging, dass die Kapazitätsgrenzen des Krankenhaussystems überschritten wurden, war unser Glück. Die Bilder aus Bergamo wirkten als Schock. Bei den politisch Verantwortlichen entstand vereinter Handlungswille und bei der Bevölkerung breite Akzeptanz für den temporären Lockdown. In dieser ersten Phase hat die deutsche Politik mit professionellem Krisenmanagement zügig und angemessen reagiert.
Dies ist nur ein Zwischenbefund. Niemand kann das Entstehen einer zweiten Welle ausschließen. Belastbare Daten also wird es erst in einigen Jahren geben. Neben den COVID-19-Toten zählen dann auch diejenigen, die mit schwersten Schäden kurzfristig überlebt haben; und wir werden dann auch die sonstigen Effekte, die negativen wie die positiven, zu bewerten haben.  

                     
Bettenkapazität kein Indiz für Qualität           
Relativ zur Einwohnerzahl gab es 2017 in deutschen Krankenhäusern auf 100.000 Einwohner/innen weit mehr Betten für medizinische Behandlungen als in anderen europäischen Ländern: 600 Betten in Deutschland (Berlin: 567), weniger als 400 Betten in den allermeisten anderen Ländern (Quelle: Eurostat).
Die gängige Deutung geht dahin, dass sich in der hohen Bettendichte, zumal der der Intensivbetten, die gute Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems zeige. Hier ist Vorsicht angebracht. Dies ganz grundsätzlich und nicht nur aufgrund des Befundes, dass laut Intensivbettenregister über den Zeitraum von Mitte April bis Mitte Mai 2020 fünfmal so viele Intensivbetten leer standen wie belegt waren. Tatsächlich ist die hohe deutsche Bettendichte weniger ein Ausweis hoher Leistungsfähigkeit als ein Indiz für eine geringe Effektivität der medizinischen und pflegerischen Versorgung. Der Vergleich mit den skandinavischen Ländern macht dies deutlich. In Deutschland werden Menschen mit Mehrfacherkrankungen selten integriert versorgt. Nicht abgestimmte Arzneimittelverordnungen führen immer wieder zu so schweren Komplikationen, dass sie Krankenhausaufenthalte nach sich ziehen. Dänemark liefert eine Kontrastfolie. Integrierte Versorgung und hohe Versorgungsqualität sichern hier geringe Hospitalisierungsgrade. Vier Erfolgsfaktoren lassen sich identifizieren:
Fast 98% der Bevölkerung sind an das Hausarztsystem angeschlossen, dem eine Lotsenfunktion zukommt.
Es gibt flächendeckend von Pflegeprofis geführte Chronikerzentren, wo chronisch kranke Menschen in ihrem Alltag begleitet werden.
Alte Menschen, die noch nicht pflegebedürftig sind, erhalten regelmäßig Angebote für präventive Hausbesuche. Daraus erwachsen Maßnahmen, die zum Beispiel das Sturzrisiko mindern und damit das Risiko langer Krankenhaus- und Reha-Aufenthalte.
Die während der letzten 40 Jahre angefallenen Krankheitsdaten fast der gesamten Bevölkerung sind digital erfasst und im Bedarfsfall umgehend verfügbar. Dies erfolgt im Rahmen eines staatlichen Systems und nicht delegiert an Privatkonzerne.


In Dänemark stehen die öffentlichen Häuser für 94% der Betten, während in Deutschland nach der Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips, dem bald die Fallpauschalen folgten, eine Privatisierungswelle einsetzte (MieterEcho 403/ Juni 2019). Nur noch 41% der Krankenhausbetten befanden sich 2017 in öffentlichem Eigentum (Berlin: 38%). Anders als in Dänemark sind die Krankenhäuser auf die Erwirtschaftung von Gewinnen ausgerichtet.
Gerade dieser Gewinnimperativ erklärt, warum – gegenläufig zur Bettendichte insgesamt – die der Intensivbetten seit der Einführung der Fallpauschalen erhöht wurde. Mit intensivmedizinischen Behandlungen, im Besonderen mit künstlichen Beatmungen, lässt sich enorm viel Geld verdienen. Im Sinne der Patient/innen wäre es, künstliche Beatmungen keine Stunde länger vorzunehmen, als es medizinisch geboten ist. Dagegen stehen Erlöse von teilweise über 100.000 Euro, die sich erzielen lassen, wenn sich die Beatmung über Tage und Wochen hinzieht. Da es nach 24 Stunden Beatmungszeit einen Erlössprung gibt und nach 59 Stunden den nächsten, geht der ökonomische Anreiz dahin, die jeweils nächste Stufe abzuwarten, womit für die Patient/innen das Risiko schwerer Folgeschäden ansteigt und Intensivbetten blockiert werden. Die hohe Zahl an Intensivbetten erweist sich bei genauer Betrachtung so als Indiz einer perversen Fehlentwicklung eher zum Schaden von Patient/innen. Außerdem ist für die Qualität der Versorgung entscheidend, wie viele Patient/innen Ärzt/innen und Pflegekräfte zu betreuen haben. Bei der Dichte der Krankenhausbetten erreicht Dänemark nur 42% des deutschen Niveaus, beschäftigt in seinen Krankenhäusern auf 100.000 Einwohner/innen aber weit mehr Personal (Vollkräfte) insgesamt (DE: 1.213; DK: 1.848) wie auch mehr ärztliches und pflegerisches Personal (DE: 671; DK: 1.090). Die pflegerische Versorgung folgt dem Bedarf der Patient/innen, während in Deutschland viele Krankenhäuser nur Mindeststandards erfüllen.               

                             
Sparopfer Öffentlicher Gesundheitsdienst       
Die Bezeichnung „Öffentlicher Gesundheitsdienst“ (ÖGD) steht in Ländern mit einem steuerfinanzierten staatlichen Gesundheitssystem für das System insgesamt, in Ländern mit Pflichtversicherungen und Selbstverwaltung wie Deutschland für die dritte Säule nach ambulanter und stationärer Versorgung. Auf Bundesebene gehört das Robert-Koch-Institut zum ÖGD; auf Länderebene sind nach dem Infektionsschutzgesetz die Gesundheitsämter die staatlichen Stellen, auf denen vor Ort die Verantwortung für die Erfassung und Eindämmung von Infektionsherden lastet. Von Ausnahmen abgesehen waren die Gesundheitsämter zu Beginn der Krise weder personell noch technisch gut aufgestellt. Ein Kollaps konnte nur durch die Anwerbung freiwillig Tätiger (vor allem Medizinstudierender) und die Abordnung von Kräften aus anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes verhindert werden. Die personelle Auszehrung hängt mit dem Paradigmenwechsel hin zu einer Gesundheitswirtschaft zusammen. Aus der Perspektive „Gesundheitswirtschaft“ interessiert die individuelle Gesundheitsnachfrage. Gesundheitsämter sind hingegen der kollektiven Gesundheit und dem Ausgleich sozialer Benachteiligungen verpflichtet. Circa ein Drittel des Personals der Gesundheitsämter wurde während der letzten 20 Jahre abgebaut. Ihren Aufgaben im Bereich der Hygiene, der Prävention und anderer Aufgabenfelder können sie nur noch eingeschränkt nachkommen. Ein Trauerspiel der besonderen Art bietet der ÖGD in Berlin. 1995 verfügte er mit annähernd 3.000 Beschäftigten über die bundesweit beste Personalausstattung. Bis Ende 2016 wurde das Personal um 44% abgebaut auf nach Köpfen noch 1.650 Beschäftigte respektive 1.445 rechnerische Vollzeitkräfte. Obwohl das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo), wo der öffentliche Gesundheitsdienst angesiedelt ist, im Zuge der „Flüchtlingskrise“ regelrecht kollabierte und bundesweit zum Symbol von Staatsversagen wurde, erwuchs daraus keine systematische Stärkung des ÖGD. Das maßgebende Gesetz (Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst i. d. F. vom 17.06.2016) enthält eine lange Liste von Aufgaben, deren Wahrnehmung aber erfolgt „nach Maßgabe der mit dem Haushaltsplan zur Verfügung gestellten Mittel“. Während die LAGeSo-Geschäftsberichte Angaben zur Mitarbeiterentwicklung aussparen, liefert das Gesundheits- und Sozialinformationssystem der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung differenzierte Daten. Sie weisen für 2016 und 2017 eine marginale Personalverstärkung aus. Anders als die Bundeskanzlerin hält es der Regierende Bürgermeister noch nicht einmal für nötig, den derzeit viele Überstunden schiebenden ÖGD-Beschäftigten seine Hochachtung auszusprechen. Davon, dass in Berlin die politischen Weichen endlich in Richtung einer nachhaltigen Stärkung des ÖGD umgestellt werden, ist wenig zu sehen.                    

Dr. rer. pol. Cornelia Heintze ist Stadtkämmerin a. D. Sie publiziert fachübergreifend im Bereich international vergleichender Staats- und Wohlfahrtsforschung.


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