Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 415 / März 2021

Schutz vor der Abrissbirne

Die Bezirke könnten den Abriss von Wohnhäusern in vielen Fällen verhindern – doch nicht alle nutzen konsequent die bestehenden Instrumente

Von Philipp Möller

„Die Ausdehnung der modernen großen Städte gibt in gewissen, besonders in den zentral gelegenen Strichen derselben dem Grund und Boden einen künstlichen, oft kolossal steigenden Wert; die darauf errichteten Gebäude, statt diesen Wert zu erhöhen, drücken ihn vielmehr herab, weil sie den veränderten Verhältnissen nicht mehr entsprechen; man reißt sie nieder und ersetzt sie durch andre“, schrieb Friedrich Engels 1872 in seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage“ . Zwar unterliegt die heutige Stadtentwicklung im Vergleich zu 1872 umfassenden gesetzlichen Regularien, und Abrisse von Wohngebäuden dürfen in Berlin nicht ohne bezirkliche Genehmigung stattfinden. Dennoch gerieten vor allem Gebäude aus der Nachkriegsmoderne der 1950er und 1960er Jahre in den vergangenen Jahren immer häufiger unter die Abrissbirne, um einfach ausgestattete Altbauten durch luxuriöse Neubauten zu ersetzen.

Für die Bestandsmieter/innen sind Abrisspläne ein Alptraum und oftmals der Beginn von jahrelangen Rechtsstreitigkeiten mit unklarer Bleibeperspektive. Nicht selten greifen Vermieter/innen zu rabiaten Methoden, um ihre Häuser zu entmieten oder versuchen die Altmieter/innen durch Auszugsprämien loszuwerden. Momentan kämpfen 34 Mieter/innen aus der Windscheidstraße 3 und 3a in Charlottenburg gegen den Abriss ihrer Wohnungen. Der Fall folgt einem bekannten Muster: Eigentümer/innen vernachlässigen die Gebäude über Jahre hinweg  und lassen viele Wohnungen leerstehen. Ist der Verfallsprozess weit fortgeschritten, argumentieren sie anschließend beim Bezirk und vor Gerichten, dass ein Abriss gegenüber der Instandsetzung wirtschaftlicher sei. Von Anfang 2014 bis Oktober 2020 gab es laut Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen berlinweit 1.596 Anträge auf Abriss. Angaben darüber, wie viele davon genehmigt wurden und in welchen Bezirken sie gestellt wurden, machte die Senatsverwaltung gegenüber MieterEcho jedoch nicht. Eine Abfrage bei verschiedenen Bezirksämtern ermöglicht immerhin eine grobe Einschätzung. Demnach gab es in Friedrichshain-Kreuzberg in den Jahren 2018 bis 2020 lediglich drei Anträge auf Abriss, von denen einer abgelehnt wurde und die beiden anderen noch in Bearbeitung sind. Zwischen 2015 und 2020 wurden in Neukölln 89 Abrissanträge für insgesamt 172 Wohneinheiten gestellt. In 41 Fällen mit 114 Wohneinheiten erteilte das Bezirksamt eine Genehmigung. Spitzenreiter in Sachen Abriss ist der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Hier stellten Eigentümer/innen zwischen 2015 und 2020 insgesamt 95 Abrissanträge für 322 Wohnungen. Davon genehmigte das Bezirksamt 89 Anträge mit 288 Wohnungen und lehnte lediglich sechs Anträge mit 34 Wohnungen ab.

Sonderregeln im Milieuschutz

Doch wie lassen sich diese großen Unterschiede zwischen den Bezirken erklären? Ein Grund ist die unterschiedliche  Verbreitung von sozialen Erhaltungssatzungen. In den berlinweit 60 Milieuschutzgebieten stehen Abrisse von Wohngebäuden unter Genehmigungsvorbehalt und können durch die Bezirksämter versagt werden. Friedrichshain-Kreuzberg ist durch seine zehn Milieuschutzgebiete umfänglich geschützt. Das Bezirksamt in Charlottenburg-Wilmersdorf erließ dagegen erst für drei Gebiete Erhaltungssatzungen. Wie wirksam der Milieuschutz in manchen Fällen vor Abriss schützt, konnten Mieter/innen und Künstler/innen in der Koloniestraße 10 im Wedding erfahren. Hier will der Eigentümer des benachbarten Luxus-Studentenwohnheims „Campus Viva II“ im Hinterhof weitere teure Mikroapartments bauen. Mithilfe der 2019 erlassenen sozialen Erhaltungssatzung konnte der Bezirk den Abriss von Remisen, Garagen, Ateliers und Werkstätten im Hinterhof bislang verhindern.

Neben der Ausweisung von Milieuschutzgebieten können die Bezirke auch durch Genehmigungsverfahren Einfluss nehmen. Für Investoren lohnt sich ein Abriss vor allem dann, wenn sie anschließend Neubauten mit einer höheren Geschosszahl errichten können. Dafür benötigen sie in der Regel eine bezirkliche Befreiung von den Vorgaben des Baunutzungsplans. Laut Niklas Schenker, Sprecher der Linksfraktion für Stadtentwicklung in der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf, ermöglicht der dortige Bezirksstadtrat Oliver Schruoffeneger (B90/ Die Grünen) besonders viele Bauvorhaben durch Befreiungen vom Baunutzungsplan. „Damit wurde ein Klima geschaffen, das sehr viel ermöglicht und Abrisse sehr lukrativ macht“, sagt Schenker gegenüber MieterEcho. Als Beispiel nannte er die auf Initiative des Bezirks erarbeitete „Charta City West 2040“, die den Abriss von Bestandsgebäuden und Hochhausneubauten für das Areal rund um den Kurfürstendamm vorsieht. 

Neben sozialen Erhaltungssatzungen und Genehmigungsverfahren bietet auch das Zweckentfremdungsverbotsgesetz einen gewissen Schutz vor Abriss. Das 2014 erlassene Gesetz verpflichtet Investoren dazu, „angemessenen Ersatzwohnraum“ zur Verfügung zu stellen. Deren Mieten müssen „von einem durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmerhaushalt allgemein aufgebracht werden können“ und sind „in räumlicher Nähe zu dem zweckentfremdeten Wohnraum oder zumindest in demselben Bezirk“ zu schaffen. Eine 2018 erlassene Verordnung verschärfte die Vorgaben dahingehend, dass für den Ersatzwohnraum keine höhere monatliche Nettokaltmiete als 7,92 Euro/qm  verlangt werden darf. Niklas Schenker nennt die Mietobergrenze einen „Versuch, Abrisse zu verbieten und Spekulation möglichst unattraktiv zu machen.“ Für Investoren rechne es sich nicht, Wohnungen abzureißen, um anschließend für eine Miete von 7,92 Euro/qm neu zu bauen.               

Mietobergrenze soll gekippt werden

Die Mietobergrenze für Ersatzbauten steht dementsprechend unter starkem Beschuss. Im August 2019 gab die 6. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts der diesbezüglichen Klage einer Eigentümern Recht. Diese will in der Suarezstraße in Charlottenburg 30 Mietwohnungen abreißen und durch 60 Eigentumswohnungen ersetzen. Das Bezirksamt versagte der Eigentümerin die Abrissgenehmigung, weil die Neubauwohnungen für einen durchschnittlich verdienenden Haushalt  unbezahlbar seien. Das Gericht argumentierte dagegen, dass der Wohnraumverlust durch die höhere Wohnungsanzahl und größere Wohnfläche in den geplanten Eigentumswohnungen ersetzt würde und die Neubauten somit der allgemeinen Wohnraumversorgung dienten. Nach dem Einspruch des Bezirksamtes liegt der Fall nun vor dem Oberverwaltungsgericht. 

Zwar hat die Entscheidung des Verwaltungsgerichts noch keinen unmittelbaren Einfluss auf die bezirkliche Praxis. „Allerdings hat sie mittelbar Einfluss, da einige Antragsteller sich auf sie berufen und entsprechende Änderungen verlangen“, heißt es aus dem Bezirksamt Neukölln. In einem Fall habe ein Eigentümer im Bezirk Widerspruch sowie Klage gegen die Mietobergrenze eingelegt. Die Bezirksämter in Charlottenburg-Wilmersdorf und Tempelhof-Schöneberg  sehen dagegen bislang keine Signalwirkung des Urteils und gaben sich zuversichtlich hinsichtlich der Entscheidung in der nächsten Instanz. Anders sieht es das Bezirksamt Pankow, das eine Verbindung von öffentlichem Wohnraumschutzrecht – wie dem Zweckentfremdungsverbotsgesetz – und Wohnraumpreisrecht – also der Mietobergrenze aus der Verordnung – für nicht zulässig hält. „An einer sicher wünschenswerten sinnvollen Verbindung oder sachgerechten Abstimmung beider Rechtsmaterien fehlt es bislang“, monierte ein Vertreter des Bezirks gegenüber MieterEcho. Dennoch wende das Bezirksamt die Mietobergrenze „bis auf weiteres pflichtgemäß an“, weise aber in Bescheiden auf die Entscheidung der 6. Kammer des Verwaltungsgerichts hin. 

Eine besondere Bedeutung dürfte die Mietobergrenze für Ersatzwohnraum bekommen, wenn der Mietendeckel mittelfristig in Kraft bleibt. Der im Gesetz vorgesehene Mietenstopp und die Mietobergrenzen bei Neuvermietung beschneiden die Verwertungsmöglichkeiten für Bestandsimmobilien, während Neubauten von den Regularien ausgenommen sind. Sollte die Mietobergrenze für Ersatzbauten vor Gericht fallen, könnten Abrisse zu einer lukrativen Umgehungsstrategie werden. „Das würde einen unheimlichen Druck auf ganz viele Wohnquartiere entfachen“, warnt Schenker. Daher gelte es, um die Mietobergrenze für Ersatzwohnraum zu kämpfen. Die Entscheidung des Bezirks-
amts Mitte, in der Habersaathstraße auf den Obergrenzen in dem Neubau, der 106 Bestandswohnungen ersetzen soll, zu beharren, ist insofern richtungsweisend.


MieterEcho 415 / März 2021

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