Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 416 / April 2021

Die „Wiederkehr des Alten Wahren“

Schönheit in der Stadtplanung ist nicht unpolitisch

Von Tom Kaden

Der Kunsthistoriker Georg Dehio schrieb 1901: „Der Venus von Milo ihre Arme wiederzugeben oder Leonardos Abendmahl mit einer frischen Farbdecke zu überziehen, gilt für eine heute unmöglich gewordene Barbarei. Nur gewisse Architekten glauben dergleichen noch täglich verüben zu dürfen. Was berechtigt uns denn, so viel Zeit, Arbeit und Geld dem Schaffen der Gegenwart zu entziehen, um sie den Werken der Vergangenheit zuzuwenden? Doch hoffentlich nicht das Verlangen, sie einem bequemeren Genuss mundgerechter zu machen? Nein, das Recht dazu gibt uns allein die Ehrfurcht vor der Vergangenheit. Zu solcher Ehrfurcht gehört auch, dass wir uns in unsere Verluste schicken. Den Raub der Zeit durch Trugbilder zu ersetzen, ist das Gegenteil von historischer Pietät. “ 

„Noch im Oktober des deutschen Wiedervereinigungsjahres 1990 fand das internationale Symposium Zentrum Berlin – Szenarien der Entwicklung in Berlin und Dessau statt. Dabei wurde die Bevölkerung im Ostteil Berlins (...) als der zentrale Part einer deutsch-deutschen Erbengemeinschaft hervorgehoben. ›Man stimmte darin überein, dass jede Vision für die Stadt vom friedlichen Aufstand der Bürger der DDR ausgehen müsse‹ (…). Als geradezu prophetisch erwies sich der englische Architekt Richard Rogers, der hinsichtlich der Westberliner Innenstadtplanung und der einsetzenden Privatisierung für ›eine Institution, die den öffentlichen Raum verteidigt‹ plädierte. Es entstanden aber auch umgehend Gegenpositionen: Sehr schnell suchte in den frühen neunziger Jahren die alte, westdeutsche und neue, ostdeutsche Stadtbürgerschaft der jungen Berliner Republik den nostalgischen Augentrost: sich bürgerlich gebende Einzelpersonen, Interessensvertreter und Initiativen entwickelten vielerorts strukturell populistisch agierend eine Vielzahl an Rekonstruktionsprojekten, wie zum Beispiel die Gruppe 9. Dezember, die mit der Charta für die Mitte von Berlin erstmals die gründerzeitlichen Fluchtlinien, Höhenlimits und Parzellierungen Berlins“ auswiesen. (vgl. Michael Falser, Stadtumbau Berlin, Arch+ 241/2020) Vermeintlich ging es um Stadtplanung und Architektur im Sinne des Allgemeinwohls. Die 1990 erlassenen Politischen Empfehlungen zur Stadtentwicklungspolitik des Landes Berlin 1990 – 1995 sprachen noch von „heterogenen Akteuren“ und „zwei verschiedenen deutschen Gesellschaftsstrukturen“, die lernen mussten, „in direkter Nachbarschaft miteinander zu leben“.

Restauration und private Aneignung

Bei Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) klingt das 1998 schon anders: „Der Stadtbürger will auch materiell an seiner Stadt beteiligt sein“. Handelte es sich hier nicht schon direkt um die Praxis der spezifischen Aneignung des öffentlichen Raumes in den Städten? Erneut angeführt von den Vertretern der politischen, mithin der wirtschaftlichen und geistigen Eliten? Diese Aggressoren gegen jedwede gesellschaftliche Utopie wollten viel mehr als nur die Schleifung von Ulrich Müthers Gast- und Kulturzentrum Ahornblatt, des DDR-Außenministeriums, des Stadions der Weltjugend und vor allem des Palastes der Republik. Nüchtern betrachtet ging und geht es in Wirklichkeit um den Versuch einer Wiederbelebung von Symbolen nationalpolitischer und nationalkultureller Relevanz, um die Wiedergewinnung einer ganz bestimmten architektonischen Identität als Ausdruck der „Wiederkehr des Alten Wahren“, mithin um das Ende des „Schuldkultes“, wie in der rechtsextremen österreichischen Publikation Neue Ordnung gefordert wird. 

„In jedem Gesellschaftssystem ist Architektur ein Machtfaktor, der die Nutzung des öffentlichen Raumes vorgibt. Städtebauliche Auseinandersetzungen sind deshalb auch ein Seismograf von gesellschaftlichen Strukturveränderungen und sozialen Kräfteverhältnissen. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang am Wechselspiel von geschichtspolitischen Interessen und der privatwirtschaftlichen Aneignung des öffentlichen Raumes“, so der Dresdner Soziologieprofessor Felix Schilk.Also her mit den Attrappen auf historischem Stadtgrundriss und endgültig weg mit den letzten Wunden der nationalen Katastrophe. Und wer bewohnt, benutzt, bewirtschaftet, profitiert also letztendlich von diesen Nachbildungen historischer Ansichten, irreführend auch „Stadtreparaturen“ oder „kritische Rekonstruktion“ genannt? Der „selbstregulierende Markt“ – und dieses scheue Reh möchte doch bitte eine exklusive Bewohnerschaft, frei von irgendwelchen wirtschaftlich fragwürdigen Randexistenzen. Denn das Recht auf Stadt hat im Sinne dieser Protagonisten nur der, der es sich leisten kann. Und in diesem Zusammenhang können wir auch noch die architektonischen Irrungen und Wirrungen der 20er, 60er, 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts glattziehen: Dieses „einzigartige Konglomerat aus Vor- und Nachkriegsmoderne, aber auch Ost- und Westberliner Architekturmoderne wurde dabei als ›Anomalie der leeren Mitte‹ bezeichnet“, so Falser.

Und all das geschieht gerade jetzt, wo die letzten Zeitzeug/innen des deutschen Nationalsozialismus sterben, wo erstmals eine in Teilen faschistische Partei im deutschen Bundestag sitzt, deren Vertreter die 12 Jahre deutschen Faschismus als „Fliegenschiss“ bezeichnen. Gerade jetzt, wo der aktuelle Chef des Hauses Hohenzollern beträchtliche mobile und immobile Werte von der Bundesrepublik in aller Öffentlichkeit zurückfordert und Journalist/innen und Historiker/innen, die belegen wollen, dass Wilhelm Prinz von Preußen (1882 bis 1951) als testamentarisch eingesetzter Besitzer des Vermögens ein engagierter Gehilfe des Naziregimes war und mithin laut Gesetz nicht entschädigt werden darf, mit einer Klageflut überzieht.

Gern möchte diese Mischung aus bürgerlicher Mitte und deutschem Adel vergessen machen, weshalb viele deutsche Städte in den Jahren 1943 bis 1945 solche traumatischen Verwüstungen der über Jahrhunderte gewachsenen Baukultur zu beklagen hatten. Genau diese „privaten und juristischen Personen, die einen Mehrwert abschöpfen wollten“ waren verantwortlich für die „Krisen, die ihr Wirtschaftssystem heraufbeschworen“ um „abzulenken von Kriegen und (…) (dem) Erbeuten von Rohstoffen, welche schwächeren und schlechter bewaffneten Gruppen gehören“, so Arnold Zweig im März 1949. Es waren die Repräsentanten der Firmen Krupp, BASF, Bayer, Agfa, Opel, IG Farben, Siemens, Allianz und Telefunken, die sich am 20. Februar 1933 auf Einladung von Göring mit Hitler trafen, um über die Unterstützung der nationalsozialistischen Politik zu beraten. (vgl. Éric Vuillard: Die Tagesordnung).      

Preußens Gloria als Stadtplanung

Verantwortlich waren also Teile des deutschen Volkes unter Führung der ökonomischen und standesdünkelhaften Eliten, die mehr Raum im Osten und größere Absatzmärkte in ganz Europa benötigten. Diese historische Determinante hat den bedeutenden deutschen Städten im Wesentlichen ihre Zentren geraubt und am Ende auch die deutsche Teilung ab 1949 vorbereitet. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Für dieses europäische Drama ist weder die Ost- noch die Westmoderne zur Rechenschaft zu ziehen.

Und nun steht das Berliner Humboldt-Forum als bildhafter Abschluss der Planungsagenda des Stadtplaners Hans Stimmann („diszipliniert, preußisch, zurückhaltend in der Farbigkeit, steinern, eher gerade als geschwungen“) im Herzen der Hauptstadt. Als „kritische“ Rekonstruktion der Residenz der Hohenzollern und des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II., der 1918 ins Exil nach Holland flüchtete. Was werden wir in diesem Stein, besser Stahlbeton hinter Attrappen-Fassaden gewordenem Euphemismus der „Stadtreparatur“ an Ausstellungsinhalten sehen? Preußens Geschichte als Hort der Aufklärung und Deutschlands historische Selbstverklärungen als „Nation ohne Schatten“? Oder doch eher die kritische Geschichtsreflextion einer Gesellschaft des Kolonialismus, Nationalismus und Militarismus? 

Wenn der aktuelle gesellschaftliche Zustand eines vom Staat alimentierten Finanzkapitalismus anhält, werden die Fragen des Gemeinwohls, des zukunftsorientierten Bauens, der verdichteten Unterschiedlichkeit nicht mehr gestellt werden, da diese im Sinne der neoliberalen Hegemonie abschließend beantwortet scheinen. „Die Stadt als Arena polit-ökonomischer Verhältnisse zu verstehen, (…) verknüpft Perspektiven der Veränderung notwendigerweise mit Fragen der Macht, des Eigentums und der Verwertung“ heißt es dazu in einem von den Soziologen Andrej Holm und Dirk Gebhardt 2011 veröffentlichten Sammelband.

 

Tom Kaden ist Diplom-Designer. Seit 2017 bekleidet er eine Professur für Architektur und Holzbau an der TU Graz.


MieterEcho 416 / April 2021

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