Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 410 /

Die Stadt, der Onlinehandel und das Virus

Der Einzelhandel in den Innenstädten ist nicht erst seit gestern in seiner Existenz bedroht

Von Jürgen Glaubitz   

Die Läden sind wieder geöffnet, aber die Verunsicherung der Verbraucher/innen hält an und sorgt immer noch für eine deutliche Kaufzurückhaltung. Wie geht es nach dem Lockdown weiter mit dem Einzelhandel? Ist der E-Commerce der große Gewinner dieser Krise? Wirkt das Virus wie ein zusätzlicher Verstärker für den Onlinehandel? Und welche Folgen hat das alles für die (Innen-)Städte? Killen Amazon und Covid-19 die City?
         

                       
Der Handelsverband Deutschland (HDE) zeichnet ein düsteres Zukunftsszenario. Ein Drittel der Nicht-Lebensmittelhändler sei in akuter Existenznot. Weil vielen Händlern der Umsatz wegbricht, seien 50.000 Geschäfte von Insolvenz bedroht. Die Pandemie zieht eine tiefe Spur durch die Handelslandschaft. Der Deutsche Städtetag warnt vor einer Verödung der Innenstädte. Seit einigen Jahren bereits setzt der Onlinehandel den stationären Geschäften immer mehr zu. Amazon, Otto, Zalando & Co. saugen dem innerstädtischen Handel Milliarden Euro aus den Ladenkassen. Der virusbedingte Lockdown sorgte für zusätzliche, massive Umsatzausfälle.                
In der HDE-Broschüre „Stadt und Handel“ verweist der Verband auf die historisch erfolgreiche Verbindung: „Stadt und Handel leben seit Jahrhunderten in einer engen Symbiose. (...) Die Handelsunternehmen sind die Zugpferde der Innenstädte. (...) Der Handel ist der Magnet für viele Besucher aus dem Umland.“ Doch ganz so einfach und harmonisch ist dieses Zusammenleben nicht. Und das Schreckgespenst „Verödung der Innenstädte“ hat schon vor Jahrzehnten die Gemüter erregt.    
   

                           
Einzelhandel im Wandel               
Der Einzelhandel in Deutschland befindet sich seit Jahrzehnten in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Schon lange vor dem Onlineboom wurde die Branche von einem massiven Preis- und Verdrängungswettbewerb geprägt. Neue Vertriebsformen wie Discounter oder Fachmärkte sowie eine expansive Verkaufsflächenpolitik der Handelskonzerne sorgten für Dynamik. Die Konzentration in der Spitze verdichtete sich, zehntausende kleiner Geschäfte und auch einige „große Namen“ verschwanden von der Bildfläche, auf den Teilmärkten bildeten sich oligopolistische Strukturen.                    
Diese Veränderungen blieben nicht ohne Folge für die (Innen-)Städte. In den 1980er Jahren verlagerte sich der Konsum zu erheblichen Teilen in die peripheren Randlagen, die „Flachmänner“ auf der grünen Wiese entzogen der Innenstadt viel Kaufkraft. Von der „Entleerung“ der City war die Rede. Die Zeit hatte schon 1976 (!) auf den sich anbahnenden Trend aufmerksam gemacht: „Fern vom teuren Pflaster der mit Autos verstopften Innenstädte bauen sie ihre Lagerhallen außerhalb der Stadtgrenze.“ Und: „Die Kommunen befürchten eine Verödung der Innenstädte“.                       
Doch Totgesagte leben bekanntlich länger. In den Folgejahren kam es zu einer gewissen Revitalisierung der Cities. Neue Einkaufszentren, Kulturangebote und Gastronomie sorgten für mehr Frequenz – und damit auch wieder für mehr Umsatz im innerstädtischen Handel. Gleichzeitig führten steigende Mieten im Citybereich, die schleichende Krise der Warenhäuser und das Sterben vieler inhabergeführter Facheinzelhandelsgeschäfte im Zuge des Konzentrationsprozesses für immer mehr Tristesse. Große, international agierende Ketten eroberten die Innenstädte mit ihren Filialen. Städteplaner/innen beklagten „kommerzielle Monokulturen“, überall gab es die gleichen globalen Ankermieter. Von einer „Gesichtslosigkeit“ der Innenstädte war (und ist) die Rede.                
Der Immobilienboom ist zu einer großen Gefahr für viele Händler geworden. Die Gewerbemieten in den Großstädten gehen durch die Decke, alteingesessene Geschäfte werden verdrängt und die Zentren veröden weiter. In Berlin herrscht beispielsweise eine regelrechte  „Goldgräberstimmung bei Immobilien“. Die Unternehmensberatungsfirma PWC kürte Berlin laut Tagesspiegel zur attraktivsten europäischen Stadt des Jahres 2018 – und zwar für Immobilieninvestoren.        Vor allem aber haben viele Mittelstädte massiv an Attraktivität eingebüßt. „Billigheimer“, Leerstände, Filialisten, Ein-Euro-Shops, Handy-Läden und leere Schaufenster prägen das Bild. Oft wurden Warenhausfilialen geschlossen, damit fehlt der wichtigste Publikumsmagnet – und danach geht es mit einer ganzen Straße bergab.               

                                   
Neuer „Standort“ Internet               
Die gravierendsten Veränderungen bringt der E-Commerce. Hieß es über lange Zeit „die Stadt braucht den Handel, der Handel braucht die Stadt“, so wird der zweite Teil dieser Formel nun vollends ad absurdum geführt. Neben Innenstadt und grüner Wiese erscheint ein neuer, virtueller Standort. Der Handel löst sich vom physischen Raum – Stadt und Handel sind nicht mehr untrennbar verbunden. Durch das Internet werden Preis- und Produktvergleiche einfacher und der Wettbewerbsdruck steigt weiter an. Die Kostenvorteile des Onlinehandels (keine teuren Ladenmieten, höhere Produktivität etc.) führen zu einer zusätzlichen Verschärfung des Preis- und Verdrängungswettbewerbs. Der boomende E-Commerce und das veränderte Shoppingverhalten sorgen für sinkende Frequenzen in den Innenstädten.   
Der E-Commerce „killt“ nicht die City, aber Zalando, Amazon, Otto & Co. setzen den innerstädtischen Handel mächtig unter Druck. Brutale Umbrüche gibt es vor allem im Textilbereich, wo immer größere Umsatzanteile ins Netz wandern. Hier wird es zu einer erheblichen Zahl von Geschäftsaufgaben kommen.    Der Onlinehandel bringt aus Verbrauchersicht ohne Zweifel eine Reihe von Vorteilen. Unbestritten ist aber auch, dass er gleichzeitig riesige Belastungen für Verkehr und Umwelt und damit enorme gesellschaftliche Kosten produziert. Rund zwei Milliarden E-Commerce-Sendungen werden von DHL, Hermes & Co. pro Jahr befördert und zugestellt. Und 300 Millionen Pakete werden überdies jährlich zurückgesendet, Deutschland ist „Retourenweltmeister“. Die Städte versinken mittlerweile in der Flut von Paketen. Der Verkehr kommt nicht von der Stelle, Paketdienste parken oft in der zweiten und dritten Reihe. Die (schlecht bezahlten) Paketzusteller/innen stehen unter einem enormen Zeitdruck.          

                                         
Das Virus und der Handel               
Als es plötzlich zum Lockdown kam und die meisten Geschäfte schließen mussten, dachten viele, der Onlinehandel würde davon massiv profitieren. Im März 2020 gingen aber auch die Onlineumsätze zurück – insbesondere in den zentralen Sortimenten Fashion und Unterhaltungselektronik. Im April konnte der E-Commerce wieder Zuwächse verbuchen – doch unter dem Strich hat der Onlinehandel in der Corona-Krise nicht profitiert. Allein Amazon lag deutlich im Plus.           
Das Virus hat (auch) im Einzelhandel tiefe Spuren hinterlassen. Mit Ausnahme des Lebensmittelhandels, der Drogerie- und Baumärkte musste die Branche wochenlang Umsatzausfälle verkraften. Durch die anhaltende Kaufzurückhaltung spitzt sich nun die Lage in vielen Unternehmen dramatisch zu. Einige Sortimente sind dabei besonders stark betroffen, allen voran der Textilbereich.                        
So stark der Onlinehandel in den letzten Jahren auch zulegen konnte, so klar ist auch, dass knapp 90%  des gesamten Umsatzes immer noch „offline“, also vor Ort im Laden getätigt werden.
Über die Zukunft der Innenstädte entscheiden weder die großen Onlinehändler, noch institutionelle Vermieter, Arbeitgeber/innen oder Städteplaner/innen. Immer ist auch der vielzitierte „König Kunde“ gefragt, wie es das Abendblatt in einem Artikel vom 30.3.2016 auf den Punkt bringt: „Immerhin haben die Kunden ein Wort über die Zukunft des Handels und das Gesicht der Stadt mitzureden. Wir entscheiden, ob das Geld per Klick an Aktionäre von Amazon oder Zalando geht oder eben an den Fachhändler um die Ecke. Warum fördern wir im Netz den Auf-
bau von Oligopolen, während wir in jeder Einkaufsstraße und vielen anderen Lebenslagen zu Recht Vielfalt verlangen?“  

Jürgen Glaubitz war bis zu seinem Ruhestand Gewerkschaftssekretär bei ver.di in Nordrhein-Westfalen.

Der Einzelhandelsumsatz gesamt liegt bei 537 Milliarden Euro, davon entfallen auf E-Commerce 58 Milliarden Euro, das entspricht einem Marktanteil von rund 11% (bei Nonfood ca. 15%). Je ein Viertel der gesamten Onlineumsätze entfallen auf Fashion und Unterhaltungselektronik.
2019 gab es insgesamt 352.000 Geschäfte, das waren 39.000 weniger als 2010. Bei Kleinbetrieben sank die Zahl im gleichen Zeitraum um 54.000. Insgesamt gibt es im Einzelhandel rund 3,1 Millionen Beschäftigte, davon 1,2 Millionen Teilzeitbeschäftigte und rund 800.000 geringfügig Beschäftigte.
Immer mehr Arbeitgeber begehen Tarifflucht. Nur rund ein Drittel aller Einzelhandelsbeschäftigten haben derzeit Anrecht auf die tarifvertraglichen Regelungen.


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