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MieterEcho 417 / Mai 2021

Covid hat die Verhältnisse noch verschlimmert

Deregulierung und Mietstreiks – zum Wohnungsmarkt in Großbritannien

Interview mit Neil Gray

 

MieterEcho: Wie hat sich der Wohnungsmarkt in Großbritannien von New Labour zur Johnson-Regierung verändert?

Neil Gray: New Labour war eine Katastrophe für den sozialen Wohnungsbau. Sie haben die Wohnungsprivatisierung der Konservativen verstärkt und beschleunigt. Sie taten nichts, um das Right-to-Buy-Prinzip zu stoppen, das Mieter/innen massive Subventionen für den Kauf ihrer kommunalen Sozialwohnungen (Council Houses) gewährte. Zugleich wurden keine neuen Mittel für den Ersatz dieser Wohnungen bereitgestellt. Right-to-Buy war die zentrale Strategie, um nach der sozialdemokratischen Ära der Nachkriegszeit das Privateigentum auf dem britischen Wohnungsmarkt wiederherzustellen. 

Sie beschleunigte auch den Prozess des Bestandstransfers von den lokalen Trägern, dem öffentlichen Wohnungsbau, zu den Registered Social Landlords, vor allem den Housing Associations. Dazu kamen massenhafter Abriss von Sozialwohnungen und die allmähliche Privatisierung von Sozialwohnungen.

Ein weiterer entscheidender Bruch kam mit der Koalition der von David Cameron geführten Konservativen und der Liberaldemokraten nach der globalen Finanzkrise von 2007/8. Deren Sparprogramm dauert bis heute an, noch verschärft durch die Covid-Pandemie. Im Jahr 2011 halbierten sie das Budget für sozialen Wohnungsbau. Um die sozialen Kosten dieser Kürzungen zu verschleiern, erfanden sie den Begriff „erschwingliche Miete“, der in England bis zu 80% der Marktmiete bedeutet – mit anderen Worten, etwas völlig Unerschwingliches. Dazu kommt die von Boris Johnson vorangetriebene Deregulierung von Planungs- und Baustandards.


Welche historischen Formen des Wohnungsbaus sind für dich ein positiver Bezugsrahmen?

Großbritannien ist in Westeuropa mit seiner Tradition des sozialistisch inspirierten, vollständig öffentlich finanzierten Wohnungsbaus ziemlich einzigartig. Vieles davon wurde zerstört, umgewandelt und privatisiert, aber er ist immer noch günstiger als Wohnungen von Housing Associations. Für uns, die gegen die Bestandsübertragung von Council Housing-Wohnungen gekämpft haben, sind die Wohnungsbaugesellschaften trojanische Pferde der Wohnraumprivatisierung. Ursprünglich mit einer bevorzugten Finanzierung ausgestattet, um den öffentlichen Wohnungsbau zu zerschlagen, sind sie seither selbst zunehmend finanziell ausgehungert auf den Markt gezwungen worden.
Auch andere Formen des Wohnungsbesitzes kann man in Betracht ziehen wie z.B. Genossenschaften, aber ich persönlich sehe im Council Housing mit all seinen Einschränkungen die beste Chance, um politische Kampagnen zu entwickeln und eine Mehrheit der Menschen erschwinglich unterzubringen. In den 1970er Jahren lebte allein die Hälfte der schottischen Bevölkerung in Council Housing. Es geht um Ideen, die in großem Maßstab funktionieren.


In den letzten Jahrzehnten gab es eine politische Verschiebung weg vom sozialen Wohnungsbau hin zu selbstgenutztem und vermietetem Wohneigentum. Was hat das für Menschen mit geringem Einkommen bedeutet?

Der Zusammenbruch des sozialen Wohnungsbaus stand in einem umgekehrten Verhältnis zum Anstieg des Wohneigentums und des privaten Mietsektors. Länder wie Portugal, Spanien und Irland zeigen, dass dort, wo es kaum Sozialwohnungen gibt, der private Markt zügellos wüten kann. In Großbritannien hat der freie Markt vor den großen Mietstreiks um 1915, den darauffolgenden Mietbeschränkungen und Council Housing nur Slums für die Arbeiterklasse hervorgebracht. Wir kehren in solche viktorianischen Zeiten zurück. Das Anwachsen des Wohneigentums in den letzten Jahrzehnten hat sich schließlich verlangsamt, weil der Erwerb zu teuer geworden ist. Wir sehen stattdessen einen massiven Zuwachs des privaten Mietsektors. Dort sind die Mieten in den großen Städten Schottlands in den letzten zehn Jahren um 40-50% gestiegen. Dieser Sektor ist berüchtigt für Unsicherheit und Überbelegung. Der Anteil der Miete am Lohn hat so deutlich zugenommen.


Die soziale Situation ist sehr angespannt. Wie sieht es konkret auf dem Wohnungsmarkt aus?

Ohne vermögende Eltern und die Fähigkeit, eine hohe Schuldenlast auf sich zu nehmen, ist es derzeit fast unmöglich, ein Haus zu kaufen. Gleichzeitig ist es für die Allgemeinheit nahezu ausgeschlossen, eine Sozialwohnung zu bekommen. Also können private Vermieter/innen die Mieter/innen über den Tisch ziehen: Die Mieten steigen ständig, viele Wohnungen entsprechen nicht einmal den grundlegenden Standards, Energiearmut und Baufälligkeit sind allgegenwärtig.

Covid hat das noch verschlimmert. Der Staat schützt die Interessen der Immobilienbranche. Mieterleichterungen für Mieter/innen werden hingegen dem „Ermessen“ der Vermieter/innen überlassen, während zeitlich begrenzte Räumungsmoratorien und andere Schutzmaßnahmen, die von Mieter/innen erkämpft wurden, vollkommen unzureichend sind.


Build-to-Rent wird als das neue Heilmittel für die Wohnungskrise proklamiert. Wie funktioniert das und was sind die praktischen Folgen?

Build-to-Rent (BtR) ist ein schnell wachsendes Phänomen in den letzten zehn Jahren in Großbritannien. BtR-Häuser werden von privaten Bauträgern errichtet und von einzelnen Vermieter/innen zu Premium-Mietpreisen verwaltet. BtR wird zunehmend als Purpose Built Residential Accommodation (PBRA) zusammen mit zweckgebundenen Studentenwohnungen und Co-Living-Komplexen gebündelt. Zielgruppe sind junge, gutverdienende Berufstätige.PBRA ist eine Vorhut der Gentrifizierung, treibt die Mieten in die Höhe und wird zunehmend als „räumliche Lösung“ für zuvor ins Stocken geratene Aufwerungsprojekte genutzt. Es ist ein Machwerk einer Politik, die perfekt zu den Bedürfnissen globaler Großvermieter, des Finanzsektors und der Bauunternehmer/innen passt, indem sie eine erhöhte Kapitalliquidität in die Wohnquartiere pumpt.


Wir hören von Mietstreiks von Student/innen – wie ist ihre Situation?

Der Markt für Purpose Built Student Accommodation (PBSA) ist mittlerweile der profitabelste Wohntyp für Immobilienentwickler. Zwischen 2014 und 2019 sind die Investitionen in zweckgebundene Studentenwohnungen um 135% gestiegen. Im Jahr 2020 kaufte die berüchtigte Private-Equity-Firma Blackstone britische Studentenwohnungen für fast 5 Milliarden Pfund, die größte private Immobilientransaktion in der Geschichte Großbritanniens. Wie Build-to-Rent und Co-Living ist auch das studentische Wohnen zu einem Schlüsselinstrument für die Kapitalverwertung im Wohnungssektor geworden. 

Es gab bereits eine Reihe von studentischen Mietstreiks in Großbritannien von Anfang bis Mitte der 2010er Jahre, bei denen Geld wegen schlechter Wohnbedingungen, überhöhter Studienkreditkosten und exorbitanter Mietpreise zurückgefordert wurde. Doch die Pandemie hat die bestehenden Probleme erheblich verschärft.

Anfang 2021 wurden schätzungsweise 55 von 140 britischen Universitäten bestreikt, mindestens 5.000 Student/innen waren aktiv. Die Forderungen sind sehr unterschiedlich, aber Gruppen wie Rent Strike haben viele der Streiks koordiniert und verfügen über große Erfahrungen in der Organisierung. Während Covid wurden Erfolge in Form von beträchtlichen Ermäßigungen und reduzierten Jahresmieten erzielt. Perspektivisch sollten sich die Mietstreiks gegen die Finanzialisierung der studentischen Wohnungsversorgung richten.


Wie sieht die Zukunft des Mietwohnungsmarktes aus?

Derzeit sieht es düster aus: Unbezahlbarer Eigenheim- und rückläufiger Sozialwohnungsbau bei gleichzeitigem Wachstum des privaten Mietwohnungssektors – letzteres als ausdrückliches politisches Ziel.
Die Welle der studentischen Mietstreiks ermutigt. Auch Mieterorganisationen wie Acorn, London Renters’ Union und Living Rent konnten ihre Basis in den vergangenen 5 Jahren deutlich verbreitern. 

Sie bewegen sich problemlos zwischen direkter Aktion, Rechtsschutz, Bildung und politischer Arbeit – mit Organisationsmodellen, die effektiv, demokratisch und engagiert sind, manchmal radikal und immer pragmatisch. 

Die Diskussion über das Wohnen hat sich bereits erheblich verändert, und es gibt jetzt wirklich unabhängige und mit Ressourcen ausgestattete Strukturen, die sich nun nach einer Periode der relativen Stagnation mit Wohnungsfragen aus der Perspektive der Mieter/innen beschäftigen.


Vielen Dank für das Gespräch.


Das Interview führten und übersetzten aus dem Englischen Matthias Coers und Grischa Dallmer.

 

Der Stadtforscher Neil Gray beschäftigt sich an der University of Glasgow mit Council Housing in Großbritannien, neoliberalem Urbanismus und räumlicher Ordnung in Glasgow.


MieterEcho 417 / Mai 2021