Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 403 / Juni 2019

Mehr von uns ist besser für alle

Privatisierung und Ökonomisierung im Gesundheitswesen

Von Nadja Rakowitz

Spätestens seit Mitte der 90er Jahre wurde das Gesundheitswesen von einem System der Daseinsvorsorge  zur Gesundheitswirtschaft umgebaut, was sich am deutlichsten in den Krankenhäusern zeigt. Fallpauschalen führen auf der einen Seite zu Über-, auf der anderen Seite zu Unterversorgung. Vor allem Pflegebeschäftigte protestieren gegen die Missstände.

Im Sommer 2015 fand an der Berliner Charité ein historischer Streik statt. Historisch, weil die Beschäftigten, vor allem aus der Pflege, fast zwei Wochen für eine tarifvertragliche Abmachung über mehr Personal streikten und historisch, weil dieser Streik sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Bunderepublik verbreitete. Letztlich sorgte er für den aktuellen Politikwandel, der die Krankenhauslandschaft zum ersten Mal seit Jahrzehnten zum Positiven verändern könnte.

Wie konnte es so weit kommen?

Das (west-)deutsche Gesundheitswesen war, seit man systematisch von einem Gesundheitswesen sprechen kann, spätestens aber seit 1945 in Teilen privatisiert. Sowohl die Pharma- und Geräteindustrie als auch die private Krankenversicherung, bei der immerhin 10% der Bevölkerung versichert sind, besteht aus privatkapitalistischen Konzernen, die mit und im Gesundheitswesen Profite machen. Aber auch die ambulante Medizin ist seitdem von (klein-)kapitalistischen Interessen bestimmt. Auf Wunsch der Ärzteschaft arbeiten Kassenärzt/innen (die meisten bis heute) als Kleinunternehmer/innen mit Vertrag mit den gesetzlichen Krankenkassen. Die damit einhergehende frühe Ökonomisierung wurde schon in den 70er Jahren von linken Ärzt/innen kritisiert.
Die weitaus größeren Teile des Gesundheitssystems waren bis Mitte der 90er Jahre nicht profitgetrieben, sondern funktionierten nach Kriterien der Daseinsvorsorge. In den gesetzlichen Krankenkassen gab es weder Wettbewerb noch Konkurrenz. Wenn am Ende des Jahres das Geld nicht reichte, wurden die Beitragssätze erhöht. Krankenhäuser waren öffentlich oder frei-
gemeinnützig, private Krankenhäuser gab es kaum, denn bis Mitte der 80er Jahre galt dort ein gesetzliches Gewinn- und Verlustverbot. Die größten Geldströme in diesem System, die zwischen gesetzlichen Krankenkassen und Krankenhäusern, wurden nie zu Kapital. Und auch in der ambulanten Versorgung durfte zumindest das große Kapital keine Geschäfte machen. Selbstredend gab es auch damals genug Gründe für Kritik am Gesundheitswesen und fortschrittliche Ideen, die Probleme anzugehen. Durchsetzen konnten sie sich nicht.    

Umbau zur Gesundheitswirtschaft

Stattdessen setzten sich im Gesundheitswesen die neoliberalen Angebotstheoretiker/innen durch. Von da an wurde das Gesundheitswesen zu einer Gesundheitswirtschaft umgebaut. Die gesetzlichen Krankenkassen wurden von innen heraus von solidarischen Institutionen zu Unternehmen umgewandelt, auch wenn sie bis heute formal keine sind. Von den verschiedenen Regierungskoalitionen wurden Konkurrenz und Wettbewerb, Selbstbehalte, Insolvenz und Kartellrecht in den gesetzlichen Krankenkassen eingeführt. Diese werden heute von Betriebswirt/innen geführt und sie agieren wie Unternehmen. Immer größer ist die Gefahr, dass dies eines Tages auch der Europäische Gerichtshof so sehen und die Krankenkassen unter Wettbewerbsrecht stellen wird. Solidarprinzip und einheitlichen Leistungskatalog wird es dann nicht mehr geben, stattdessen einen „Wettbewerb um Leistungen“.
Doch den größten Umwandlungsprozess haben die Krankenhäuser erfahren. Hier wurde zunächst das Gewinnverbot aufgehoben, um der Privatisierung den Boden zu bereiten. Dann wurde das Selbstkostendeckungsprinzip abgeschafft und mit ihm jede gesetzliche Regelung der Anzahl an Fachpersonal im Verhältnis zu Patient/innen. In einer Branche, die zu 60-70% aus Arbeitskraft besteht, mussten Möglichkeiten geschaffen werden, an finanziell wirksamen Stellschrauben zu drehen, um Konkurrenzvorteile erreichen zu können. Diese vor nun fast 30 Jahren getroffenen Entscheidungen sind verantwortlich für den heute diskutierten „Fachkräftemangel“, denn sie haben dazu geführt, dass massiv Pflegepersonal abgebaut wurde: von 350.000 Vollkräften in den 90ern auf unter 300.000. Bis heute haben wir – bei massiv angestiegenen Fallzahlen und einer Verkürzung der Verweildauer um die Hälfte - diesen Stand noch nicht wieder erreicht. Wie wurde diese Dynamik in Kraft gesetzt?
                            

Fallpauschalen und Fehlversorgung             

In den 90er Jahren überlegten sich Politiker/innen und Gesundheitsökonom/innen, wie sich die Finanzierung grundsätzlich so ändern ließe, dass der Krankenhaussektor zu einem lukrativen Wirtschaftszweig würde. In der politischen Öffentlichkeit wurde dies freilich anders formuliert: Der Kostenanstieg sollte gebremst und die im internationalen Vergleich relativ hohe Verweildauer sollte wie die Anzahl der Krankenhäuser gesenkt werden. Der „Schlendrian“ des öffentlichen Sektors sollte durch die Konkurrenz mit den effizienten privaten Krankenhauskonzernen abgeschafft werden; das „Geld sollte den Leistungen folgen“. Erreichen wollte man das mit der Einführung der Finanzierung durch diagnosebezogene Fallpauschalen (DRG) Anfang der 2000er Jahre. Jede Krankheit/Diagnose bekam eine solche DRG, ein Relativgewicht bezogen auf den Durchschnittsfall im deutschen Krankenhaus (der das Relativgewicht 1 hat). Dieses Relativgewicht wird jeweils multipliziert mit dem sogenannten Landesbasisfallwert des jeweiligen Bundeslandes. Die daraus resultierende Geldsumme bestimmt die Einnahmen des Krankenhauses für den jeweiligen Patienten. Bei jeder DRG ist auch eine durchschnittliche Verweildauer hinterlegt, die möglichst nicht überschritten, ja tendenziell eher unterschritten werden muss, denn die Geldsumme für den Fall bleibt die gleiche. Die in Konkurrenz zueinander stehenden Krankenhäuser müssen seitdem – unabhängig davon, ob sie profitgesteuert sind oder nicht – agieren, als ob sie Unternehmen seien. Auch sie wurden von innen heraus privatisiert. Sie müssen einerseits durch höhere Fallzahlen möglichst ihre Einnahmen steigern und sie müssen andererseits durch Einsparungen am Personal ihre Kosten senken. Und sie müssen versuchen, „nicht lukrative Fälle“, also Fälle, die mehr kosten als die DRG einbringt, zu vermeiden. Damit ist systematisch Unter- und zugleich Über- und Fehlversorgung gesetzt. Für die Patient/innen heißt dies zum Beispiel, dass sie mit einer medizinisch unnötigen Bandscheibenoperation versorgt werden (Überversorgung), nach der Operation aber auf einer völlig unterbesetzten Station landen, auf der das wenige Personal gar nicht in der Lage ist, sie adäquat zu pflegen (Unterversorgung). Inzwischen sind alle Abläufe im Krankenhaus dem betriebswirtschaftlichen Kalkül untergeordnet. Ein professionelles Arbeiten mit hohen ethischen Standards ist strukturell verunmöglicht. Die Leistung folgt dem Geld.
Hinzu kommt, dass nicht nur die innere sondern eine ganz handfeste Privatisierung stattgefunden hat. Dies war ja auch der Sinn der ganzen Sache. Heute sind mehr als ein Drittel der Krankenhäuser privateigentümlich geführt. Bei den Konzernen erleben wir die politökonomisch üblichen Konzentrationsprozesse, was eine Umkehr zur Daseinsvorsorge immer schwieriger machen wird. Umso wichtiger ist es, dass es nun im Bereich des Wohnens eine Debatte um Enteignung von großen Konzernen gibt. Auch wenn „Enteignung“ bei den Krankenhäusern der falsche Begriff ist, denn es waren die Versicherten und die Bürger/innen, die bei der Privatisierung der Krankenhäuser enteignet wurden. Hier geht es also um „Wiederaneignung“.
Unmöglich erscheint auch dies nicht mehr. Denn es gibt inzwischen so viel Widerstand und Protest, so viele Streiks der Beschäftigten (für mehr Personal bzw. eine gesetzliche Personalregelung) wie wir es noch vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten haben. Inzwischen hat dies selbst bei einem konservativ-liberalen CDU-Gesundheitsminister wie Jens Spahn seine Wirkung getan. Durch das Pflegepersonalstärkungsgesetz wird die Pflege in Zukunft aus den DRG herausgerechnet und über ein Selbstkostendeckungsprinzip finanziert. Andere Gesetze gehen zwar in eine ganz andere Richtung, aber ein Anfang in die richtige Richtung ist – dank des massiven Drucks in den Betrieben und auf der Straße – gemacht. Die politische Bewegung in den anderen Bereichen der Daseinsvorsorge, besonders die im Wohnungssektor, und die Bewegung im Krankenhaussektor können sich wechselseitig beflügeln. Und so gilt im weitergehenden Sinn der Slogan der Charité-Streikenden: „Mehr von uns ist besser für alle.“    

Nadja Rakowitz ist Geschäftsführerin und Pressesprecherin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää). Der vdää versteht sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden.


MieterEcho 403 / Juni 2019

Schlüsselbegriffe: Gesundheitswesen,Ökonomisierung,Privatisierung

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