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MieterEcho 416 / April 2021

Mit Kreuz und Kapital gegen die soziale Moderne

Noch ist der Kampf um die Zukunft von Berlins Mitte nicht entschieden

Von Simone Hain

Der Diskurs über die „Offene Mitte“ von Berlin hat eine komplexe Entwicklungsgeschichte und mehr als einen rein bodenwirtschaftlichen Hintergrund. Einerseits reagiert er gezwungenermaßen auf einen diametralen Richtungswechsel der Stadtentwicklungspolitik. Wie überall in der kapitalistischen Welt finden auf ehemals sozialisiertem Raum mit der Postmoderne Kräfte ihren Entfaltungsraum, die unter dem Leitbild der „Rückkehr der Stadt“ oder der „Renaissance des Städtischen“ mit dem 20. Jahrhundert abrechnen. Das 20. Jahrhundert hatte – mit den Worten von Bruno Taut gesprochen – den „sozialen Gedanken“ als zentralen Glaubensinhalt gesetzt, indem es das Gemeinwohl klar über den Eigennutz der Immobilienwirtschaft erhob.

Sozialismus war weit mehr als nur eine Utopie, sondern mit dem Bewusstsein um Mittel und Wege jederzeit Plan für eine bessere Welt. Wo einst der Palast der Republik als gläsernes Volkshaus und der große Garten zu Füßen des Fernsehturmes stand, hat der Geist der Abrechnung eine unübersehbare Bresche geschlagen. 

Noch aber kann die Planfigur der Emanzipation, die einen Freiraum zum Mittelpunkt des Gemeinwesens hat, jeglichen Versuchen der Enteignung trotzen. Tauts Vision einer die Kathedralen und Schlösser der Vergangenheit ersetzenden sozialen Stadtkrone war als Monument einer vom Besitz befreiten Menschheit gedacht, für die die Erde eine gute Wohnung ist. Alle Siedlungen waren autonom und weitgehend autark, aber eine überwölbende bauliche Form sollte den Zusammenhang verkörpern. Diese Idee hat Berlins Mitte in eigentümlicher Weise geprägt. Auch wenn der sinngebende Glaspalast abgebrochen worden ist, bleibt rund um den Fernsehturm ein städtebauliches Ensemble, das sich vielschichtig und kunstreich um eine Riesennadel dreht. Diese Nadel sagt: Hier, genau hier spielt die Musik. Hier passiert im Großen und Ganzen und vor aller Augen, was ihr auch nicht in Euren Kiezen haben wollt. Denn im symbolischen Zentrum der Stadt tobt jene wütende Kraft der Durchkreuzung, die in den Quartieren zur strukturellen Gewalt gerinnt. Die zukünftige Gestaltung der Berliner Stadtkrone, die mit dem laufenden Ideenwettbewerb aktuell aufgerufen ist, wird richtungsentscheidend sein. Schach matt dem schwarzen König!

Abrechnung mit der Moderne

Unter der expliziten Absage an die angeblich so aggressive, Stadtbild und Eigentumsschema verändernde, licht-, luft- und gründurchwirkte Moderne wird seit geraumer Zeit mit preisbezogenen Aufwertungsabsichten eine baupolitische und ästhetische Rückkehr zum vorgeblich besseren Städtebau des bürgerlichen Zeitalters betrieben. Die Restitution fokussiert auf das eigentumsrechtliche Prinzip der Parzelle, die ordnungspolitische Wirksamkeit des Fluchtlinienplanes, den als heilig erklärten Stadtgrundriss und die traditionelle Häuslichkeit simulierende, steinerne Lochfassade. „You couldn’t do it better“ ist eine Losung, mit der ursprünglich Prince Charles Taskforce für „New Urbanism“ den postmodernen Traditionalismus einer marktorientierten Architektenschaft angeblasen hat. In Berlin hatte sich mit ihrem „Planwerk Innenstadt“ ausgerechnet die Sozialdemokratie die postmoderne Revision der sozialen Bestände zu eigen gemacht. Schon die gesamte Architekturentwicklung des 20. Jahrhunderts, so die Behauptung, sei eine Fehlentwicklung gewesen, aber die DDR-Gestaltung der Innenstadt habe dem „Mord am Bürgertum“ noch die Krone aufgesetzt. Die öffentliche Herabwürdigung der gebauten Umwelt dieser Epoche, auch wenn sie leiser und vorsichtiger geworden ist, bedeutet eine krasse Verkehrung jener kulturellen Werte, die den Spekulationsstädtebau einem Bruno Taut einst als „gebaute Gemeinheiten“ erscheinen ließen. Die antisoziale Ästhetisierung von Parzelle, Bauflucht und steinerner Lochfassade dagegen ist ein programmatisch ausgerichteter Gegenschlag, der einst in Harvard als Polemik gegen den „unamerikanischen“ Sozialismus der deutschen Architektur-Immigranten vom Bauhaus begann. 

Als die maßgebliche, umweltgestalterische Option des Neoliberalismus hat sie sich seit den 80er Jahren weltweit durchgesetzt. Jetzt kehrt die Front der globalen Auseinandersetzung gewissermaßen an den Berliner Ursprung zurück. Genau dahin, wo der siegreiche Lauf der Sozialisierung mit der Architektur des Arbeitsrates für Kunst und den Architekten der Novembergruppe einst begann, dem die DDR im Wiederaufbau ein einst gefeiertes eigenes Kapitel hinzufügte. Weil die neoliberale Umweltgestaltung grundsätzlich auf Reprivatisierung öffentlich gewidmeter Freiräume und dem Rückbau sozialisierter moderner Bauensembles beruht, ist der Charakter dieser Politik längst entlarvt. Alain Touraine hat die „Renaissance der Stadt“ einen „Adelsnamen für eine Politik der Ausgrenzung“ genannt. Denn hinter dem Angriff auf Häuser und Freiräume verbirgt sich leicht erkennbar der Angriff auf Menschen, die künftig keinen Platz in den von Konsum und Mietspekulation gezeichneten städtischen Zentren mehr finden werden. So wie der französische Soziologe haben es auch namhafte amerikanische Stadtforscher klar benannt: Neil Smith sprach von „revanchistischem Städtebau“ und Christine Boyer von einem total geführten Angriff auf sämtliche Errungenschaften einer mehr als hundert Jahre lang paradigmatisch marxistisch geprägten Politik der Integration arbeiterlich lohnabhängiger Mieter, Nicht-Eigentümer von Grund und Boden. Zur Erinnerung: Privater Grundbesitz und demokratische Teilhabe, namentlich passives Wahlrecht, waren historisch so eng verbunden, dass nach dem Fall des Sozialistengesetzes die Arbeiterpartei für ihre Führer Häuser kaufen musste, damit sich diese auch tatsächlich zur Wahl stellen konnten. Hier haben wir also ein Bürgerlichkeitsideal aus der Bismarckzeit, in der der Zugang zum politischen Raum unmittelbar mit einem Grundbucheintrag verbunden war. Reprivatisierung und politische Entmündigung der Mieter, gewissermaßen Freiheitsberaubung, sind zwei Seiten einer Medaille. So weit, so grenzenlos schlecht. 

In Deutschland allerdings, zumal in seiner systemisch lange geteilten Hauptstadt, jenem architektonisch reif ausformulierten Epizentrum des Kalten Krieges, wird der Gegenangriff der Konterrevolution noch einige Stockwerke tiefer geführt. Hier geht es nicht allein um Aufwertungskonzepte und triumphale Siegeszeichen durch „wertige Architektur“, sondern um Einbruch in das kollektive Unterbewusstsein. Revanchistisch ist in Berlin nicht allein die Stadtentwicklung, sondern auch die mentale Verarbeitung der „Wende“ gewesen. Als grundsätzlicher, endgültiger Abschied von den Utopien wie von den konkreten Tatsachen einer energisch sozialisierten Welt.  

Brainwashing für neues Selbstbild

Während wir uns wahrscheinlich leicht darüber einig sind, dass auf das seit 1918 baulich zunehmend kommunalsozialistisch, genossenschaftlich und staatssozialistisch geprägte Berlin im Jahr 1990 der rauschhaft entfesselte Neoliberalismus hereinbrach und sich bis heute austobt, ist eine andere Entwicklung nicht recht fassbar im Dunkeln geblieben. Irgendwie unterirdisch, aber zu jedem Zeitpunkt der vergangenen drei Jahrzehnte erkennbar, ging es auch darum, nicht nur die Stadtgestalt an sich, sondern auch das Selbstbild der Berliner umzudrehen. Wenn alle widerstandslos mitmachen, wenn die Musik spielt. Das kollektive Brainwashing wurde beharrlich als Bilderstreit ausgetragen und die soziale Realität der wiederaufgebauten Stadt als hässlich, architektonisch arm und vor allem viel zu landschaftlich, ja unerträglich grün in Frage gestellt. Das, was Berlin ausmacht, der sozial-räumliche Bestand einer transformierten wie revolutionierten Gesellschaft galt als Unwert. Als solle sie auch architektonisch alle Irrläufe und Verwerfungen der Geschichte hinter sich lassen, nahm die ohnehin laufende neoliberale Immobilisierung der Werte in Berlin zugleich noch die Form eines kulturellen Wertewandels an. Es ging um das Bewusstsein von einem „normalen“ Lauf der Geschichte als  Zielpunkt der Revision. Bei dieser gedanklichen Operation spielte der im berühmten „Historikerstreit“ der 80iger Jahre namhaft gemachte deutsche Sonderweg eine maßgebliche Rolle. Dabei handelt es sich kurz gesagt um eine vom Westen deutlich abweichende, sehr eigentümlich deutsche Variante der Despotie. Als könne man den Prozess der Zivilisation damit auflösen, wird anstelle des ewigen Kämpfens bis an die Grenze des Bürgerkrieges, anstelle der prekären demokratischen Mehrheiten und systemischen Schwächen des Kapitalismus eine deutsche Apartheid behauptet. 

Die mentale Operation ist so spekulativ wie ansteckend gewesen: Alle Stämme, Klassen, Stände, Länder und Kommunen seien unter dem Dach Preußens in einer machtvollen identitären Umklammerung in Bann geschlagen gewesen, vorbildlich zur Raison gebracht. Allein durch Paternalismus, Strenge und Kunst hätte sich jene autoritäre Ordnungsmacht legitimiert, die Deutschland lange Zeit dominierte. In jenem idealisierten Preußen als normativem staatlichen Ideal, so die an Volltrunkenheit erinnernde Verblendung, habe jene „machtgeschützte Innerlichkeit“ (Thomas Mann) blühen können, durch die sich die Deutschen als Kulturnation auszeichneten. Innerlichkeit soll den seit Luthers reformatorischem Staatschristentum grassierenden Mangel an Öffentlichkeit aufwiegen. Der kritische Citoyen wird durch den Bildungsbürger ersetzt, universelle Werte durch bürgerliche Befindlichkeiten und Narzissmus. Wie verführerisch das spekulative Wesens-Palaver ist, zeigt sich darin, dass ein Thomas Mann diese Überlegungen im Widerstreit mit seinem Bruder in denkbar ausführlichster Weise ausgebreitet hat. Genau die hier gegebene Form des politisch unverantwortlichen Redens über alles auf einmal entspricht dem Wertekanon der neokonservativen Bewegung perfekt. Sein Gegenbild ist der klar strukturierte analytische kritische Diskurs. Eine geniale Konstruktion im Grunde genommen, mit der die faktische Weltverlorenheit und Entfremdung in eine Tugend verwandelt werden kann. So unglaublich es klingt: Die Verwandlung des politischen Raumes zu einer substantialistischen Nabelschau ist lange vor Corona die eigentliche gesellschaftliche Pandemie gewesen. Weit bedrohlicher als ein Virus hat sich das reaktionäre Muster festgesetzt, nach dem die universellen Werte von Christentum, Sozialismus wie Liberalismus und revolutionäre egalitäre Forderungen eine Bedrohung sind. Wer nun glaubt, das alles hat mit der Mitte Berlins und insbesondere mit der Gemeinschaft aller Berliner Mieter/innen überhaupt nichts zu tun, dem möchte ich folgende Gedanken antragen.

Der Aufstand der Dinge

Ernst Bloch hatte die traumhafte Idee, die Dinge würden, wenn wir nicht hinsehen, wie Schiffe nachts auf dem Wannsee von selber auf Kollisionskurs gehen. Wir brauchen, zumal mit unseren unter der Zangengeburt schmerzenden Köpfen, eigentlich gar nichts tun: Unsere Baulichkeiten, die Häuser, die Spreebrücken und auch die Denkmäler trügen die Spannungen und Konflikte irgendwie ganz von alleine aus. Und es crasht auch gewaltig in Berlin. Einfach weil hier weiter ein Gespenst umgeht. Im letzten Jahr ist nicht allein der Flughafen fertig geworden, sondern ein weiteres, ebenso unzeitgemäßes wie heillos unnützes Großprojekt, das jetzt sinnlos daliegt und auf tolle Abenteuer aus ist. Das sogenannte Schloss ist fertig geworden, und niemand weiß, was man damit künftig überhaupt anfangen soll. Man kann ja noch nicht einmal hinsehen, so weh tut das steinerne Versatzstück am sensibelsten Ort der Stadt. Was also wird es bei so viel Überdruss wohl demnächst anstiften? Zank mit dem Fernsehturm, Auslaufen ins benachbarte räumliche Vakuum? Wird es sich seinen Neptunbrunnen rauben oder am Ende einfach zu wenig auf dem Sprung gewesen sein, den Kampf um die Berliner Liebe zu bestehen?

Wenn zu seiner Entzauberung noch irgend etwas gefehlt haben sollte, damit seine Zwanghaftigkeit offenbar wird, so hat es die Kuppel mit dem umlaufenden Spruchband an den Tag gebracht. Der Spruch hat die ganze Gegenutopie dreist in die Stadt gespuckt. Das Schloss steht und fällt mit seiner einzig gegebenen Funktion, zur Idee der sozialen Stadtkrone in Widerspruch zu gehen. Er wirft ein Preußentum mit Darth Vader-Fassade in die Waagschale, auf deren anderer Seite der Fernsehturm und seine wunderbare psychedelische Kugelhaut herausfordernd gegenübersteht. Da steht eine Monsterarchitektur von Schloss und will für Abkehr von 1. Sozialismus (Ausradierung eines Volkspalastes), 2. Demokratie (schwarz-weiß-roter Sonderweg) und 3. Kommune (Der Urkonflikt: Schon die Hohenzollernburg wurde zwangsweise auf städtischem Grund errichtet und ist immer bekämpft worden) werben, und beachtet doch nicht, dass die sachliche Gegnerschaft so unendlich reicher, verheißungsvoller vorgetragen ist. Welche Seite der Berliner Stadtkrone wird wohl siegen? Das völlig nutzlose „Schloss“ oder die schlanke Stecknadel, die sagt: Hier ist Berlin, hier beweise Deine Kunst als Tänzer! Mache die Welt schön, lade zum Gastmal. In einem offenen Raum, der Himmel, Erde, Spree und Kunst, Marx und Engels, Zuckererbsen, Engel, Spatzen, Stadthasen und Regentropfen lustvoll vereint. 

Mitten in Berlin, im Herzen, wie man so schön sagt, stehen sich damit auf kürzester Distanz zwei Welten gegenüber. Das Angebot der Revanchisten läuft auf völlige Unterwerfung durch Kniefall und mit den Wölfen heulen hinaus. Die pflegliche Weiterentwicklung der „Offenen Mitte“ dagegen bedeutet ein anderes Berlin. Die Dinge haben sich aber nicht einfach nur von selber zur letzten Entscheidung aufgestellt. Sie sind Ergebnis einer ausführlichen, vom Historikerstreit abzweigenden Diskursschiene gewesen, in der zwar viel von Heilung die Rede war, während aber tatsächlich immer mehr Menschen an der Reaktion verzweifelten und erkrankten. Möglicherweise haben sie in den Kiezen, den Mietergemeinschaften und Häusersyndikaten noch mal neu das Kämpfen gelernt, um jetzt, wo es Zeit wird, auch für das Ganze einer Richtungsentscheidung bereit zu sein. Denn die Stadtkrone betrifft alle Berliner, so autonom sie auch leben mögen. Sie gibt den „Spirit“ vor. 

Dabei ist wichtig, auch die weniger sichtbaren Fallstricke und unterirdisch verbundenen Gänge im Blick zu behalten. Ausgehend vom Feuilleton und den Geschichtsdokumentationen der Fernsehsender ist ein Geschichtsbild aufgebaut, mit dem das Spiel um Blut und Boden unmerklich wieder gesellschaftsfähig geworden ist. Und Eigentum verpflichte zu rein gar nichts mehr. Im grassierenden Lob des Bürgertums und des preußischen Idealismus festgezurrt, werden aalglatt und geschwind die Geschäfte der Immobilienwirtschaft optimiert. Damit es nicht so brutal und raffgierig wirkt, wie es ist, wird Preußisch Blau drüber gepinselt. Denn sie gehören zusammen gedacht und auch in Werkgemeinschaft begriffen: Jene Think Tanks bei FAZ und Die Welt, denen die  Ressorts Zeitgeschichte und Immobilien gleichermaßen redaktionelle Heimat war. Wer Land erobern will, muss das intellektuell vorbereiten. Das ist in immer größer werdenden Kreisen geschehen, die ihren Ausgang bei Joachim Fest oder Rainer Zitelmann, um Arnulf Baring oder Alexander Gauland, um Karl Schlögel und dem Erz-Terminator des DDR-Sozialismus, Bernd Faulenbach, nahmen. Das „Schloss“, die geraubten Benin-Bronzen inklusive, ist nicht einfach unterlaufen. Sondern es gab den übergeordneten Plan, die kulturelle Hegemonie der Linken und den Geist von 1968 zu brechen. Es hat einen Erdrutsch gegeben als der reale Sozialismus zusammenbrach und die westdeutsche Linke mitriss. An Raubzug und Kolonialisierung beteiligt, hat sie sich weitgehend kompromittiert. Deutschland hat am „Ende der Utopien“ nach einer starken Gegenerzählung gesucht und sie unter Aufgabe der „Kritischen Theorie“ auch ausgeliefert. Das Herbeischreiben einer ständestaatlichen alternativen Ordnungsidee – für die der Schlossneubau steht – ist nicht im publizistischen Nirwana geschehen. Ein Aufbaukommando hat zielstrebig auf die Schlussfolgerung hingearbeitet, die uns noch immer bass erstaunt. Und schließlich in der Behauptung gipfelt, dass Naziherrschaft und Kommunistische Republik nur ein „Fliegenschiss“ oder bestenfalls eine Fußnote der großen Geschichte der Deutschen seien. Genau hier nämlich gründet diskursanalytisch betrachtet der Spruch: „Hol Dir Dein Land zurück!“ Doch hübsch der Reihe nach. 

Der Kniefall als Symbol

Der Zusammenstoß zwischen der steinernen Masse des sogenannten Schlosses mit dem luftig-landschaftlichen Park unter dem Fernsehturm ergibt eine stadtbildliche Konfrontation, die zum Himmel schreit. Dem freien, offenen Raum im Osten steht am anderen Ufer – im Westen – nun jener gebaute Kniefall gegenüber, wie ihn die Kuppel in goldenen Lettern manifestiert. Sie wurde in den Märzkämpfen 1848 errichtet und ist, wie jede Kuppel, ein Symbol der Totalität und im politischen Kontext imperial. Mit dem Spruch wird dem ganzen lebenden Erdkreis, und besonders den vor den Toren des Schlosses kämpfenden Demokraten die totale Unterwerfung befohlen. Der geforderte Kniefall ist ein ikonografischer Topos der sich mit der Idee des Rittertums, genau genommen des in den Stand erhebenden Ritterschlages, der Akkolade, verbinden lässt. Rückt anstelle der ursprünglich adelnden „Frau Welt“ wie am Berliner Schloss hingegen Jesus als Weltenherrscher ins Bild, so wird mit dem Kniefall neben der Reichsidee die tausend Jahre alte Gotteskriegerschaft adressiert. Es geht dabei nicht allein um die Milizen des Herrn, sondern historiographisch konkret um Heroisierung der gentilen Landnahme, um Reconquista als Rückeroberung, oder um die Kolonisierung der Welt im Namen des Christentums. Das durchsetzungsstark vorangebrachte Schlossprojekt bedeutet also weit mehr als fleißige Heimatkunde und folgt nur an der Oberfläche betrachtet einem restaurativen Impuls. Im Grunde genommen sollen wir alle durch Faktizität dazu verführt werden, uns einer vorgetäuschten elitären Wirklichkeit zu fügen. Den konservativen Wertewandel durch Zustimmung affirmieren. Wir sollen alle mitspielen, uns gewöhnen, protofaschistisch immer mehr aufladen lassen, völlig wehrlos werden. Wer in den Anfängen der „Schlossdebatte“ aufmerksam die forcierenden Schriften von Joachim Fest, Wolf Jobst Siedler oder Arnulf Baring gelesen hat, konnte das Ziel bereits sehen, noch ehe das Denken in die Verwirklichungsphase überging. Es ging, und das ist die besondere Crux im Falle der deutschen Antimoderne, das im Vergleich einmalig Hinterhältige, schon ganz früh um eine verführerische Gegenutopie. Die stolze Idee der Plebejer von einem jenseits der eigenen existenziellen Interessen liegendem emanzipatorischen Ziel war Herausforderung genug, jene projektive Idee der besseren Welt, des Heimkehrens im Sinne von Bloch. Noch aber ist sie in Berlin als Städtebau der Freizügigkeit konkret zu erleben.

 

Prof. Dr. Simone Hain ist Architekturhistorikerin, Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung und war zuletzt Leiterin des Instituts für Stadt- und Baugeschichte an der Technischen Universität Graz. Ihre Schwerpunkte sind Stadtforschung und Geschichte des modernen Planens und Bauens.


MieterEcho 416 / April 2021