Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 418 / Juni 2021

In Zukunft: vergesellschafteter Wohnbau

Über kritisches Erben vom Roten Wien und das heutige Wiener Modell

Von Gabu Heindl

„Erbaut von der Gemeinde Wien in den Jahren 1927 und 1928 aus den Mitteln der Wohnbausteuer“ , steht in Rot auf der Fassade des Rabenhofs im 3. Bezirk. Nicht nur dort: Auf allen Fassaden von Gemeindebauten der Ära des Roten Wien (1919-1934) verkünden große Lettern stolz eine Aufbauleistung. An diesen Aufschriften, die keineswegs technischen Charakter haben, liest sich einiges für uns heute überraschend: Etwa der implizite Hinweis auf die rasche Erreichung hochgesteckter Planungsziele und der Stolz auf vorhandene Mittel (während Städte sich heute allzu oft als „mittellos“ präsentieren, weshalb dann für öffentliche Bauten die öffentlich-privaten Partnerschaften als alternativlos dastehen). Markant aus heutiger Sicht ist vor allem das öffentliche Anschreiben einer Steuer, und nicht irgendeiner: Die Wiener Wohnbausteuer war eine vom Bürgertum vehement bekämpfte progressive Umverteilungssteuer, die als Teil einer ganzen Palette Luxussteuern von oben nach unten verteilte. Stellen wir uns heute eine Regierung vor, die ähnliche Umverteilungsmaßnahmen in der nahen Zukunft entwickelt – ob Steuern oder Enteignungsstrategien – und diese stolz auf die neu genutzten Stadthäuser schreibt: Was würde auf dem vergesellschafteten Wohnbau der Zukunft stehen?

Im Roten Wien wurden 64.000 Wohnungen für die Arbeiter/innenklasse errichtet. Möglich war dies aufgrund der 1922 erlangten Steuerhoheit und der oben genannten Steuer sowie einer historischen Situation, die so heute nicht vorliegt: Ein ausgesprochen guter Mieter/innenschutz (noch aus dem ersten Weltkrieg: Mietzinsstopp und Einschränkung des Kündigungsrechtes) verleidete damals Privatinvestoren die Bautätigkeit, weil es quasi unmöglich war, mit der Wohnungsnot anderer großen Profit zu machen. Zudem ermöglichte das „Wohnungsanforderungsgesetz“ der Stadt, nicht genutzte Wohnsitze zur Weitergabe an Wohnungsnotleidende anzufordern (wer denkt da nicht an den heutigen Leerstand und die Zweit- und Mehrfachwohnsitze?). Dieser „größte Angriff gegen den Privatkapitalismus“ (so beschrieb Austromarxist Friedrich Adler den Mieterschutz in der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung vom 24.6.1921) ließ private Spekulation und Bautätigkeit zurückgehen und damit die Bodenpreise sinken. Im neoliberalen Heute würde eine Regierung wohl eher die Privatwirtschaft unterstützen, anstatt wie das austromarxistische Rote Wien selbst zur Tat zu schreiten und das bis heute weltweit gefeierte Gemeindebauprogramm zu starten. Die historische Situation machte es möglich, dass die Politik des Roten Wien innerhalb der Rahmenbedingungen der kapitalistischen Stadt regieren konnte, sie musste kein Enteignungskonzept entwickeln.

Günstiges Wohnen ist keine Utopie

Richtiggehend utopisch mutet heute die geringe Miete der Gemeindebauwohnungen an, die im Schnitt nur 4-8% des Arbeitereinkommens betrug. Viel gefeiert, aber auch kritisiert wurde diese Zahl: Derart niedrige Wohnkosten hielten indirekt die Löhne niedrig, unterstützten die Industrie, vernachlässigten Reproduktionsarbeit, seien nicht kostendeckend. Und doch bietet der Rückblick auf diese Mietkosten eine inspirierende Denkmöglichkeit: Es geht auch anders! Wohnen muss nicht 30, 40, 50 oder noch mehr Prozent des Einkommens kosten.

Zurück zur stolzen Inschrift am Gemeindebau des Roten Wien: Nehmen wir den Namen dieser Art Bau so buchstäblich wie seine Beschriftung. Es heißt nicht „Massenwohnbau“ – obwohl das Wort Masse zu Unrecht abqualifiziert ist, für schablonenhaften Plattenbau steht und eigentlich wiederzugewinnen wäre: Steckt in der Masse doch das Potenzial für Luxus – eben durch Masse. Massenwohnbau heißt auch nicht Standardisierung. Gemeindebau heißt nicht „projects“ (wie stigmatisierte Sozialwohnbauten in den USA genannt werden), auch nicht „Banlieues“ – der Wiener Gemeindebau findet sich in allen Bezirken, als Teil einer hegemoniepolitischen Planungsstrategie der frühen Wiener Sozialdemokratie. Sinnbild dafür wurde der Karl-Marx-Hof im bürgerlichen Döbling. Heute werden die 210.000 Gemeindebauwohnungen und rund 200.000 gemeinnützige Wohnungen unter dem Sammelnamen „sozialer Wohnbau“ zusammengefasst. So positiv das Konzept „sozial“ auch konnotiert ist: Der Name Gemeindebau enthält doch einiges an aktualisierbarem Sinn. Legt er doch die Frage nahe: Wer und was ist die Gemeinde? Oder dort, wo die Gemeinde Kommune heißt: Wer oder was ist die Kommune, wer ist die offene Gemeinschaft des kommunalen Wohnungsbaus? 

Umgangssprachlich ist in Wien mit „Gemeinde“ die Stadtverwaltung gemeint. Nicht zuletzt in einer paternalistischen Färbung, wie sie da Tradition hat. Zugespitzt sieht es dann so aus: Der Gemeindebau „gehört“ der Verwaltung und die lässt Menschen drin wohnen. Vielmehr: Nur diejenigen, die im etwas exklusiven Kreis der Wiener/innen eingemeindet sind. Die also, wie es der “„Wien-Bonus“ klarstellt, mindestens zwei Jahre an derselben Wiener Adresse gemeldet sind. Ein dauerhafter Wohnsitz von bis zu 15 Jahren hilft, vorgereiht zu werden – eine Wien-spezifische Hürde, die viele in der österreichischen Mietlandschaft neu Ankommende oder neu Suchende trifft. Denn aufgrund der seit 1994 im Mietrechtsgesetz verankerten Möglichkeit zur Befristung sind neue Mietverträge in der Privatwirtschaft zu 70% befristet. Wie in Deutschland ist das Mietrecht auch in Österreich auf Bundesebene angesiedelt, mit teilweise zu städtischen Akteur/innen sehr konträren Zielen. Die „Hiesige-Zuerst“-Ausschlusspolitik von Wien hat sich der Bund aber abgeschaut und nun österreichweit durchgesetzt. Ausschlusskriterien gab es auch schon im historischen Roten Wien mit einem Punktesystem für das Anrecht auf eine Wohnung. Und seit damals kollidieren solche Verengungen mit dem universalistischen, gleichheitlichen Projekt, das in den Resten der kollektivistischen „Utopie Gemeindebau“ immer noch anklingt. 

Geplant, realisiert, gebaut wurde im Roten Wien „für das Proletariat“. Auch dieses Verständnis eines Adressaten und eines Subjekts der Gemeindebaupolitik ist von dem genannten Spannungsverhältnis charakterisiert: Die Gemeinde beanspruchte zu wissen, wer das Proletariat ist, heute: wer „die Wiener/innen“ sind – und schließt aus. Einem vor hundert Jahren zwar umstrittenen, aber doch definierbaren „Sozialkörper“ des (Industrie-)Proletariats, für das die Gemeinde einen Vertretungsanspruch übernahm, steht heute ein Quasi-Proletariat gegenüber, das sich als Gemeinde vor allem in deren ständiger Neuöffnung und Neugliederung charakterisiert. Da stellt sich also ständig die Frage, wer dazugehört. Eine wichtige politische Forderung in dieser Hinsicht, und zwar beim Wohnen wie auch beim Wählen, ist verdichtet in dem Slogan „Alle, die hier sind, sind von hier“. Das heißt: Alle in Wien Lebenden haben neben gleichen Pflichten auch die gleichen Rechte, ungeachtet ihrer Herkunft oder Papiere. 

Neuer Begriff des Proletariats

Wenn wir Proletariat weniger über organisierte Fabrikarbeit verstehen, als darüber, wer in der Gesellschaft besitzlos, ohne Rechte und im Alltag als Gruppe vulnerabel ist, dann umfasst dieser alte Begriff heute eine vielfältige Gemeinde. Das reicht vom Prekariat und einer abstiegsgefährdeten Mittelschicht über die Working Poor (vielfach Frauen in schlecht bezahlter Reproduktionsarbeit), Alleinerziehende und Menschen mit Migrationserfahrung bis hin zu Menschen, die diskriminiert werden, sei es rassistisch, heterosexistisch oder als Behinderte. Und gleich dazugesagt: Niemand soll aus sozialem Wohnbau ausziehen müssen, wenn er oder sie zeitweise nicht zu den „Armen“ zählt. Statt mit Durchstrukturierung „von der Internationale bis zur Bezirks-Sektion“ haben wir es heute mit einer Intersektionale zu tun: mit Überschneidungen des Betroffenseins von Marginalisierungserfahrungen. Vor dem Hintergrund solcher Konflikt- und Bündnismöglichkeiten stellt sich das Problem der Gemeinde in einem nachdrücklichen Sinn, von der lokal-globalen Ebene des Kommunalen bis hin zu Commons als Gemeineigentum in Selbstverwaltung. 

Dass der kommunale Wohnbau etwas Kollektives ist, liegt auf der Hand. Darum ist eine in Privateigentum verkaufte Gemeindewohnung keine solche mehr, und eine verkaufte geförderte Wohnung ist nicht mehr Teil des sozialen Wohnbaus. Verkaufen ist aber das Ziel auch der österreichischen Bundesregierungen. Die Privatisierung gemeinnütziger Wohnungen im Rahmen der gesetzlichen Miet-Kauf-Option wurde 2019 nochmal erleichtert und ist nun bereits ab 5 Jahren Miete ermöglicht. So gehen um die 1.500 gemeinnützige Wohnungen pro Jahr in Wien an Privateigentümer/innen verloren. Im Jahr 2000 verkaufte die damalige rechts-konservative Bundesregierung rund 60.000 Bundeswohnungen (BUWOG) zum Schleuderpreis. Heute ist die BUWOG Teil von Vonovia und interessiert sich in Wien als privater Akteur dafür, geförderten Wohnbau zu errichten – was für privatwirtschaftlich gewerbliche Investoren erlaubt und profitabel ist: Sie bewerben sich für die günstigen Grundstücke und Förderungen aus Steuergeldern und nach Ablauf der Förderzeit fallen ihre Wohnungen aus der Gemeinnützigkeit heraus. Dies gilt aber nicht für die geförderten Wohnungen, die von gemeinnützigen Bauträgern errichtet werden: Sie werden nach Abbezahlung der Investitionen günstiger, nicht teurer. Ihr Mietpreis muss dann per Gemeinnützigkeitsgesetz auf die sogenannte Kostenmiete (das Nötige für Wartung und Erhalt) gesenkt werden.

Gemeinnütziger Wohnbau als Verkörperung von Gemeinwohl beruht also auf dem Verständnis, dass Wohnen ein öffentliches Interesse ist und kein Vorsorgeprodukt für die private hohe Kante. Vorsorge und damit Zukunftsorientierung für viele zu bieten – das ist die Funktion der Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen. Sie gewährleisten Sicherheit: unbefristet, mit gedeckelten Mieten, mit Weitergabe-Empfehlungsrecht und – weil die Last des Eigentums entfällt – Freiheit für Entscheidungen, etwa für einen Wohnorts- oder Wohnformwechsel. Das ist keine Utopie, sondern die Idee des Gemeindebaus. Seit dem Roten Wien gilt in Wien das Prinzip, dass niemand eine Gemeindewohnung wieder verlassen muss, wenn er/sie zu höherem Einkommen aufsteigt. So wohnen in so manchen sozialen Wohnbauten noch Menschen mit Berufspolitikergehältern neben Menschen mit Pflegeberufsgehältern. Im Rahmen der Objektförderung wird hier kein Unterschied gemacht. 

Die imposante Zahl, Größe und Form der Wiener Gemeindebauten führt stets vor Augen, dass ein auch utopisch inspiriertes Projekt hier auf seine entschlossene Realisierung hin verfolgt wurde. Realisierung (mit Abstrichen) nicht zuletzt eines Bekenntnisses zu Urbanität, zur Stadt als damals wie heute „sozialdemokratischer Insel“ in einem strukturell konservativen Land. 

Der Gemeindebau der Zukunft

Bleibt die gewichtige Frage: Was ist der Bau der Gemeinde der Zukunft? Hat der Gemeindebau künftig statt Waschküchen Solarkraftwerke im Zentrum? Wird er, rundum begrünt, in Turmform in die Höhe wachsen, wie es schon frühe kommunistische Kunstwerke und sozialdemokratische Filme imaginierten? Das Bauen der Zukunft muss die ökologische und die soziale Frage verbinden. Solche Visionen wollen ganz materialistisch angegangen sein. Zum einen übers Material: Für den Gemeindebau der Zukunft wird Boden nicht mehr unnötig versiegelt oder neu erschlossen, kein Sand, der knapp ist, für Stahlbeton, kein Holz, das anderswo gebraucht wird, kein Styrodur mit seiner Zukunfts-Schrott-Hypothek mehr verbaut, solange in der Stadt ungenutzter Wohnraum vorhanden und Wohnqualität so eklatant ungerecht verteilt ist. Genau genommen wird ein Großteil des Gemeindebaus der Zukunft gar nicht gebaut: Anstelle von Neubau wird es um Umwandlung gehen. Und da zeigt sich in materialistischer Sicht das Umbauen der Bauten als eine Sache sozialer und politischer Prozesse, die auch Konflikte sind – und nicht nur als „Planungsutopie“. Schlicht gesagt: Der Gemeindebau der Zukunft sind die Umbauten all der Spekulationsgebäude, die vergemeinschaftet und zum Gemeindebau umfunktionalisiert werden, es ist der kollektive Umbau von nicht genutztem Privateigentum zu kommunal verwaltetem und genutztem Gemeingut. Es sind die Häuser des Mietshäusersyndikats in Deutschland und seiner Schwesterorganisation habiTAT in Österreich, die Projekte der neu gegründeten community land trusts ebenso wie die Wohnbauten von bestehenden Genossenschaften, deren Gemeinnutzidee wieder ernstgenommen wird.

Und wenn schon Neubau, dann soll er anstelle neoliberaler Profitmaschinen oder Luxus-Macht-Architekturen für die „Happy Few“ eher die Macht der Vielen materialisieren. Wir würden ganz anders über stolze hohe Häuser diskutieren, wenn mit ihnen eigentlich der Gemeindebau der Zukunft angesprochen wäre. Der Gemeindebau der Zukunft liegt in all den guten Lagen, die heute aufgrund von Grundstückspreisspekulation dem Privatwohnbau vorbehalten sind. Er bietet den verschiedensten Wohn- und Arbeitsformen Platz: ob anonymes, fremdverwaltetes oder selbstverwaltetes, kollektives Wohnen, Co-Housing, schlüsselfertig oder offen für Selbstbau. Er wird auch Raumpolster beinhalten, frei programmierbare Räume für zukünftige Tätigkeiten, deren Raumbedarf und Raumwünsche wir noch nicht kennen. Gemeindebau für die Vielen – für die Intersektionale – ist keine Frage von Typologien oder Turmhöhen, er kann auch niedrig sein, aber eines muss er sein: solidarisch in Hinblick auf rassistische, geschlechts- und klassenbezogene Machtverhältnisse.

 

Gabu Heindl ist Architektin, Stadtplanerin und Aktivistin in Wien. Aktuell lehrt sie an der Architectural Association in London und als Gastprofessorin an der Sheffield University.


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