Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 418 / Juni 2021

Selbstorganisation von Freiräumen

Eine kurze Geschichte der selbstverwalteten Jugendzentren Drugstore und Potse in Berlin

Vom Autor*innenkollektiv Drugstore & Potse   

Für den 19. Mai 2021 war die Räumung des selbstverwalteten Jugendzentrums Potse in der Potsdamer Straße 180 angesetzt worden. Dagegen gab es breiten Widerstand mit zahlreichen Aktionen. Vorerst ist die Räumung verschoben. Mit ihr hätte eine über vierzigjährige Geschichte der Selbstorganisation geendet.   

In derselben Etage des Gebäudes befand sich auch das ebenfalls selbstverwaltete Jugendzentrum Drugstore. Nach diversen Vermieterwechseln und Mieterhöhungen kündigte das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg 2015 die Räume und das Kollektiv ging Ende 2018 ins Exil. Obwohl dem Drugstore neue Räume zur Nutzung versprochen wurden, wurde der Umbau für „leise“ Nutzungen in der Potsdamer Straße 134-136 bis heute nicht beendet und kein vergleichbarer Standort für „laute“ Nutzungen gefunden. Im Rahmen der Kampagnen gegen die Räumungen hörten viele Unterstützer/innen zum ersten Mal von der langen Geschichte der Projekte.

Die Gründung des Drugstore wurzelt in der Jugendzentrumsbewegung, die sich Anfang der 1970er Jahre herausbildete. Der Vorläufer hand drugstore bestand seit Anfang 1971 in der Schöneberger Motzstraße 24. Das ehemalige Ladengeschäft wurde als Kneipe geführt. Es sollte ein Kommunikationszentrum für undogmatische Linke sein und die Selbstorganisation sozialistischer Gruppen unterstützen. Im Unterschied zu anderen Treffpunkten der linken Szene war der Laden offen für sogenannte Randgruppen, was Treber/innen, proletarische Jugendliche, entwichene „Fürsorgezöglinge“ und Menschen mit Suchterfahrungen einschloss. Die Nutzung durch minderjährige Treber/innen rief schnell die einschlägigen Institutionen auf den Plan.

Eingebettet in eine kollektive Struktur entwickelte sich ein Konzept, das insbesondere auf Treber/innen zugeschnitten war und die Unterstützung durch Sozialarbeiter/innen einschloss. Die Erfahrungen der Jugendwohnkollektive (angestoßen durch die Heimkampagne Ende der 1960er Jahre) aufgreifend, sollten durch die Anmietung von Wohnungen und den Aufbau von Wohnkollektiven neue Erziehungseinrichtungen und -methoden für obdachlose Jugendliche realisiert werden.

Hausbesetzungen und Verhandlungen

Am 29. Februar 1972 gründete sich der Verein Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Berlin e.V. (SSB e.V.). Hauptziel des Vereins war zunächst die Legalisierung der Treber/innen und die Schaffung eines selbstverwalteten Jugendzentrums, um unterstützende Strukturen für die Jugendlichen zu schaffen. Durch deren große Zahl (über 2.000) war der Berliner Senat unter Handlungsdruck geraten, wirksame Resozialisierungsmaßnahmen anzubieten. Dadurch begünstigt wurden kurzzeitig alternative Projekte gefördert. Vorschub leisteten die abgeschlossenen Verträge mit dem Georg-von-Rauch-Haus 1972 am Kreuzberger Mariannenplatz und dem Schöneberger „Jungarbeiter- und Schülerzentrum“ in der Belziger Straße 4-6. Nach Verhandlungen schloss der SSB e.V. im Mai 1972 einen Vertrag mit dem Bezirk über eine ca. 600 qm große Fläche zur Nutzung für „Randgruppenarbeit“ in der Potsdamer Straße 180.

Die Selbstverwaltung des Jugend- und Kulturzentrums war von Anfang an ein zentraler Eckpfeiler des Gesamtkollektivs, das sich aus Frauen-, Knast-, Wohn-, Programm- und Thekengruppe zusammensetzte. Unter Selbstorganisation verstanden die Betreiber/innen ein wöchentliches Plenum, auf dem alle ein Recht auf Anhörung ihrer Belange hatten, Aufgaben verteilt wurden und die verschiedenen Gruppen ihre Arbeit vorstellten. Entscheidungen wurden gemeinsam getroffen und getragen, ohne dass es eine Abstimmung benötigte.

Im Laufe des Jahres bekamen die Treber/innen immer mehr Probleme – viele von ihnen hatten keinen Schlafplatz und wollten im Drugstore übernachten. Das war weder vertraglich erlaubt, noch war es aufgrund der großen Zahl der Betroffenen realisierbar. Polizeirazzien führten dann zu einer kurzzeitigen Schließung des Drugstores durch das Kollektiv. 

Nach der Wiedereröffnung starteten Wohngruppe und Treber/innen eine Öffentlichkeitskampagne mit Flugblättern, Pressemitteilungen und Demonstrationen, um den Bezirk zu Verhandlungen über ein leerstehendes Haus inmitten einer Nachkriegsbrache in Kreuzberg in der Wilhelmstraße 9 zu zwingen. Um den Gesprächen Nachdruck zu verleihen, besetzten 70 Jugendliche im Februar 1973 das Drugstore und erhöhten durch zahlreiche Aktionen den Druck auf den Bezirk. Vierzehn Tage nach der Besetzung wurden Verhandlungen mit der Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport aufgenommen. Am 3. März 1973 schloss der SSB e.V. einen Nutzungsvertrag mit dem Berliner Jugendclub e. V., der dem Senat vorgeschaltet war. Der Vertrag regelte die Förderung des Projekts und beinhaltete einen Etat für die Instandsetzung des maroden Hauses. Am 2. März 1973 wurde das Haus in Tommy-Weisbecker-Haus umbenannt, nach einem militanten Aktivisten, der ein Jahr zuvor von der Polizei erschossen wurde.

Nach der Vertragsunterzeichnung zogen ca. 70 Jugendliche, unter ihnen größtenteils Treber/innen, in das selbst erkämpfte Haus ein, das sich als starker Anziehungspunkt für minderjährige Treber/innen erwies. Wie auch das Drugstore wurde das Tommy-Haus selbstverwaltet. Mehrere Plena in der Woche regelten das Zusammenleben. Vier Wohnungen waren (und sind noch heute) für eine kurzfristige Unterbringung und anschließende Legalisierung jugendlicher Treber/innen vorgesehen.

Der SSB e.V. konnte in den folgenden Jahren um eine Umzugsfirma, ein KFZ-Kollektiv, eine Tischlerei, eine Elektrowerkstatt und ein Ferien- und Tagungshaus in Wernsdorf, Brandenburg erweitert werden. Mit der Hausbesetzerbewegung Anfang der 1980er Jahre kamen die selbstverwalteten Häuser der Bülowstraße und in der Mansteinstraße. 10 dazu. Ende des Jahrzehnts folgte die Marchstraße 23. Nicht alle genannten Projekte haben zum jetzigen Zeitpunkt noch Bestand. Über die Jahrzehnte blieb das Drugstore ein wichtiger Ort für politische Gruppen, kulturelle Veranstaltungen und Konzerte.

Auch die Potse stetig unter Druck

Die Räume der Potse wurden 1979 ursprünglich vom Bezirk für die SPD-nahe Jugendorganisation „Die Falken“ als Jugendtreff angemietet. Mit der Zeit entwickelte sich eine kollektive, selbstverwaltete Struktur. Auch die Potse musste  um ihre Existenzberechtigung kämpfen und existierte jahrelang ohne Verträge oder Trägerverein. Mit der Legalisierung durch den Verein Potse e.V. und Verträge mit dem Jugendamt standen die Jugendlichen vor dem Problem, dass das selbstverwaltete autonome Jugendprojekt sich mit der Sozialbürokratie herumschlagen musste. Es gab nie eine Förderung, geschweige denn angestellte Sozialarbeiter/innen oder Erzieher/innen. Der Trägerverein ist an dem Widerspruch von Autonomie und Verträgen mit der öffentlichen Hand zu Bruch gegangen, weswegen der neue Verein Potze e.V. gegründet wurde. Generationen von Jugendlichen haben den Laden immer weiter bespielt und zu dem gemacht, was das selbstverwaltete Jugendzentrum heute ist: ein bekannter Veranstaltungsort und Treffpunkt für Punks und andere Jugendsubkulturen, in dem, wie im Drugstore, alle Veranstaltungen für alle umsonst waren.

Seit den Anfangstagen waren beide Projekte Anfeindungen seitens des Bezirks ausgesetzt. Nach Übernahme der Immobilie durch die BVG verschärfte sich 1987 der Ton und es kam zu häufigen Auseinandersetzungen mit dem Vermieter. Ein Anti-Kriegs-Transparent an der Außenfassade des Drugstores sorgte für eine Abmahnung, angebliche Mängel an der Elektrik führten zu einer kurzzeitigen Schließung 2006. Die Situation spitzte sich 2015 weiter zu, als der Gebäudekomplex an einen privaten Investor ging, der die Verträge aufkündigte und ein Business-Hostel in die Räume über die Jugendzentren ziehen ließ.

Mit dem Beginn des aktuellen Existenzkampfes sind Potse und Drugstore verstärkt in die Öffentlichkeit getreten. Silvester 2018 verweigerten die Jugendlichen der Potse vor laufenden Fernsehkameras die Übergabe der Schlüssel an den Jugendstadtrat Oliver Schworck. Damit begann die inzwischen 2 1/2-jährige Besetzung. Sie wollten im Weg sein, falls das Jugendamt die Potse ohne Räumungstitel räumen wollen würde. Im Frühjahr 2019 hat die Potse dann wieder aufgemacht und hat einen Raum für hunderte von Jugendlichen geboten, die dort das sein konnten, was sie sind und sein wollten. Mit der teilweisen Räumung der Läden endet die Geschichte nur zu einem Teil, da die Kollektive und deren Idee der Selbstorganisation weiterhin existieren, wenn auch an anderen Orten.


MieterEcho 418 / Juni 2021

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